2.3.2. Ursprung und Entwicklung der Klassen

Die »kapitalistische Ökonomie« der industriellen Ära gilt OPPENHEIMER in sozialer Hinsicht als Fortsetzung eines uralten innergesellschaftlichen Grundkonfliktes mit neuen Mitteln. Der Übergang vom Feudalkapitalismus zum Industriekapitalismus betont aus seiner Sicht eher die unglückseligen Kontinuitäten denn das Ausmaß eines tatsächlich »revolutionären« Wandels. Viel zu voreilig haben sich die liberalen Neuerer auf die Schultern geklopft und ihr Werk als vollendet betrachtet, nämlich unmittelbar nachdem ihnen die wirtschaftliche Macht in der Gesellschaft zugefallen war und sie fortan alle Vorteile, die aus der alten Gesellschaftsordnung resultierten, für sich vereinnahmt hatten. Daß der Mensch nunmehr als »frei« betrachtet werden konnte, galt den liberalen Idealisten als höchster Wert. Aber »Freiheit« bedarf des Eigentums (und der Bildung), damit das Individuum unabhängig (oder nur in freiwilligem Zusammenschluß mit anderen) seine physische Reproduktion bewerkstelligen kann. (↑ 38)

Die Scheidung der Gesellschaft in Besitzende und Besitzlose, in wirtschaftlich Freie und Abhängige blieb von der liberalen Wende unangetastet. Die im feudalen Raum (und Vorzeit) herausgebildete Chancenverteilung und Schichtung der Stände ging ohne irgendwelche »revolutionären« Brüche in das »neue Zeitalter« über. Kein Großgrundbesitzer wurde in Deutschland peinlichen Fragen nach der Herkunft seines Besitzes ausgesetzt; es fanden noch lange keine öffentlichen Diskussionen über die Sozialschädlichkeit dieses Teiles der alten Feudalordnung statt; unter preußischer Rechtshoheit wurde weder die überkommene Vermögensordnung berührt, noch veränderte sich bei der Besetzung leitender Positionen in der [S. 150] Staatsverwaltung und dem Militär schlagartig etwas an der bevorzugt »adeligen« Herkunft der staatstragenden Diener[297].

Zwar war in Sachen »persönlicher Freiheit« ein großer Schritt getan worden, und ferner wechselte eine Reihe großer Vermögen ihren Besitzer. Der aufgestiegene Bildungsbürger, »Revolutionär« seiner Zeit, konnte dem konservativen Landadel, der sich auf die neuen Techniken des Vermögenserwerbs meist weniger gut verstand, den Rang ablaufen. Die aufstrebenden Bürger hatten per Kreditvergabe schon seit Aufhebung des kanonischen Zinsverbotes zunehmend Anteil an den »Rechten« der alten Grundherren und konnten mit zunehmender industrieller Produktion den Überhang dienstbarer Arbeitskräfte bald selber verwerten. So trägt die »Revolution« vom sozialökonomischen Standpunkt aus betrachtet alle Kennzeichen einer Umwälzung gegebener (Un-)Ordnung, nicht hingegen einer Revision der ihr innewohnenden Beuterechte. Treiber und Jäger tauschen die Plätze, während man weiterhin ein Wild jagt und den unterschichtigen Menschen als solches versteht.

Wir haben es hier wohlgemerkt stets mit Prozessen zu tun, innerhalb derer jede Interessengruppe während eines historischen Momentes in einem bestimmten Licht erscheint. Den »Proletarier«, »Bürger«, »Kapitalisten« etc. des Jahres 1840 gibt es heute nicht mehr, so wie es die Verhältnisse, aus denen er hervorging, nicht mehr gibt. Wohl aber gibt es eine Geschichte und Tradition, in der die eine Person in fünfter Generation als Erbe auf eine proletarische Abstammung zurückblickt und die andere Person Erbe von Feudalgütern, elterlichen Bildungsvorsprunges, gesellschaftlichen Einflusses oder sonstiger Vorzüge ist. Zwischen den fünf Generationen vom Anbeginn des industriellen Frühkapitalismus bis zur Gegenwart liegen Welten und Kontinuitäten zugleich. Und dies gilt natürlich auch bezüglich der unmittelbar vorangegangenen Perioden des Industriekapitalismus. Sowohl unterliegen die Verhältnisse und Menschen ständigen Veränderungen (wodurch sie gegenüber ihren Vorfahren ungleich werden) als auch sind diese Veränderungen Abfolgen, die in ihrem Inneren auf generationenübergreifend Wirkendes zurückgehen. Es widerspricht dem Aspekt der Kontinuität bei soziologisch relevanten Größenordnungen der Masse nicht, wenn sich bei Individuen biographische Diskontinuitäten erheblichen Ausmaßes einstellen. Jede Gesellschaft mit großen inneren Spannungsfeldern ist geeignet, einzelne Atome in ihrer Polarität extrem umschlagen zu lassen. Nur bedeutet die Loslösung eines Einzelnen von seinem angestammten Sitz, der für das Individuum revolutionär ist, keine Negation des Spannungsfeldes, sondern allenfalls einen winzigen Schritt zu dessen Entkräftung.

[S. 151] Für die Erben bestimmter Vorfahren gilt, daß sie weder bezüglich der übertragenen Vorzüge noch deren moralische Lasten persönliche »Schuld« tragen. Während man die Vermögensübertragung in Erbfolge jedoch gerne sichert und annimmt, steht es um die Lasten nur selten günstig bzw. wird gerade in traditionalistischen Kreisen versucht, Geschichte durch wohlklingende Mythen zu schönen. Das ist psychologisch verständlich und verdirbt zugleich die gute Theorie, der es weniger darauf ankommt, daß die einzelnen Individuen mit Stolz auf ihre Ahnenreihe zurückblicken können, als vielmehr darauf, den Entwicklungsprozeß der Gesellschaft zu verstehen. Dieser Entwicklungsprozeß erscheint jedoch unter entgegengesetzten Vorzeichen, wenn nicht der postulierte Mythos einer auf Freiheit und Gleichheit beruhenden Urgesellschaft zugrundegelegt wird, die sich durch Fleiß und Einsatz bürgerlicher Tugenden in heutige Verhältnisse ausdifferenziert hat, sondern wenn man von dem ausgeht, was tatsächlich am Anfang jeder Staatsgeschichte steht: Eroberung und Unterwerfung. Keine extremere Klassenscheidung ist denkbar als die Scheidung zweier Volksgruppen auf gleichem Territorium nach Siegern und Besiegten. Keine krassere Scheidung wirtschaftlicher Ausgangslagen ist denkbar als diejenige der nach Eroberungsrecht Bevorrechtigten und der nach Eroberungsrecht Vorverpflichteten. GYSIN hat oben (↑ 137) auf die Unterschichtung durch die Sklavennahme hingewiesen, die als Überlagerungstheorie bei der Erklärung der Klassenentstehung ihren Platz gefunden hat. Stets finden wir Gewalt als maßgeblichen Bestandteil der Menschheitsgeschichte, so daß es einem seltsam anmutet, mit welcher Anstrengung manche Leute gerade davor ihre Augen verschließen. Aus diesen Anfängen sind die Staaten als gespaltene Gesellschaften bzw. Klassenstaaten mit Klassenrecht entstanden. OPPENHEIMER gab den Vorgängen des Anfangs die Bezeichnung »Erbsünde«[298]. Seitdem dreht sich alles Ringen freiheitlicher Denker und sozialer Bewegungen darum, die Verletzung der Gerechtigkeit durch die ursprüngliche Gewalt der Anfänge wieder auszuheilen.

