Das Kapital
Kritik der politischen Ökonomie [1938]

Dieses Buch ist ein ergänzender, verbesserter und durch Fortlassung der dogmatischen Exkurse stark gekürzter Abdruck des Hauptabschnittes von der „Marktwirtschaft“ aus meinem Lehrbuch „Theorie der reinen und politischen Ökonomie“, fünfte Auflage, das im heutigen Deutschland kaum noch Leser finden kann. Ich spreche dem Verleger, Herrn Gustav Fischer in Jena, hierdurch meinen aufrichtigen Dank für die Genehmigung aus.

Franz Oppenheimer

 

Vorwort

Dieses Buch gipfelt in der kühnsten aller Behauptungen. Es erklärt, die vollständige Lösung aller Probleme zu bringen, die der theoretischen Nationalökonomie aufgegeben sind, und damit auch der praktischen Lösung der sozialen Frage den sicheren Weg zu weisen, der zwischen der Skylla des kapitalistischen Imperialismus und der Charybdis des Bolschewismus zur Rettung unserer Kultur, ja, unseres Lebens, führt.

I.

Der Leser hat das Recht, nach der Legitimation des Verfassers zu fragen, der die Lösung dieses allgemein als unlösbar erklärten Problems gefunden haben will. Sein Leben mag ihn legitimieren: Er veröffentlichte seine leitenden Gedanken schon in den neunziger Jahren. Er war als Arzt von außen her zur Ökonomik gekommen, mit ungefähr dem gleichen wissenschaftlichen Rüstzeug und grundsätzlich der gleichen Fragestellung wie sein großer Kollege und Namensvetter Franz Quesnay. Da diese Fragestellung seit mehr als einem Jahrhundert der offiziellen Wissenschaft verlorengegangen war, sah er sich gezwungen, um seine neue Wahrheit durchzusetzen, die Häupter sämtlicher Schulen anzugreifen: der historischen, der kathedersozialistischen, der marxistischen, der der Grenznutzentheoretiker. Das geschah immer sehr verbindlich in der Form, aber ebenso unzweideutig in der Sache. Zu jenen Männern gehörten die beiden berühmtesten Vertreter des Fachs in Deutschland, die Exzellenzen Gustav Schmoller und Adolph Wagner, die beide geradezu im Zentrum ihres Arbeitsgebietes bekämpft wurden. Diese beiden großen Gelehrten ließen ihren jungen Gegner 1908 durch einen Mittelsmann wissen, sie wünschten seine Habilitation an der Universität Berlin, zu der er denn auch aufgrund eines überaus günstigen Gutachtens Wagners zugelassen wurde. (Dieser hat ihn später zusammen mit zwei anderen als seinen Nachfolger vorgeschlagen.)

In seinen Vorlesungen hat der Verfasser seiner antikonservativen und sozialistischen, wenngleich antikommunistischen Überzeugung ungescheuten Ausdruck verliehen - und wurde 1917 noch unter dem Kaiserreich zum Professor ernannt. Er hatte seine Angriffe gegen den theoretischen Marxismus immer wieder und wieder in verstärkter Form veröffentlicht - und der erste marxistische Kultusminister Preußens berief ihn als ordentlichen Professor für theoretische Nationalökonomie und Soziologie an die Universität Frankfurt am Main.

Seitdem hat er seiner Volkswirtschaftslehre in seinem „System der Soziologie“ einen Unterbau gegeben, wie er, wenigstens dem äußeren Umfang nach, bisher niemals existiert hat: etwa 4.500 Seiten in acht Bänden, die die Psychosoziologie, die allgemeine Soziologie, die Staatslehre und die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart behandeln. Dafür hat ihn 1935 die amerikanische soziologische Gesellschaft - eine sehr seltene Auszeichnung - zu ihrem Ehrenmitgliede ernannt. Jetzt mag der Leser urteilen.

Man sollte annehmen, daß eine Lehre von so unermeßlicher praktischer Wichtigkeit, herrührend von einem immerhin nicht gänzlich unbewährten Verfasser, alsbald die regste, ja leidenschaftliche Anteilnahme erweckt hätte. Weit gefehlt! Nicht einmal für eine produktive Kritik ist der Verfasser verpflichtet, und von einer mit zureichenden Mitteln geführten wissenschaftlichen Kritik war vollends nie die Rede. Er kann zuletzt noch dankbar dafür sein: denn man hat ihm mehr als vierzig Jahre Zeit gelassen, um ganz allein die vielfach unzureichenden Gestaltungen der ersten Zeit zur letzten Vollendung zu führen. Alle Ehre - und wenn man mich widerlegen kann, alle Schande gebührt mir allein.

II.

Das soeben geschilderte Verhalten der Fachwelt hat seinen zureichenden Grund in dem beklagenswerten Zustande der theoretischen Nationalökonomie.

Sie existiert nämlich - eingestandenermaßen - nicht als „Wissenschaft“. Das Geringste, was man von einer solchen verlangen kann, ist ein noch so kleiner Bestand zusammenhängender allgemein anerkannter Sätze, die sich wenigstens nicht widersprechen. Nicht einmal dieser Mindestforderung genügt die Disziplin in ihrem heutigen Zustande. Ihre Vertreter sind nur in einem einzigen Punkte einig, nämlich: daß sie in keinem einzigen Punkte einig sind. Soeben hat einer der bekanntesten Fachmänner Englands, John Maynard Keynes, über die „tiefen Meinungsverschiedenheiten" geklagt, „die zur Zeit den praktischen Einfluß der Theorie fast zerstört haben“.[1] In der Tat: es gibt keinen Fußbreit gemeinsamen Bodens. Die Definitionen, die Grundvoraussetzungen, die Methode sind strittig, und für jedes Einzelproblem gibt es fast so viel „Lösungen" wie Theoretiker. So herrscht denn auch der schwärzeste Pessimismus in bezug auf den Stand der Disziplin, eine Stimmung, die immer trüber geworden ist. Vor hundert Jahren war man ihrer und seiner selbst so sicher, daß J. B. Say sagen konnte, nichts weiter sei mehr zu tun als die alten Irrtümer zu vergessen. Aber schon John Stuart Mill wurde in seiner Spätzeit zum Zweifler und Ketzer, und Nassau Senior klagt betrüblich: „Wir sind noch weit von der Grenze dessen entfernt, was wir wissen müßten und sollten, und noch weiter entfernt von irgendeinem Einverständnis über das, was wir wissen.“2 Wenn die Wissenschaft sich vielleicht nicht mehr in ihrer Kindheit befinde, so sei sie doch noch lange nicht zur Reife gelangt. Es gebe nichts als Streit, nichts Gemeinsames.3 Die Terminologie sei so schlecht, daß „ungesundes Denken unentdeckt durchgehen, und gesundes ohne Überzeugungskraft bleiben kann“4.

 

Fußnoten
[1]
Keynes, Allgemeine Theorie der Beschäftigung, ins Deutsche übersetzt von Fritz Waeger, München 1936, S. V.