Wissen und Werten

In: Franz Oppenheimer, Wege zur Gemeinschaft. Gesammelte Reden und Aufsätze, München 1924, S. 1 - 9.

Abstract: Oppenheimer richtet sich gegen einen gleichnamigen Text von Werner Sombart. Er endet nach einer Diskussion der Werturteils-Thematik mit dem Vorwurf, daß Soziologen und Nationalökonomen seit einem halben Jahrhundert Trick um Trick anwenden, "um dem Zwange zu entgehen, aus gewissen wissenschaftlichen Erkenntnisurteilen die notwendig folgenden Werturteile abzuleiten". Die Verteidiger der augenblicklich geltenden Ordnung hätten zuerst unter dem Vorwande Nationalökonomie zu betreiben, jede ökonomische Methode verworfen und Wirtschaftsgeschichte gelehrt, dann hätten die Grenznutzentheoretiker unter gleichem Vorwande Psychologie gelehrt, und nun wolle man der Wissenschaft prinzipiell verbieten, dem Leben zu dienen.

[S. 1] In soziologischen Kreisen beschäftigt man sich zur Zeit lebhaft mit den Problemen der Bewertung gesellschaftlicher Erscheinungen; meines Wissens hat der Vorstand des »Vereins für Sozialpolitik« in den letzten Weihnachtsferien darüber verhandelt, und ein Nachhall dieser wissenschaftlichen Debatten hat in Werner Sombarts Aufsatz »Wissen und Werten« auch das Ohr der Nichtfachmänner erreicht. Ich bitte um die Erlaubnis, mich an der Debatte beteiligen zu dürfen. Sombart unterscheidet korrekt zwischen »Erkenntnisurteilen« einerseits und »Werturteilen« anderseits. Jene sind mit logischen Mitteln beweisbar, weil die logischen Kategorien "für alle gesunden Menschen gleich gültig sind" - der Setzerkobold druckt statt dessen »gleichgültig«: ein ahnungsvoller Engel! Denn es ist leider eine Tatsache, daß die klarsten logischen Beweise für Erkenntnisurteile auch gesunden Menschen »gleichgültig« sind, wenn die Ergebnisse ihren Vorurteilen, namentlich ihrer klassenmäßigen Befangenheit, widersprechen!

Hier liegt aber wenigstens theoretisch die Möglichkeit einer sozusagen zwangsweise erfolgenden Einigung vor. Darin muß man Sombart beistimmen. Aber man kann ihm nicht beistimmen, wenn er die Möglichkeit einer derartigen Einigung über alle Werturteile strikt ableugnet.

Er schreibt: "Dagegen sind alle Werturteile, auch die scheinbar einfachsten, letzten Endes in der Weltanschauung des Wertenden verankert und lassen sich letzten Endes nur aus dieser Weltanschauung erklären und nur mit dieser Weltanschauung begründen. Die Weltanschauung ist aber das höchst persönliche Eigentum des einzelnen Menschen".

Die Behauptung ist falsch. Sie ist richtig für einige Werturteile, falsch für einige andere, falsch also, wenn sie, wie hier der Fall, als für alle gültig auftritt. In der Sprache der Logik: ein Satz, der als [S. 2] partikular affirmativ richtig ist, ist hier als allgemein affirmativ behauptet und deshalb falsch. So etwa, als wenn ich den richtigen Satz: "Einige Tiere sind Säugetiere" aussprechen wollte in der Form: "Alle Tiere sind Säugetiere".

Es gibt nämlich eine sehr große Gruppe von Werturteilen, die unmittelbar als »Korollarien«, als keines weiteren Beweises bedürftige Ableitungen, aus Erkenntnisurteilen folgen. Das ist der Fall überall dort, wo ein objektiver Wertmaßstab existiert, ein Maßstab, der nicht "in der Weltanschauung des Wertenden verankert ist", sondern außerhalb, im »Phänomenalen«, im Reiche der sinnlichen Anschauung und verstandesmäßigen Erkenntnis existiert, so daß eine Vergleichung der zu bewertenden Erscheinungen mit der als Maßstab anerkannten möglich ist. Solche objektiven Maßstäbe sind z. B. der hygienische, der technische, der chemische usw.