Dies ist der Kerngedanke der »soziologischen Staatsidee«, wie sie von dem Grazer Staatsrechtslehrer LUDWIG GUMPLOWICZ in den Mittelpunkt seines Systems gestellt wurde[299] und den OPPENHEIMER aufgegriffen und um die staatswirtschaftlichen Aspekte ergänzt hat. Wenn man so will, dann ließe sich diese Theorie als eine »optimistische« kennzeichnen, denn alle Grobheiten liegen darin am Anfang der Staatsentstehung, während jedes Jahrhundert fortschreitender Demokratisierung und Emanzipation der Unterworfenen zur Aussöhnung der ursprünglich durch Gewalt gespaltenen Gesellschaft führt. Demgegenüber sind die von einem Urkommunismus oder der durch »Leistung« ausdifferenzierten Ungleichheit ausgehenden Ansätze entgegengesetzter Tendenz. Ihr Ausgangspunkt ist wohl ein harmonischer, doch muß ihnen jedes gegenwärtige Zwischenstadium der Entwicklung negativer erscheinen, sei es als »unvermeidliches kleinstes Übel« oder als Vorstufe totalen Zusammenbruchs. Obgleich es hier um Plausibilität geht und nicht [S. 152] um die mehr oder weniger wohlgefälligen Implikationen eines Ansatzes, so muß man doch anmerken, daß eine harmonistische Verfälschung historischer Gegebenheiten Stagnation oder gar Depression verursacht, während ein dissonanter Startpunkt letztlich eine fortschrittsfähige Perspektive eröffnet.

2.3.2.1. Herrschaft und Genossenschaft

Bei dem Gegensatzpaar »Herrschaft« und »Genossenschaft« handelt es sich „nicht im mindesten um einen bildlichen Ausdruck, sondern um die allerwirklichste Wirklichkeit, die sich denken läßt. Denn die Genossenschaft und die Herrschaft sind Organisationen des Wir-Interesses dort und des Ich-Interesses hier, der Gleichheit dort und der Ungleichheit hier, der friedlichen Kooperation dort und der Ausbeutung hier: und diese Organisationen bestehen aus lebendigen Menschen mit Herzen, die ihre Rechte wissen und leidenschaftlich begehren, mit Hirnen planen, und mit Fäusten -und oft mit Waffen in den Fäusten -, die zugreifen, um sich zu nehmen oder zu verteidigen, was sie für ihr Recht halten. Und diese Menschen, in ihren Gruppen oder Parteien organisiert, schlagen die friedlichen und blutigen Schlachten der Geschichte. Nichts wirklicheres ist zu denken.“[300]

„Nur dem Genossen gegenüber besteht die Pflicht, seine persönliche Würde zu achten, nur der Genosse hat daher gegen den Genossen Rechte. Aber gegenüber den »Ungenossen« gibt es weder Recht noch Pflicht. Wer nicht zu »Uns« gehört, wird vom Wir-Interesse nicht ergriffen: im Gegenteil, ihm stellt sich das Gruppen-Wir als »Gruppen-Ich« ausschließend entgegen; und was für die Gesamtheit gilt, das gilt auch für die einzelnen.“[301]

„Die Gruppe als Ganzes, und infolgedessen jeder einzelne aus der Gruppe, zieht im Konflikt die eigenen Interessen denen des oder der Fremden unbedingt und ohne Abwägung vor. Er erkennt ihnen gegenüber keine Pflicht an und räumt ihnen daher keine Rechte ein. Sie sind ihm in keiner Hinsicht »Rechtssubjekte«. Er nimmt bedenkenlos und mit dem besten Gewissen ihr Leben und ebenso bedenkenlos ihr Gut, ihre eigene Arbeitskraft eingerechnet, letztere wenigstens von dem Augenblicke an, wo er sie »ausbeuten« kann, weil ein Vermögensstamm besteht, der ohne die Verfügung über fremde Arbeitskraft nicht über eine gewisse Größe wachsen kann. Das aber ist erst auf der Stufe der Hirten und höheren Fischer der Fall: hier erst finden wir das Wesen der Sklaverei und bald auch des ausbeutenden Wuchers an den eigenen Stammesgenossen, der regelmäßig aus der Gewöhnung an die Ausbeutung Fremder folgt.“[302]

„Was das Verständnis dieser Dinge so überaus erschwert, sind zwei Umstände, ein psychologischer und ein sachlicher. Der psychologische Umstand beruht in der »persönlichen Gleichung« der meisten Schriftsteller. Alle »bürgerliche Soziologie«, [S. 153] Ökonomik und Historik, beruht auf der Annahme, daß Führerschaft ohne weiteres in Herrschaft übergeht, und mehr noch: daß Herrschaft normalerweise immer aus Führerschaft entsteht: das ist das »Gesetz der ursprünglichen Akkumulation«, (...), die These, daß alle Klassenverschiedenheit sich ohne Einwirkungen äußerer Gewalt aus Verschiedenheiten der wirtschaftlichen Begabung entwickelt haben. Die bürgerliche Wissenschaft kann dieses ihr Grundaxiom nicht aufgeben, ohne sich selbst aufzugeben. (...) Sachlich sind zweitens, die Dinge so schwierig zu durchschauen, weil fast immer eine »Genossenschaft« die Herrschaft über eine andere Genossenschaft ausübt. Ein wanderndes Volk oder eine auf Raub und Eroberung ausziehende Kriegertruppe, beides unter Führerschaft stehende »Genossenschaften«, unterwirft ein anderes Volk, setzt sich als Adel darüber, und richtet seine Herrschaft über ihm auf, als ein auf die Dauer berechnetes Verhältnis. Es geschieht mit Notwendigkeit, daß die gleiche Person oder der gleiche »Stab«, der die siegreiche Genossenschaft »führt«, in ihrer Vertretung, zunächst als ihr Beamter, die besiegte Genossenschaft »beherrscht«.“[303]

