4.3. Franz Oppenheimers Zukunftsvision der Freibürgerschaft

Seiner »Theorie der Herrschaft« stellt HONDRICH einen Vers BERTOLT BRECHTs voran:

»Ach, wir hatten viele Herren,
Hatten Tiger und Hyänen,
Hatten Adler, hatten Schweine.
Doch wir nährten den und jenen.
Ob sie besser waren oder schlimmer:
Ach, der Stiefel glich dem Stiefel immer.
Und uns trat er. Ihr versteht, ich meine,
Daß wir keine andern Herren brauchen,
sondern keine!«[692]

Was die Demokratie benötigt, ist kein wie auch immer legitimierter Herrschaftsapparat, sondern eine verfeinerte Technik der Bürgerorganisation. Von diesem Ideal eines funktionierenden Gemeinwesens der Bürger, die auf entsprechenden Versammlungen die Richtlinien der Politik ihres unmittelbaren Handlungsbereiches diskutieren und für übergeordnete Zusammenhänge sachbezogen Delegierte bestimmen, die aber auch als Bürger in ihrer beruflichen Praxis soweit gebildet wurden und gewohnt sind initiativ zu werden, daß man es allgemein vorzieht, die notwendigen Projekte in eigener Regie umzusetzen, als sich von Dritten verwalten oder bedienen zu lassen, sind wir heute noch ein gutes Stück weit entfernt.

Dennoch: Was OPPENHEIMER unter dem Begriff der »Freibürgerschaft« einer möglichen Zukunftsgesellschaft ausgemalt hat, das könnte den Zustand am Ende eines langen Entwicklungsprozesses beschreiben, eines Prozesses vieler »Häutungen« gesellschaftlicher Ordnungen, -von der ursprünglichen Gewalt des »Siegerrechtes« im Raubstaat -über die durch erste Regelungen zur dauerhaften Bewirtschaftung einer Unterklasse durch eine Oberklasse angelegten Rechtsvorstellungen im Klassenstaat

-über den Einzug ethisch fundierter und die Gesamtheit eines Volkes gleichermaßen umfassender Gerechtigkeitsvorstellungen im modernen Verfassungsstaat

-bis hin zu jener Ordnung, die man nur vage erahnen kann, wenn man den gesellschaftlichen Prozeß der Demokratisierung und wirtschaftlichen Emanzipation gedanklich fortschreibt[693].

Man weiß über diese »mögliche Zukunft« so wenig, wie man einst über die konkreten Auswirkungen der Aufhebung des Drei-Klassen-Wahlrechtes wußte. [S. 363]

Und dennoch finden solche Entwicklungen mit gewisser Zwangsläufigkeit statt und beruhen auf einer sozialen Gesetzmäßigkeit, die da lauten könnte: Eine Gesellschaft mit verletztem Konsens ist eine innerlich angespannte, mit sich selbst beschäftigte, in Sachfragen durch Klasseninteressen überlagerte, suboptimal handelnde und deswegen letztlich an ihren inneren Widersprüchen leidende Gesellschaft. Mit jedem Schritt nach vorne im Sinne einer (Auf)Lösung der inneren Gegensätze (nicht der Vielfalt!) nähert sich der Gesellschaftsverband einem Zustand höherer Leistungsfähigkeit, Wohlstand, Akzeptanz und Einsatzfreude seiner Bürger für das Gemeinwesen.

Vergleicht man die OPPENHEIMERsche Sicht der Zukunft mit den üblichen Weltuntergangsszenarien der christlichen Religionen, der Konfliktforscher, der Ökologen, der Arbeitsmarkttheoretiker, der Migrationsforscher, der Bevölkerungsstatistiker und anderer Prognostiker, dann hebt sie sich durch einen erfrischenden, wenngleich auch nicht weniger streng begründeten Optimismus von den dunklen Szenerien der »Mitbewerber« ab. Zumindest drängt sich mir der Eindruck auf, als schrieben die ins Negative tendierenden Prognosen vor allem die historisch real gegebene Situation des (Existenz)Kampfes von Mensch gegen Mensch fort, bei dem die Unterdrückung, Ausbeutung und instrumentellen Lügen samt der sie begleitenden analytischen Verstandesirrtümer weiter die Oberhand führten und das Menschheitsschiffchen deswegen unentwegt in Chaos und Stürme getrieben wird, bis es schließlich zerbricht. OPPENHEIMER hält dem die Überzeugung entgegen, daß für die Menschheit ein Weg aus der Gewalttätigkeit, der Ungerechtigkeit und den Falschheiten im öffentlichen Leben herausführt, wenn es gelingt, die heilende und wertschaffende Kraft der Arbeit in ihrer höchsten, freiheitlichen und von aller Ausbeutung freien Form zu entfalten. Die Arbeit (oder Dienstleistung) und nicht der (politische) (Verteilungs)Kampf ist der Schlüssel zum Wohlstand; die Freiheit des Ökonomischen von dem politischen Mittel, also die Kultivierung des Ökonomischen und nicht die Kultivierung des Politischen, ist der Schlüssel zum Ausgleich der Einkommen und Klassen-oder Standesgegensätze.