Einige Beispiele! Der objektive Maßstab des Arztes ist der gesunde Mensch. Es weiß, daß der gesunde Mensch eine Körpertemperatur von ca. 36,5 bis 37,5 Grad Celsius hat. Gewinnt er durch thermometrische Messung an einem Patienten das Erkenntnisurteil »40°«, so folgt daraus ohne weiteres das Werturteil »krank«. Das ist nämlich ein charakteristisches Werturteil; denn daraus folgt unmittelbar der Handlungsimpuls: heilen, d. h. die menschliche Maschinerie wieder auf den normalen, als »normal« bewerteten Zustand bringen. »Krank« heißt: abnormal, und normal und abnormal sind Wertausdrücke.

Noch deutlicher ist das im Technologischen. Ich führe einige Werturteile an, die ohne weiteres die Werturteile: »minderwertig« oder »wertlos« implizieren: "Diese Dampfmaschine nutzt zwei Prozent der in den Kohlen vorhandenen chemischen Energie aus." "Dieser Torpedozerstörer macht fünfzehn Seemeilen in der Stunde." "Dieses Weizenmehl enthält 20 % Verunreinigungen." "Dieser als Morphium bezeichnete Stoff besteht aus Zucker." "Diese Feuerungsanlage hat keinen Zug." "Diese statistische oder historische Darstellung beruht auf falschen Methoden."

Hier überall existieren objektive Wertmaßstäbe in der Gestalt von sinnlichen Vergleichsobjekten, deren Zusammensetzung oder Leistung auf Grund von Erkenntnisurteilen bekannt und anerkannt ist. Wir wissen, daß es bereits Dampfmaschinen gibt, die mehr als 20 % der Kohlenenergie ausnutzen, daß es bereits Torpedozerstörer gibt, die 35 oder 40 Seemeilen laufen, daß Weizenmehl auf dem Markte ist, [S. 3] das nur geringe Spuren von Verunreinigungen aufweist, daß Zucker nicht die Fähigkeit hat, Schmerzen zu lindern und Schlaf zu bringen, daß es Feuerungsanlagen gibt, die genügend Zug haben, um ihren Zweck zu erfüllen, daß es sichere und anerkannte Methoden statistischer und historischer Untersuchungen gibt. Mit diesen, nennen wir sie praktischen Idealen vergleichen wir Zusammensetzung und Leistung des zu bewertenden Objektes und geben danach ohne weiteres und offenbar mit zwingender Beweiskraft für jeden Gesunden das entsprechende Werturteil ab: »schlecht, minderwertig, ausreichend, gut, vortrefflich«. Besonders charakteristisch für diese Zusammenhänge sind die zahlreichen Fälle, wo die »Bewertung« im engsten ökonomischen Sinne, d. h. die Bezahlung, vertragsmäßig abhängig gemacht ist von dem Erkenntnisurteil einer durch Vergleichung gewonnenen Messung. So z. B. bei allen Akkordlöhnen und Tantiemegehältern, wo der objektiv erhobene Erfolg für den Unternehmer als Basis der Bewertung der Leistung dient; so ferner beim Verkauf von Kunstdünger, der bekanntlich nicht der Menge oder dem Gewicht nach, sondern nach Stickstoffprozenten oder Kaliprozenten auf Grund einer unparteiischen chemischen Untersuchung bezahlt wird.

Das hat Sombart grundsätzlich übersehen, und das hat nun natürlich angebrachtermaßen die selbstverständlichen Konsequenzen in Bezug auf das von ihm ins Auge gefaßte besondere Problem der soziologischen und nationalökonomischen Bewertung.

Wenn es nämlich eine gewisse Anzahl von Fällen gibt, in denen ein Erkenntnisurteil ohne weiteres berechtigt, ein Werturteil auszusprechen, so hat sich der besonnene Forscher die Frage vorzulegen, ob es nicht vielleicht auch für die Leistung der menschlichen Gesellschaft im allgemeinen und der menschlichen Wirtschaftsgesellschaft im besonderen ein Vergleichsobjekt gibt, das die Messung ihrer Zusammensetzung und funktionalen Leistung gestattet. Wäre das etwa der Fall, so würden auch hier mindestens einige Erkenntnisurteile, vielleicht alle, als ihre simplen Korollarien Werturteile implizieren.