„Herrschaft soll heißen eine Beziehung SOZIALER KLASSEN, d. h. eine auf Dauer gemeinte Beziehung zwischen RECHTSUNGLEICHEN, einer Herrenklasse oben und einer Unterklasse unten. Sie ist eine »legitime Ordnung«, die »Geltung« besitzt. Diese Ordnung ist im positiven Recht und der Verfassung gesetzt und durch die Machtmittel der Herrenklasse (weltliche und bald sehr mächtige geistliche) »garantiert«.“«[304]

Damit wendet sich OPPENHEIMER in diesem Punkt gegen MAX WEBER und die von ihm geprägte Definition. Er wirft WEBER vor, die Begriffe »Führung« und »Herrschaft« miteinander verwirrt zu haben[305]. Hinzu kommt meines Erachtens, daß WEBER die Begriffe »Macht« und »Herrschaft« von vornherein nicht als gesellschaftliche Kategorien erfaßt, sondern vom Standpunkt des Individuums und dessen Durchsetzungsfähigkeit aus betrachtet. Er schreibt:

„Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“

Und er führt weiter unten aus:

„Der Begriff »Macht« ist soziologisch amorph [gestaltlos; ohne ausgeprägte Eigenschaften oder Merkmale; W.K.]. Alle denkbaren Qualitäten eines Menschen und alle denkbaren Konstellationen können jemanden in die Lage versetzen, seinen Willen in einer gegebenen Situation durchzusetzen.“

Von hier aus begründet WEBER die von ihm gewählte Definition des Herrschafts-Begriffes mit der Notwendigkeit einer Präzisierung gegenüber dem inhaltlich unbestimmten Macht-Begriff.

„Der soziologische Begriff der »Herrschaft« muß daher präziser sein und kann nur die Chance bedeuten: für einen Befehl Fügsamkeit zu finden.“

[S. 154] Also in Definitionsform:

„Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhaltes bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden; ...“[306]

Nach meinem Verständnis erscheint die von WEBER gesetzte Definition als Variation eines a priori als Herrschaft gedachten Verhältnisses, dem der Gegenbegriff fehlt. Dagegen könnte man bei einer soziologischen Grundfigur zunächst eine vollständige Disjunktion der Begriffe erwarten, sprich: eine Differenzierung der Erscheinungen nach Herrschaft und nicht-herrschaftlicher (An-) Ordnung sowie in einem zweiten Schritt die Angabe, welche gesellschaftlichen Verhältnisse das eine von dem anderen scheiden. Diesen Weg hat OPPENHEIMER beschrittenen, indem hier das Verhältnis unter Rechtsungleichen, dort das Verhältnis einer geeinten sozialen Gruppe festgestellt wurde, in der hier das Prinzip der Herrschaft, dort das der Führerschaft gilt.

„Wo wir von Gewalt ohne weitere Zufügung sprechen, meinen wir im zwischengesellschaftlichen Leben den rücksichtslosen Kampf vor allem der Waffen, aber auch der List, und die Handelspolitik, und im innergesellschaftlichen Leben das Verbrechen im Sinne nicht des Strafgesetzbuchs, sondern der wahren Gerechtigkeit.
In diesem Sinne ist »Gewalt« wohl eine der wichtigsten, Gesellschaft bildenden, aber noch keine gesellschaftliche Beziehung. Um dazu zu werden, muß Gewalt sich »mit einem Tropfen demokratischen Öls salben«, muß aus dem Verhältnis der Gleichheit und der Anerkennung die unerläßlichsten Elemente in sich aufnehmen. Und dadurch wird Gewalt zu Macht.“[307]

„Sie muß Recht im positiven Sinne werden, daß heißt, soziologisch gesehen, muß es dahin bringen, daß die »subjektive Reziprozität[308]« zustande kommt: und das ist nur möglich durch gesetzliche Beschränkung der Gewalt und Übernahme gewisser Pflichten als Gegenleistung für die beanspruchten Rechte. So wird Gewalt zur Macht, und es entsteht ein »Übermachtverhältnis«, das nicht nur von den Unteren für den Ausdruck gerechter Reziprozität gehalten wird.“[309]

Der WEBERschen Macht-Definition stimmt OPPENHEIMER unter dem Vorbehalt zu, daß „von einer »sozialen Beziehung« bei reiner Gewaltanwendung noch keine Rede sein kann.“[310] Genau an dieser Stelle trennen sich aber auch die Wege von WEBER und OPPENHEIMER, denn von einem »gleichviel, worauf diese Chance beruht« kann bei OPPENHEIMER keine Rede sein. Es macht bei ihm einen empfindlichen Unterschied aus, ob Befehle Gehorsam finden aufgrund vorgesellschaftlicher [S. 155] Gewaltanwendung, ob aufgrund eines gesellschaftlich implementierten und auf Dauer angelegten Übermachtverhältnisses zwischen Herrschern und Beherrschten oder aufgrund freiwilliger Gefolgschaft und Führerschaft innerhalb eines genossenschaftlichen Personenverbandes. Man mag einwenden, WEBER habe diese Differenzierung bei der Unterscheidung seiner Autoritätstypen berücksichtigt. Dem ließe sich zustimmen, und dennoch bleibt, daß er die Chancen individuellen Handelns nicht auf die unterschiedlich gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse zurückführt und somit von WEBER eine personenbezogene Sichtweise geprägt wurde, von der aus sich eine strukturbezogene, gesellschaftstheoretische Klärung der Herrschaftsverhältnisse nicht diskutieren läßt.

Es erscheint mir übrigens typisch, daß gerade Genossenschaftstheoretiker in diesen Dingen besonders sensibel sind. OTTO GIERKE hat die vollständige Disjunktion der Begriffe vor Lebzeiten WEBERs und OPPENHEIMERs in seinem Werk erfaßt[311]. Und jüngst hat ROBERT HETTLAGE das Thema erneut aufgegriffen. Er schreibt über MAX WEBER:

„Das Werk MAX WEBERs kreist um das Grundthema Rationalität und Herrschaft. Er fragt nach den Entstehungsbedingungen des abendländischen Rationalismus und dessen Ausprägungen in der modernen Gesellschaft.

Er zeigt auf, daß der Zwang zur rationalen Lebensführung sich »absolut unentrinnbar« in einem spezifischen Herrschaftstypus, der anstaltsmäßigen Verwaltungsstruktur, niederschlägt. Dadurch entfallen persönliche Herrschaftsverhältnisse (...), aber nicht zugunsten von Herrschaftsfreiheit, sondern nur zugunsten einer anderen Art von Herrschaftsbeziehung, der unpersönlichen:

Rationale Organisation hat Herrschaft nicht aufgehoben, sondern nur verschoben. Zwischenmenschliche Herrschaftsverhältnisse sind es allemal, handele es sich nun um einen Verein, eine Sekte, eine Partei, einen Betrieb oder um den Staat. Überdies -so seine feste Überzeugung -sind die großen gesellschaftlichen Leistungen immer das Werk von Minderheiten oder gar Einzelner, die sich zur Durchsetzung ihrer Ziele die notwendige Gefolgschaft verschaffen. Mag formal und offiziell auch Majoritätsherrschaft bestehen, »in Wirklichkeit (ist) die Herrschaft stets eine Minoritätsherrschaft ... Eines oder einiger irgendwie im Wege der Auslese oder der Angepaßtheit an die Aufgaben der Leitung dazu befähigter Personen ...« Trotz satzungsgemäßer, legaler, rationaler Verwaltung von Parteien, Betrieben usw. hat doch jedes Leitungsgremium »Befehlsgewalt«; und obgleich jedes Organisationsmitglied nur der unpersönlichen (Rechts-)Ordnung zu gehorchen hat, steht doch der Gehorsam im Vordergrund.

Deshalb hat WEBER sich auch für die heutigen Fragen der Wirtschaftsdemokratie nicht nur nicht sonderlich interessiert, er hat die Bestrebungen der Herrschaftsminimierung, Machtverteilung, Machtkontrolle und »Demokratisierung« sogar mit Spott bedacht.“[312]

[S. 156] Hier scheint doch wohl eine gewisse Voreinstellung hinter der unvollständigen Disjunktion der Begriffe bei MAX WEBER zu stehen. Wenn man aber von einem Gegensatzpaar wie etwa Schwarz und Weiß eine Seite eliminiert, Weiß also als »Unschwarz« definiert, dann ist eben alles Weiße ein graduell unterschiedlich vollkommenes Schwarz, das 100 %ige Weiß ein 0 %iges Schwarz. „Nicht zuletzt WE-BERs dominierendem Einfluß auf die moderne Soziologie dürfte es deswegen zuzuschreiben sein, daß das Denken in Herrschaftskategorien so überwertig wurde und den ursprünglich als soziologischen Kontrast-Terminus verstandenen Begriff der »Genossenschaft« von der Bildfläche verdrängte.“[313] Interessanterweise hat sein Bruder ALFRED WEBER die problematische Seite der Medaille entpersönlichter Herrschaftsbeziehungen nachdrücklich thematisiert[314], in der Bürokratie auch einen „Feind breitgelagerter Eigeninitiative und Selbstgestaltung des menschlichen Lebens“ (S. 48) erkannt und den „praktischen Nihilismus“ (S. 84) als gefährliche Massenlagerung des Abendlandes bezeichnet. Der von ALFRED WEBER promovierte FRANZ KAFKA malte gar in düsteren Schilderungen die ganze Problematik eines faschistisch-totalitären Staatswesens aus[315]. Und auch OPPENHEIMERs Voreinstellung steht den preußischen Realitäten bekanntlich scharf entgegen. „Der Mensch ist nicht gut und nicht böse, er folgt dem Gesetz des geringsten Widerstandes. Je nachdem die Verhältnisse sind, benimmt er sich anständig oder unanständig; Macht wird immer mißbraucht: Darum soll man nicht versuchen, die Menschen zu bessern, sondern soll die Verhältnisse ändern, soll Macht ausrotten.“[316] Dazu bedarf es jedoch einer anderen Organisation mit anderem Ordnungsprinzip: die Genossenschaft, hier verstanden als Verband der freiwillig Assoziierten und in ihrer historischen Bedeutung als Gegenbegriff:

»Genossenschaft« bezeichnet eine horizontale Sozialbeziehung zwischen Menschen. „Sie beruht auf einem Verhältnis grundsätzlicher Parität, wie Herrschaft auf Über-und Unterordnung.“[317]

2.3.2.2. Die Entstehung der Staaten

Einen weiteren Schritt in der OPPENHEIMERschen Theorieentwicklung stellt dessen Auseinandersetzung mit dem Wesen und Inhalt des Staates dar. Wir hatten auf [S. 157] S. 69 dieser Arbeit bereits das Problem des MÜNCHHAUSENs formuliert, wonach der scheinbare Gegensatz von Staat und Markt aus Sicht politischer Verhältnisse und wirkender Interessenlagen gar keiner ist; die wechselseitige Disziplinierung also daran erinnert, wie MÜNCHHAUSEN sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht. An dieser Stelle nähern wir uns der Figur von einer anderen Seite. Sie wird zeigen, daß der Staat als Instrument des organisierten Klassennutzens tendenziell Feind des Bürgers und einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsordnung ist und nur dann den von Philosophen formulierten Idealen entsprechen kann, wenn er ganz und gar Mittel einer politisch formierten Gesellschaft wird. In diesen Sätzen liegen Mahnung und Aufruf eng nebeneinander, so daß OPPENHEIMERs Ausführungen einerseits der naiven Leichtgläubigkeit ins Wort fallen, andererseits dem Desillusionierten realistische Wege weisen.

Das von OPPENHEIMER 1908 herausgegebene Büchlein »Der Staat«[318] ist in viele Sprachen übersetzt worden und in einer Endfassung von 860 Seiten in das »System der Soziologie« eingegangen. Es ist in der Kurzfassung von 1908 eine der lesenswertesten Veröffentlichungen OPPENHEIMERs. Ich entnehme ihr und der Endfassung einige Passagen zur Darstellung der Grundidee.

„Diese Abhandlung spricht von dem geschichtlichen Staat. (...) [Sie spricht] nicht von »den« Staaten: die sind der Gegenstand der Historik, sondern von »dem« Staate: sie will ihn als allgemeine gesellschaftliche Erscheinung in seiner Entstehung und seiner Entfaltung bis zum neuzeitlichen Verfassungsstaat verfolgen; (...) Das heißt: sie betrachtet den Staat vom Standpunkt des Soziologen. Nicht von dem des Philosophen: denn der interessiert sich nur für den Staat, wie er sein soll. Aber der Staat, wie er war und ist, der geschichtliche Staat, sagt z. B. FICHTE, »geht den Erleuchteten gar nichts an«. Auch nicht vom Standpunkt des Juristen: denn ihn interessiert nur die äußere Form, während der Soziologe den Inhalt der Staatsgesellschaft verstehen will.