Von seinem Standpunkt aus konnte Sombart freilich diese entscheidende Frage gar nicht stellen. Es ist aber klar, daß sie gestellt werden muß, und ein Fachmann wie Sombart weiß natürlich und sollte bei der Diskussion eines so wichtigen Problems nicht vergessen, daß sie von jeher in der Soziologie und Ökonomik gestellt worden ist, ja, daß sich die gesamte Gesellschaftswissenschaft recht eigentlich um dieses [S. 4] Problem herum kristallisiert oder organisiert hat. Für unseren jetzigen Zweck genügt es, von dem ganz allgemeinen Begriff der »Gesundheit« der menschlichen Gesellschaft auszugehen, mag man ihn so vage fassen wie man will.

Dann ergibt sich sofort als Erkenntnisurteil, daß unsere Gesellschaft nach Zusammensetzung und Leistung entfernt nicht dem zu stellenden Mindestpostulat entspricht. Unsere volkswirtschaftliche Verteilung mit ihrer Zusammenballung verrückter Vermögen auf der einen Seite, während die Massen der Völker von der ungeheuer gewachsenen Kraft der Reichtumserzeugung, wenn überhaupt, nur sehr wenig Nutzen haben; die daraus folgende Verderbnis oben und unten; die dauernde Zuspitzung des Klassenkampfes; der weitverbreitete Pessimismus und Lebensekel, der zunehmende Mystizismus und Romantizismus und vor allem der zweifellose Raubbau an der Volkskraft, wie er sich physisch zeigt in der reißend zunehmenden Wehrunfähigkeit unserer Jungmänner und der ebenso zunehmenden Stillunfähigkeit unserer Jungweiber - und psychisch in der grauenvollen Zunahme der jugendlichen Kriminalität: das sind alles unzweifelhafte Symptome einer schweren Krankheit, einer bedeutenden Abnormalität. Und das gibt unseren »Sozialpolitikern« zweifellos das Recht, grundsätzlich dort Stellung zu nehmen, wo sie stehen, auf seiten der Schwachen gegen die Starken, wenn auch zugestanden werden muß, daß sie angebrachtermaßen zumeist nicht zu sagen wissen, was gerade in diesem vorliegenden Falle geschehen soll, und daher nach irgendeiner »mittleren Linie« suchen.

Sombart bestreitet, daß es einen Zustand der Gesundheit, der »Normalität« gebe, der schlechthin allen Menschen als Normalität gelte, daß also diese Normalität auch nicht als objektiver Wertmaßstab gelten könne, sondern nichts anderes sei als eine aus der Weltanschauung ihres Verfertigers stammende Velleität, ein rein subjektives, aber nicht im mindesten objektives Werturteil.

Schön, lassen wir diese Frage vorläufig einmal beiseite, in der Hoffnung, daß sie sich durch die weitere Diskussion vielleicht noch klären wird. Eines aber wird Sombart keineswegs bestreiten wollen, daß es nämlich wenigstens eine große Kategorie von Tatsachen gibt, wo das Erkenntnisurteil ohne weiteres ein Werturteil impliziert, nämlich überall dort, wo es sich um das Verhältnis handelt zwischen Zweck und [S. 5] Erfolg. Die Mehrheit der oben gebrachten Beispiele waren aus diesem Gebiete gewählt. Diese Fälle wird Sombart aus seiner allzu hastigen Verallgemeinerung unter allen Umständen ausnehmen müssen. Man kann nämlich zwar sehr darüber streiten, ob ein bestimmter Erfolg wünschenswert ist oder nicht, und die Entscheidung darüber hängt allerdings oft, nicht immer, von der Weltanschauung ab: aber man wird in der Regel mit Sicherheit feststellen können, ob ein Mittel zweckmäßig ist oder nicht - und das ist ein »Werturteil«.