Aus diesem Grunde scheiden alle Staatsrechtslehren aus unserer Betrachtung von vornherein aus. Aber nicht minder zeigt eine schnelle Übersicht der eigentlichen Staatstheorien, daß wir von ihnen über Entstehung, Wesen und Zweck des Staates keine Aufklärung erwarten dürfen. Sie stellen alle Schattierungen dar zwischen den äußersten denkbaren Extremen. Wenn ROUSSEAU den Staat aus einem Gesellschaftsvertrage, CAREY aber aus einer Räuberbande entstehen läßt; wenn PLATON und die Marxisten dem Staate die Omnipotenz zuschreiben, ihn zum absoluten Herrn des Bürgers in allen politischen und wirtschaftlichen, PLATON sogar in den geschlechtlichen Beziehungen erheben will, während der Liberalismus ihn zur Impotenz des »Nachtwächterstaates« verdammt, und der Anarchismus ihn gar gänzlich ausrotten will -dann ist ein Versuch, auf der mittleren Linie zwischen solchen sich ausschließenden Lehren zu einer zureichenden Auffassung des Staates zu gelangen, aussichtslos.

Dieser unversöhnliche Zwiespalt der Theorien vom Staate erklärt sich daraus, daß keine von ihnen vom soziologischen Gesichtspunkte aus entstanden ist. (...) Wir müssen fragen, welche Eigenschaften zu dem Begriff des Staates als solchem wesentlich gehören, und können die Antwort auf diese Frage nur finden, wenn wir womöglich alle

[S. 158] Staaten der Vergangenheit und Gegenwart daraufhin betrachten, welche Eigenschaften sie sämtlich besitzen. (...)

Ältere staatsphilosophische Systeme haben den Versuch einer solchen umfassenden Abstraktion gemacht und sind zu dem noch heute vielfach gelehrten Ergebnis gelangt, daß das Wesen des Staates das einer Schutzanstalt sei: der Grenzschutz nach außen, der Rechtsschutz nach innen sei seine ratio fiendi et essendi. So sagt GROTIUS: »Der Staat ist eine vollkommene Verbindung freier Menschen, welche sich des Rechtsschutzes und des Nutzens wegen zusammengetan haben.« Und in der Tat hat die Anschauung einen richtigen Kern: aber sie ist nicht vollständig. Sie hat einen wichtigen, allen Staaten gemeinsamen Charakterzug übersehen: jeder Staat der Vergangenheit und Geschichte, dem dieser Name unbestritten zukommt, jeder Staat vor allem, der in seiner Entwicklung zu höheren Stufen der Macht, der Größe und des Rechtums weltgeschichtlich bedeutsam geworden ist, war oder ist ein Klassenstaat, d. h. eine Hierarchie von einander über-und untergeordneten Schichten oder Klassen mit verschiedenem Recht und verschiedenem Einkommen.

Unsere Erörterung wird zeigen, daß dieser Zug der wichtigste, der entscheidende, der primäre Charakter des Staates ist, aus dem allein seine Entstehung und sein Wesen erkannt werden kann; sie wird es nämlich klar machen, daß die Schutzfunktion des Staates nach innen und außen verstanden werden muß als sekundäre, von der Oberklasse im Interesse ihrer Herrschafts-und Einkunftsrechte übernommene Pflicht. Der Staat entsteht nicht im Interesse der Schutzfunktion, sondern es entsteht umgekehrt die Schutzfunktion im Interesse des schon bestehenden Staates.

Damit haben wir bereits die Erklärung für die auffällige Tatsache erhalten, daß die bisherigen Staatstheorien so sehr von einander verschieden sind. Sie sind sämtlich Klassentheorien! Eine solche aber ist nicht Ergebnis des forschenden Verstandes, sondern des begehrenden Willens; sie braucht Argumente nicht zur Ergründung der Wahrheit, sondern als Waffen im Kampfe um materielle Interessen; sie ist nicht Wissenschaft, sondern Mimicry der Wissenschaft. Und darum können wir wohl aus dem Verständnis des Staates das Wesen der Staatstheorien, aber nimmermehr aus dem Verständnis der Staatstheorien das Wesen des Staates erkennen.“[319]

Das Wesen des Staates, seine Entstehung und Ursprung stehen nun zu der Figur der von OPPENHEIMER beschriebenen »politischen« Ökonomie wie ein siamesischer Zwilling. Wie aber die Klassentheorien einen Nebel über das Wesen des Staates legen, so legt das gleiche Interesse einen Nebel über den Ursprung der wirtschaftenden Klassen. Als bestätigender Zwischenrufer sei hier ALFRED VIERKANDT angebracht:

„Es muß heute als sicher gelten, daß der Staat im engeren Sinne überall durch Eroberung und Gewalt entstanden ist. Auf friedlicherem Wege ist die Menschheit nie über die Idylle des demokratischen Gemeinwesens hinausgekommen, das höchstens ein paar tausend Seelen umfaßt, eine Staatsgewalt kaum kennt, die gesellschaftliche Ordnung vielmehr dem Druck der öffentlichen Meinung und der Selbsthilfe überläßt. Nur Gewalt und Eroberung haben an ihrer Stelle größere Gebilde, zugleich aber auch den Gegensatz von Eroberern und Unterworfenen innerhalb desselben Staates und Volkes geschaffen. [S. 159] In dem Gegensatz der Klassen wird gewissermaßen die Rücksichtslosigkeit des Eroberertums verewigt.“[320]

Der Staat beruht demnach auf keiner Verbindung ausschließlich freier Menschen, sondern umhüllt freie und unfreie Menschen eines Hoheitsgebietes. OPPENHEIMER:

„Im primitiven Eroberungsstaat besitzt eine kleine kriegsfrohe, enggeschlossene und -versippte Minderheit die Herrschaft über ein bestimmtes Gebiet und seine Bewohner. Sie ist Anwendung der Ursprungsnorm und der schon aus ihr entsprungenen sekundären Normen, eines durch Gewohnheit gewordenen Rechts, das die Vorrechte und Ansprüche der Herren und die Gehorsams-und Ehrenpflichten der Untertanen derart regelt, daß die Prästationsfähigkeit möglichst nicht leide. Also durch Gewohnheitsrecht festgelegtes »Imkertum«. Der Leistungspflicht der Bauern entspricht die Schutzpflicht der Herren, die sich auf verbotene Handlungen der eigenen Klassengenossen ebenso erstreckt wie auf Angriffe der äußeren Feinde.

Der Inhalt der Herrschaft ist außer den erwähnten, nicht sehr bedeutungsvollen Ehrenrechten der oberen und den entsprechenden Pflichten der unteren Klasse die Verteilung in jenem dreifachen Sinne. Von allem Anfang an wird das Eigentum -und hier gibt es in der Regel kein anderes als Grundeigentum mit seinem Zubehör an Menschen, Gebäuden, Vieh usw. -entweder ganz den Herrn vorbehalten, oder sie nehmen sich Großeigen, wo den Unteren nur Kleineigen gestattet ist. Die Arbeit in der gesellschaftlichen Kooperation wird derart verteilt, daß alle angenehme und leichte Arbeit (hier Jagd, Krieg, politische Tätigkeit im Rate, als Gesandte, als Beamte) den Herren vorbehalten bleibt, während alle schwere, lästige, schmutzige, gesundheitsschädliche Arbeit der Unterklasse zufällt. Und der Ertrag der gesellschaftlichen Kooperation wird derart verteilt, daß die Unterklasse womöglich auf die Dauer nur den Notanteil der Bienen, den ganzen Rest aber der Bienenvater erhält. Das aber heißt auf dieser Stufe: der Bauer, ob formell frei oder unfrei, Höriger oder Sklave, gibt einen Teil seiner Arbeit oder seines Arbeitserzeugnisses unentgolten hin, unter irgendeiner Rechtsform, sei sie das Eigentum des Sklavenbesitzers am Produkt seines Sklaven, sei sie die Rechtspflicht der Fronarbeit und die Abgabe, die der Hörige von seinem Grundstück zu zinsen hat, sei sie ein Pachtvertrag, den der landlose Landbedürftige mit einem der Herren des ganzen gesperrten Gebietes abzuschließen gezwungen war: unter dem Monopolverhältnis.“[321]

Der Staat und das Klassenmonopolverhältnis entstehen in einem Zuge. Sein erstes ökonomisches Monopol ist die Aufteilung des eroberten Bodens unter den Eroberern. Deswegen entsteht mit dem Staat auch die politische Ökonomie der Eroberer, in der Besitzrechte und Abgabepflichten so geregelt sind, daß die Untertanen dem Herren zur Hebung von dessen Lebenskomfort dienen.

„Der Staat entsteht im Zeitalter der Wanderung und Eroberung« (WILHELM WUNDT) im Gegensatz zu der genossenschaftlichen Gesellschaft der Frühzeit als »Politische Gesellschaft«, als Organisation der Bewirtschaftung des Menschen durch den Menschen, kraft des Rechtes des Schwertes und der Gewalt. Dieses Verfahren gilt damals nicht nur den Siegern, sondern auch den Unterworfenen als »Recht«: es traf die Besiegten kein Unrecht, sondern nach ihrem Gefühl nur ein »Unglück«, weil sie die Schwächeren waren. Es hat lange gedauert, bis im Altertum sogar die Sklaven selbst die Sklaverei als [S. 160] eine Verletzung des Sittengesetzes anzuschauen lernten! Und noch bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus haben die christlichen und meist aufrichtig frommen Sklavenhalter der nordamerikanischen Südstaaten die Sklaverei als eine unzweifelhaft gerechte und mit den göttlichen Geboten übereinstimmende Institution angesehen und mit der ehrlichsten sittlichsten Empörung gegen die als Rechtsbrecher gehaßten Abolitionisten verteidigt.

Wir müssen den allergrößten Wert auf die Feststellung legen, daß die Errichtung des Staates und der Klassenherrschaft und Ausbeutung in ihrem Ursprung durchaus »unschuldig« waren. Denn nur dadurch kann das alte Problem, ob der Mensch von Natur aus »gut« ist, wie die Stoa und die neuere Moralphilosophie seit SHAFTESBURY lehren oder »schlecht«, wie EPIKUR und das Christentum lehren, zur Entscheidung gebracht werden. Ist das letzere der Fall, dann kann nur eine starke Autorität, die ihr Amt unmittelbar aus göttlicher Verleihung ableitet, durch Zwang den »Consensus« herbeiführen und aufrechterhalten: eine Theokratie, wie sie PLATON in seiner Politeia konstruierte, und wie sie der Katholizismus zu verwirklichen trachtete. Ist aber das erste der Fall, so kann man die Gesellschaft ruhig der eigenen Entwicklung überlassen.

In dem durch Gewalt begründeten Staate leben nun die beiden Gruppen nebeneinander, und ein neues Wirbewußtsein bildet sich aus, aber nur innerhalb der Grenzen des durch die Verfassung und das in ihr rechtlich festgelegte Klassenverhältnis gespannten Rahmens. Mit anderen Worten: der Ausbeutung werden gewisse rechtliche und sittliche Schranken gesetzt, aber sie wird nicht an sich als Unrecht empfunden, und niemand denkt daran, sie abzuschaffen. Die Menschen der Unterklasse werden zwar nicht mehr ganz und gar als bloße Sachen angesehen, aber sie werden auch nicht als Vollpersonen anerkannt: sie sind minderen Rechtes und daher minderer Würde.

Das heißt: es gilt in jeder politischen Gesellschaft die Bewirtschaftung der Menschen der Unterklasse durch die Vollbürger der Oberklasse in den vom Gesetz und der geltenden Sitte gezogenen Grenzen als erlaubtes Mittel der Bedürfnisbefriedigung. Und darum ist das politische Mittel ein Inbegriff wirtschaftlicher Handlungen und als solcher der Gegenstand der theoretischen Ökonomik. Und zwar desjenigen Teiles dieser Wissenschaft, die wir als die »politische Ökonomik« von der »reinen« Ökonomik zu unterscheiden vorschlagen.“[322]

2.3.2.3. Die »Krankheit« der Gesellschaft

Was OPPENHEIMER wünscht, ist die Aufhebung der »Ausbeutung des Menschen durch den Menschen« und die Lösung der »sozialen Frage«. Seine Vorgehensweise bleibt die des Arztes: „hier ist ein kranker Organismus: wo steckt die »causa morbi« und die »sedes mali«, die Ursache und der Sitz des Übels?“ (↑ 120)

OPPENHEIMERs Vorstellung einer »Krankheit« der Gesellschaft muß in einem übertragenen Sinne als »Störung« von etwas verstanden werden, dessen unbeeinträchtigter Zustand als Norm im Raume steht. Doch auch dem Mediziner fällt es schwer, einen Begriff der »Gesundheit« zu definieren. Behelfsmäßig geht er deswegen über die doppelte Negation und faßt als »gesund« jenen auf, bei dem [S. 161] subjektiv empfundene und objektiv feststellbare Krankheitsbilder fehlen[323]. Ähnlich verfährt OPPENHEIMER, wenn er die »Gesundheit« einer Gesellschaft an dem Grad ihres verwirklichten »Consensus« bzw. dessen Störung mißt. Wenn ein Konsens vorliegt, gibt es wohl noch immer Personen, die um ihres Vorteils willen klagen werden, aber man wird die Klagen aufgrund einer subjektiv breit verankerten Gerechtigkeitsvorstellung zurückweisen können und unbeschadet dürfen, weil der Kläger im Grunde selber weiß, daß die Forderung der Vorteilnahme willen gestellt wurde.