Wenn das zugegeben wird - und ich sehe nicht ein, wie es ernsthaft bestritten werden könnte -, dann entsteht bei der Anwendung des allgemeinen Gesetzes auf die Soziologie die entscheidende Frage, ob die geselligen Verbände der Menschen: Staat, Wirtschaftsgesellschaft usw. einen Zweck haben oder nicht? Haben sie einen Zweck, so ist es möglich, mit genügender Genauigkeit, messend, zu erheben, ob der erreichte Erfolg dem bestehenden Zweck ganz entspricht, oder in welchem Maße er ihm etwa nicht entspricht - und daraus folgt dann wieder ohne weiteres ein »Werturteil«, das durchaus objektive Geltung hat.

Sombart ist geneigt zu bestreiten, daß die Gesellschaft irgendeinen Zweck hat. Das kann er sich leisten. Denn er trägt weiter keine Verantwortung, als sie ein akademischer Lehrer und Schriftsteller von Ruf eben trägt, dem es ins Gewissen zu schieben ist, ob er seine Schüler oder Leser verwirrt oder aufklärt. Wäre er Staatsmann oder Gesetzgeber oder Religionsstifter oder Schöpfer eines Moralsystems, das bestimmt ist, in den Schulen eines großen Landes gelehrt zu werden, so trüge er eine andere, weit schwerere Verantwortung - und dann würde er es entweder nicht wagen, den Zweck der Gesellschaft zu leugnen - oder er würde sofort seines Amtes entsetzt werden, wenn er es wagen sollte.

Sombart hat hier nämlich wieder einmal eine Kleinigkeit übersehen. Es mag ja sein, daß es keinen objektiven Zweck der menschlichen Gesellschaft gibt, und es mag ja sein, daß die kleidsame müde Attitüde der Weltverzweiflung vom höchsten philosophischen Standpunkt der Erkenntnis oder der Intuition aus die einzig richtige ist; es mag sein, daß diese Welt der Menschen nur ein dummer Traum oder eine elende Pfuscherei oder sonst etwas ist: aber eines steht nun einmal fest, daß sich die Menschen, sämtlich, ohne Ausnahme (sie seien denn geistes- oder gemütskrank), selbst mit Einschluß der Zweckleugner, über [S. 6] diesen Zweck einig sind. Staat und Gesellschaft haben den Zweck, dem allgemeinen Besten zu dienen.

Dem allgemeinen Besten, nicht dem Besten einzelner oder einer Klasse usw.! Natürlich glaubt jeder einzelne und jede Klasse, daß das allgemeine Beste am vollkommensten dadurch erreicht wird, daß sein oder ihr Bestes als das nächste Ziel der gesellschaftlichen Bestrebung zunächst einmal herbeigeführt wird: aber kein einzelner und keine Gruppe wird sich, geschweige denn anderen, zu gestehen wagen, daß sein oder ihr besonderes Wohlergehen der letzte, eigentliche Zweck der Gesellschaft sei und nicht bloß ein Mittel zu dem eigentlichen Zwecke, der Wohlfahrt der Gesamtheit.

Dieser Zweck also steht fest und wird immer feststehen, wenn auch moderne Sophisten versuchen sollten, wie einst in Athen, das Individuum zum Maß aller Dinge und darum zum souveränen Wertsetzer zu machen, für den es keine objektiv gesetzten Zwecke und Werte gibt. Unsere Zeit hat solche Tendenzen; seit Nietzsche hält sich jeder von den »Viel-zu-vielen« für einen Übermenschen, wenn er Geld genug hat, sich »auszuleben«.

Der Zweck der Gesellschaft also steht fest, und es ist Sache der Wissenschaft, in Erkenntnisurteilen festzustellen, inwiefern sie diesem ihrem Zweck gerecht wurde und wird. Und das Ergebnis ist ohne weiteres ein objektiv gültiges Werturteil - trotz Sombart und den Seinen. Wenn jemand Wirtschaft, Kulturstand, Lebenshaltung, Bildung, Sterblichkeit, Lebensstimmung und Kulturleistung in Kunst, Wissenschaft usw. etwa bei dem russischen oder rumänischen und dem schweizerischen oder englischen Volke vergleicht, so muß er zu bestimmten Erkenntnis- und Werturteilen über ihre beiderseitige Gesellschaftsordnung gelangen, die beide ganz gleich objektiv gültig sind.

Nun graben einige Leute, die gleich Sombart auch gern den philosophischen Untergrund ihrer Gesamtauffassung erreichen möchten, tiefer und fragen naseweis: "Wie kommt es denn, daß alle gesunden Menschen, sobald sie nicht nur geistreiche Paradoxa abfeuern, sondern verantwortlich handeln, über den Zweck der Gesellschaft völlig einig sind, während sie sich doch über die Mittel zu diesem Zwecke so gut wie niemals einigen können?" Und sie empfangen von der Philosophie, und zwar von demjenigen ihrer Teile, den man Ethik nennt, die Antwort: "Weil alle Menschen das »Prinzip der Ethik« anerkennen, das [S. 7] Kant den »kategorischen Imperativ« genannt hat. Dieses Prinzip ist im Individuum a priori vor jeder Erfahrung; alle Gesellschaft wäre unmöglich, wäre es nicht in jedem vorhanden; jeder Keim einer entstehenden Gesellschaft würde in statu nascendi explodieren, wenn nicht der Grundsatz allgemein, wenigstens als Grundsatz, anerkannt würde, daß man niemandem tun dürfe, was man nicht wollen könne, daß andere uns tun." Einen solchen Zustand der Gerechtigkeit zu verwirklichen und dafür Sorge zu tragen, daß er niemals ungestraft verletzt und nach jeder Verletzung wieder hergestellt werde, das ist der Zweck des Staates und der Gesellschaft, über den sich alle Individuen, Gruppen, Klassen und Rassen einig sind, Sombart inbegriffen.

Und daraus folgt nun speziell für die Wirtschaftsgesellschaft und die Theorie von der Wirtschaftsgesellschaft, die Ökonomik, eine wichtige Konsequenz, die geeignet ist, uns dem gesuchten speziellen Maßstab näher zu bringen, der uns befähigen soll, nicht das Ziel (das steht ohnehin fest), wohl aber die verschiedenen Mittel zu dem Ziele objektiv wissenschaftlich zu bewerten. Es folgt nämlich aus dem ethischen Prinzip, daß jede unentgoltene oder nicht voll entgoltene Aneignung dem Zweck der Gesellschaft zuwiderläuft und daher (Werturteil!) zu verwerfen ist.

Darum bestraft der Staat den gemeinen Dieb und den Raubmörder; darum ist auch derjenige Wucher gesellschaftlich geächtet, den der Staat nicht bestrafen kann. Und darum wehren sich die besitzenden Klassen und ihre wissenschaftlichen Verteidiger so verzweifelt gegen die Behauptung ihrer Gegner, daß ihr Einkommen aus Kapitalprofit und Bodenrente »unverdientes Einkommen« oder gar unentgoltene Aneignung von demjenigen Einkommen sei, das von Rechts wegen den Arbeitern zukomme. Warum geschieht das denn? Warum wollen sie nicht zulassen, daß die Wissenschaft - wozu sie nach Sombart berechtigt wäre - ein Erkenntnisurteil mit diesem Inhalt ausspricht? Aus keinem anderen Grunde, als weil sie dann selbst, da sie auch in eigener Sache das Prinzip der Ethik nicht prinzipiell verneinen können, gezwungen wären, das implizite mitgefällte Werturteil auszusprechen. Und das können sie nicht, können es nicht wollen, und suchen darum vor ihrem eigenen und dem öffentlichen Gewissen Deckung in entgegengesetzten Erkenntnisurteilen, die das verhängnisvolle, verdammende Werturteil nicht enthalten.