OPPENHEIMER hat den Zustand eines erfüllten Konsens über die »subjektive Reziprozität« der Urteilenden definiert[324], wodurch er dem Streit um eine abstrakt niemals feststellbare »objektive Gerechtigkeit« ausweicht. Von diesem Standpunkt aus ist die »soziale Frage« in ihren verschiedenen Fassungen an näher bestimmte Erscheinungen geknüpft und Ausdruck einer »als nicht gegeben angenommenen subjektiven Reziprozität«, also eine Beschwerde über die »Nichtübereinstimmung von sozialer Idee und vorgefundener Wirklichkeit« (↑ 36). Die Reklamation wird dadurch »Krankheitsäußerung«; die empirischen Erscheinungen werden Symptom. Ob die Krankheitsursache erkannt wird oder die Krankheit heilbar bzw. hinzunehmen ist, steht auf einem anderen Blatt. Erst einmal kommen wir in den Gesellschaftswissenschaften angesichts tiefsitzender Vorbehalte gegenüber »Werturteilen« gar nicht umhin, uns das Recht auf normative Aussagen zu erstreiten.

Der »soziale Kesseldruck«, den OPPENHEIMER wissenschaftlich »sozialer Gradient« nannte (↑ 196), ist mit geeignetem Instrument quantifizierbar wie jede Situation gegeneinanderstrebender Kräfte. Einem gewissen Druck und Zug hält jede Materie und jedes Gemüt stand, das sind die Belastungs-und Toleranzwerte. Jenseits der Bruchgrenze kommen die Dinge dann allerdings explosionsartig in Bewegung und streben nach einem neuen/anderen Ruhezustand. Der geplatzte Kessel ist Ausdruck eines überlasteten Kessels in neuem Zustand.

Für die »Krankheit« der Gesellschaft steht nun folgendes:

„Mit der Einordnung von Ungenossen in die eigene Gruppe haben wir bereits die Grenze überschritten, die die Vorgeschichte von der Geschichte trennt. Die »politische Gesellschaft« oder der »Staat« im soziologischen Sinne sind entstanden, und damit sahen wir bereits eine neue Form der gesellschaftlichen Beziehung, eine Mischform, entstehen: den Wucher. Die Noxe ist in den bisher gesunden Körper der Gemeinschaft eingedrungen; wie - nach MAETERLINCK - Arbeitsbienen, die ein einziges Mal einen schlecht behüteten Stock der Nachbarschaft ausgeplündert haben, für immer zu Raubbienen geworden sind, die die friedliche Arbeit verschmähen, so sind hier Menschen durch die Gewohnheit der Ausbeutung von Ungenossen dazu gelangt, auch Genossen gegenüber die Gerechtigkeit zu verletzen. Und dieses Verhältnis nimmt auf viel höherer Stufe den Charakter der einzigen Art der Konkurrenz an, die, wie so viele andere, [S. 162] TOENNIES kennt: des feindlichen Wettkampfes, sei er durch eine Ordnung geregelt oder nicht. Das ist aber nur möglich, weil sich durch die Unterwerfung von Menschen durch Menschen und namentlich von Gruppe durch Gruppe eine ganz neue Art der Gesellschaft gebildet hat: die Klassengesellschaft. Zum ersten Male tritt das große Phänomen der Herrschaft in die Geschichte ein. Und fortan ist die Geschichte der Kampf zwischen ihr und der Genossenschaft oder, anders ausgedrückt, zwischen dem Wir-und dem IchBewußtsein.“[325]

In dieser Phase der Staatenentstehung haben die Akteure keinen Begriff einer »Schuld«, weil sie sich als Ungenossen gegenüberstehen und einander als Rechtspersonen nicht anerkennen. Es gibt somit keine moralische Alternative zu dem geschilderten Entwicklungsprozeß; der Sklave ist dem Hirtenkrieger mehr Tier als Mensch, eben »Wirtschaftsgut«. Und die Klage des Versklavten lautet zunächst nicht auf Unrecht, sondern auf Unglück.

Auf den ersten Schritt der unmittelbaren Gewaltanwendung folgt für die Herrenklasse als kleineres Mittel ihrer Bedürfnisbefriedigung die Errichtung einer auf Dauer gemeinten Ordnung. Aus Gewohnheiten werden »Rechte«, aus Gewalt wird Herrschaft. Zu diesem Zwecke wird der Unterworfene erstmals Rechtssubjekt, wenn auch in völlig unterlegener Position. Schutz nach außen und vor Übergriffen der Herrenklasse selber folgen, und es vermischen sich die Stände unter anderem, weil die Männer der Herrenklasse besitzergreifend gegenüber den besonders gesunden oder schönen Frauen der Unterklasse auftreten, während ansonsten strikte Klassengrenzen gelten. An dieser Stelle kommt jener Prozeß einer Bewußtwerdung in Gang, an dessen Ende der Anspruch auf Gleichheit der Menschenwürde und Aufhebung verzerrender Standesunterschiede steht. Erst durch die Vermischung von Herr und Unterworfenem, durch Einsetzen erster wechselseitiger Achtung als Mensch, durch Errichtung erster Genossenschaften zwischen zuvor Rechtsungleichen entsteht der Begriff eines »Unrechtes« oder einer »Schuld«, mit dem die Unterklasse nun die Herrschaft der Oberklasse und ihre Vorrechte angreift. Es folgen die Konflikte zwischen Konservatismus und Progression in dem Heilungsprozeß sowie die Umkrempelungen der Stände, von denen mal dieser, mal jener die Oberhand gewinnt und die im Staate und seiner Verfassung angelegten Herrschaftsinstrumente zum eigenen Vorteil ausnutzt.

„(...): der historische Staat ist eben nicht »Gemeinschaft«, nicht die Urform der Wir-Beziehung, sondern eine Mischform aus Gewalt und Recht, aus Wir-und Ich-Interesse, eine »Spottgeburt aus Dreck und Feuer«. HEGEL, wie nach ihm TOENNIES und SPANN und so viele andere, ist dem Irrtum zum Opfer gefallen, der den historischen Staat ohne fremde Einwirkung aus der Liebesgemeinschaft der Familie durch bloße Erweiterung hervorgehen läßt. Hier müssen wir wenigstens für uns terminologische Klarheit schaffen. Wir nennen »Staat« nicht das Sein-Sollende, sondern das Seiende, nicht das Ideal, sondern das historische Gebilde, jene Mischform, die, aus Gewalt entstanden, sich mit der Vernunft in Gestalt des Rechtes, der »Machtregelung«, vermählt hat. Wir nennen »Gesellschaft« die gegen den Druck der Herrschaft ankämpfende, handelnde Gemeinschaft, d. h. die Genossenschaft, aber unterscheiden auf das Klarste die noch vom Staate [S. 163] beherrschte, ihrer »Noxe« noch nicht ledige, seiende, kranke Gesellschaft, die Gesellschaft schlechthin im Sinne von STEIN und TOENNIES; -und die von der Vernunft geforderte, sein-sollende, gesunde Gesellschaft, QUESNAYs »ordre naturel«, DÜHRINGs »Normalität«, NELSONs »gesellschaftlichen Rechtszustand«, unsere »Freibürgerschaft«. Wo wir von Gesellschaft schlechthin sprechen, haben wir die Massenkräfte im Sinne, die vom Rahmen des Staates eingezwängt sind, sich in ihm entwickeln, und ihn in unendlichen Kämpfen umzuformen bestrebt sind. Wo wir aber diesen -logischen wie historischen -Gegensatz zum Staate nicht im Auge haben, werden wir von der »bürgerlichen Gesellschaft« oder der »Gesellschaft im Sinne von TOENNIES« hier -und von der reinen oder gesunden Gesellschaft oder der Gesellschaft im Sinne von TOENNIES' Gemeinschaft oder der Freibürgerschaft sprechen.“[326]

Fußnoten
[297]
„Der Feudaladel, ausserordentlich zahlreich und zum Teil sehr reich, wurde offiziell als der »erste Stand« betrachtet. Er lieferte die höchsten Regierungsbeamten und war fast ausschließlich im Besitz der Offiziersstellen in der Armee.“ Angabe von MAX QUARCK für die Zeit um 1850 in: ders., Die erste deutsche Arbeiterverbrüderung, Leipzig 1924, S. 7. Siehe auch ECKART KEHR: Zur Genesis der preußischen Bürokratie und des Rechtsstaates. Ein Beitrag zum Diktaturproblem. In: Hans-Ulrich Wehler (Hg.): Moderne deutsche Sozialgeschichte. Köln 1974, S. 37 -54 (original 1932).
[298]
Vgl. FRANZ OPPENHEIMER: Der Staat und die Sünde. In: Deutsche Zeitung für Spanien, Barcelona 1926, Heft 231, S. 1 -2, Heft 232, S. 1 -3, Heft 233, S. 1 -2.
[299]
Vgl. LUDWIG GUMPLOWICZ: Ausgewählte Werke, Bd. 1: Geschichte der Staatstheorien. Innsbruck 1926.
[300]
FRANZ OPPENHEIMER: System I, Soziologie, S. 367.
[301]
FRANZ OPPENHEIMER: System I, Soziologie, S. 362.
[302]
FRANZ OPPENHEIMER: System I, Soziologie, S. 365.
[303]
FRANZ OPPENHEIMER: System I, Soziologie, S. 373.
[304]
FRANZ OPPENHEIMER: System I, Soziologie, S. 374.
[305]
Vgl. FRANZ OPPENHEIMER: System I, Soziologie, S. 369.
[306]
MAX WEBER: Soziologische Grundbegriffe. Tübingen (1921) 1981, S.89 (§ 16).
[307]
FRANZ OPPENHEIMER: System I, Soziologie, S. 376.
[308]
Der Begriff steht bei OPPENHEIMER für die vom Individuum so gesehene subjektive Gerechtigkeit. „Wir treten bescheidentlich ins rein Theoretisch-Soziologische zurück, wenn wir fortan nicht mehr von objektiver Gerechtigkeit, sondern von der subjektiven Überzeugung der Gesellschaftsglieder sprechen werden, daß in ihren Wechselbeziehungen Gerechtigkeit bestehe oder nicht bestehe. Wir wollen diese Gerechtigkeit mit einem möglichst farblosen Ausdruck » Reziprozität« nennen.“ FRANZ OPPENHEIMER: System I, Soziologie, S. 396.
[309]
FRANZ OPPENHEIMER: System II, Der Staat, S. 322.
[310]
FRANZ OPPENHEIMER: System I, Soziologie, S. 377.
[311]
OTTO GIERKE: Das deutsche Genossenschaftsrecht. Bd. 1: Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft. Berlin 1868.
[312]
ROBERT HETTLAGE: Genossenschaftssoziologie. Ein verdrängter Ansatz wirtschaftssoziologischer Forschung. In: Zeitschrift für das gesamte Genossenschaftswesen, Bd. 31, 1981, S. 279 -295, hier S. 281. Abschrift ohne Fußnoten und weiterführende Quellenangaben.
[313]
ROBERT HETTLAGE: Genossenschaftssoziologie, a.a.O., S. 282.
[314]
Vgl. ALFRED WEBER: Der dritte oder der vierte Mensch. Vom Sinn des geschichtlichen Daseins. München 1963
[315]
Vgl. ASTRID LANGE-KIRCHHEIM: Franz Kafka »In der Strafkolonie« und Alfred Weber »Der Beamte«. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift, N.F. 27, 1977, S. 202 -221. ASTRID LANGE-KIRCHHEIM: Alfred Weber und Franz Kafka. In: Eberhard Demm (Hg.), Alfred Weber als Politiker und Gelehrter, Stuttgart 1986, S. 113 -149. VOLKER KRUSE: Soziologie und »Gegenwartskrise«. Die Zeitdiagnosen Franz Oppenheimers und Alfred Webers. Wiesbaden 1990, speziell S. 374 f.
[316]
FRANZ OPPENHEIMER: Lebenserinnerungen, S. 106.
[317]
Vgl. und Zitat GERHARD DILCHER: Die genossenschaftlische Struktur von Gilden und Zünften. In: Berent Schwineköper (Hg.), Gilden und Zünfte, Sigmaringen 1985, S. 71 - 111, hier S. 74.
[318]
FRANZ OPPENHEIMER: Der Staat. Eine soziologische Studie. 1. Aufl. 1908, Neuauflage Berlin 1990. Es war nach OPPENHEIMERs Kenntnis bis 1928 in englisch, französisch, serbisch, ungarisch, japanisch, russisch, hebräisch und yiddisch erschienen, wobei es unautorisierte Übersetzungen gab, von denen OPPENHEIMER mehr zufällig erfahren hat.
[319]
FRANZ OPPENHEIMER: Der Staat. Eine soziologische Studie. Berlin 1990, S. 11 -13.
[320]
ALFRED VIERKANDT: Machtverhältnis und Machtmoral, Berlin 1916, S. 5.
[321]
FRANZ OPPENHEIMER: System II, Der Staat, S. 325.
[322]
FRANZ OPPENHEIMER: System III, Theorie, S. 198.
[323]
Vgl. FRANZ OPPENHEIMER: Wissen und Werten. In: derselbe, Wege zur Gemeinschaft, München 1924, S. 1 -9. Ebenso: FRANZ OPPENHEIMER: Praktische Ökonomik und Volkswirtschaftspolitik. In: Annalen der Naturphilosophie, 1913, S. 307 -351.
[324]
FRANZ OPPENHEIMER: System I, Soziologie, S. 396. Siehe auch Fußnote 308 auf Seite 154 dieser Arbeit.
[325]
FRANZ OPPENHEIMER: System I, Soziologie, S. 366.
[326]
FRANZ OPPENHEIMER: System I, Soziologie, S. 393.