[S. 8] Und nun können wir die Frage von höherem Gesichtspunkte aus beantworten, ob es eine »Normalität« der menschlichen Gesellschaft gibt oder nicht? Es gibt eine solche, eine für alle geistig Gesunden gültige, und zwar ist es dasjenige Gedankenbild einer Gesellschaft, in der das ethische Prinzip durchaus, ungehemmt und ungestört, als herrschend unterstellt wird. Wenn man in Gedanken alle menschlichen Beziehungen aus dem Gesellschaftsleben ausscheidet, die auf Verletzung dieses ethischen Prinzips beruhen, alle Institutionen, die aus der Verletzung des ethischen Prinzips entstanden sind, und nur diejenigen Beziehungen und Einrichtungen in Gedanken bestehen läßt, die auf gerechtem Mutualismus beruhen, so hat man die Normalität, das, was ich im Gegensatz zur politischen die »reine« Ökonomie genannt habe. Alle unsere Großen haben mit dieser Methode zu diesem Ziele gestrebt.

Derart ruhen unsere Werturteile in politischen und sozialen Dingen auf dem unverrückbaren Felsgrunde des ethischen Prinzips, das man nicht wegdenken kann, ohne die Gesellschaft und den Staat selbst mit wegzudenken. Justitia est fundamentum regnorum. Gebt das Fundament auf, und das Chaos, die Anarchie sind da, und jedermanns Hand ist gegen jedermanns Hand.

Gegen eine bombenfeste Bastion von solcher Stärke ist sogar das schwere Belagerungsgeschütz der stärksten Argumente machtlos, und noch viel weniger wird sie das harmlose Feuerwerk prasselnder Paradoxe in Trümmern schießen. Die Völker waren nicht im Irrtum, und der Liberalismus, der im Namen der Gerechtigkeit von jeher gleiches Recht für alle forderte, jagte nicht einem Irrlicht nach, das in den Sumpf lockt, sondern steuerte nach den ewigen Sternen dem sicheren Hafen zu. Und so kann denn doch, trotz Sombart, "mit den Mitteln der Wissenschaft eine bestimmte Politik als die objektiv richtige begründet werden". Freilich: Wissenschaft kann mißbraucht werden, wie alles in der Welt mißbraucht werden kann, und die Ökonomik ist leider in der Tat zur Dienstmagd aller möglichen Sonderinteressen erniedert worden. Aber der Mißbrauch beweist nichts gegen den richtigen Gebrauch. Und wir brauchen uns von niemandem im Namen einer angeblichen Wissenschaft verbieten zu lassen, auf Grund allgemein gültiger Erkenntnisurteile die dazu gehörigen Werturteile namens der wirklichen Wissenschaft auszusprechen, eine Katze eine Katze und z. B. zarische Barbarei oder rumänische Bodenverteilung oder amerikanischen Trustwucher das zu nennen, was sie sind.

[S. 9] Noch ein Wort zum Schlusse über die tiefsten und ihren Urhebern sicherlich selbst unbewußten Gründe ihrer Stellungnahme:

Die Soziologen und Nationalökonomen, die grundsätzlich, ihrer Stellung und Abkunft entsprechend, Verteidiger der augenblicklich geltenden Ordnung sind, wenden seit einem halben Jahrhundert - ich wiederhole, daß ich an ihrer bona fides nicht einen Augebnlick zweifeln will - Trick auf Trick an, um dem Zwange zu entgehen, aus gewissen wissenschaftlichen Erkenntnisurteilen die notwendig folgenden Werturteile abzuleiten. Zuerst haben sie die ökonomische Methode in Bausch und Bogen verworfen und unter dem Vorwande, Nationalökonomie zu lehren (die ohne jede Methode nicht denkbar ist), Wirtschaftsgeschichte gelehrt; das waren die »historischen Nationalökonomen«. Dann, als das nicht mehr länger ging, haben sie die Methode wieder in ihren Rang eingesetzt, aber auf ein ganz fremdes Gebiet angewendet und unter dem Vorwande, Nationalökonomie zu lehren, Psychologie gelehrt; das sind die »Grenznutzentheoretiker«. Und jetzt, wo auch das nicht länger geht, will man der Wissenschaft prinzipiell verbieten, dem Leben zu dienen, d. h. Werturteile zu begründen, indem man alle Werturteile den Vorurteilen gleichsetzt, die allerdings aus der »Weltanschauung« stammen.

Das mußte einmal deutlich ausgesprochen werden!