Selbstbestimmung und Selbstverantwortung sind die beiden Seiten der Emanzipation, einmal ausgedrückt in der Maßzahl hinzugewonnener Freiheit und einmal ausgedrückt in der Maßzahl aufgegebener Leichtigkeit. Der befreite Mensch wird es schwerer haben in seinem Leben, weil er mehr begreifen muß, mehr durchdenken muß, mehr an Unsicherheit aushalten muß, für Fehleinschätzungen stärker selber gestraft wird etc. Deswegen rufen alle, die es heute noch nicht gelernt haben, die Bürden der Freiheit selber zu tragen, nach einem Herrn, einem Gesetz, dem Staat oder einer Verwaltung, die für sie denken und regeln möge, was aus der Unfähigkeit zur Eigenständigkeit heraus angst macht. Aber, und das sei hier als Herausforderung und Zielvorgabe für den kulturell einzuschlagenden Weg formuliert, je weitergehend zukünftige Generationen auf ihrem Bildungsweg lernen, diese Lasten zu tragen, desto leichter werden ihnen die Lasten scheinen und wird die Fähigkeit zur selbstverantworteten Selbstbestimmung wachsen. Das heißt nicht, daß die Gesellschaft der Zukunft ohne Kooperationen und ohne einen Gesellschaftsvertrag auskommen würde. Es heißt aber, daß die Kooperationen auf der [S. 364] wertmäßigen Grundlage emanzipierter Persönlichkeiten aufbauen, von denen es keiner mehr nötig hat, sich dem anderen zu unterwerfen und auch niemand mehr auf die Idee käme, in dem anderen etwas anderes als einen Partner zur Bewältigung gemeinsamer Herausforderungen zu sehen.

Die in einem solchen Geiste geordneten Verhältnisse des arbeitenden Menschen werden natürlich zurückwirken bis hinein in die Familien. Wenn heute noch das Herr-Untertan-Verhältnis der ökonomischen Sphäre als Muster hineinwirkt bis in die Geschlechterbeziehung und auch die Heranwachsenden zuweilen auf die unterste Stufe einer herrschaftlichen Hierarchie stellt, so wird die genossenschaftliche Ordnung der ökonomischen Beziehungen positiv zurückwirken auf alles Private. Der Mensch, dem die Würde des anderen ein viel selbstverständlicher zu schützendes Gut sein wird, dürfte dann aus der Übertragung zwischenmenschlicher Gerechtigkeit heraus nach gesellschaftlichen Rechtsnormen verlangen, die der erreichten Würde im Privaten entsprechen. Was so als Rechtsnorm mit innewohnender Gerechtigkeitsvorstellung erst einmal postuliert ist, wird an den Grenzen zwischen den Völkern nicht haltmachen, sondern deren Umgang miteinander prägen, zumal durch die Befriedung der politischen Verhältnisse im Inneren und den Fortfall der Sonderinteressen einer herrschenden Klasse die Anlässe fortfallen, die früher die Herrschenden ihre Völker in kriegerische Auseinandersetzungen treiben ließen.

Wenn in der vorliegenden Arbeit auch schon die meisten Zukunftserwartungen OPPENHEIMERs vorgetragen wurden, so scheint es mir dennoch berechtigt, das Bild des »Anderen« und »Besseren« abschließend noch einmal in verdichteter Form darzustellen. Eine solche Zusammenfassung kann natürlich nicht ersetzen, was dem Leser des utopischen Romans oder des Kapitels über die »klassenlose Gesellschaft« im System der Soziologie[694] an zusammenhängendem Eindruck vermittelt würde. Aber es vermag doch die Linie anzugeben, die OPPENHEIMER zutreffend vor über 60 Jahren zeichnete, auf der sich unsere Gesellschaft und die Völker als solche tatsächlich entwickelt haben und auf der sie sich mit einer erheblichen Wahrscheinlichkeit weiter entwickeln werden, wenn denn die Führer der politischen Systeme nicht, völlig blind und ratlos geworden, das emanzipatorische Projekt der Menschheit vorher ihrem Zweifel opfern. Der tiefgründige Ausspruch MARK TWAINs: »Und als sie ihr Ziel aus den Augen verloren, da verdoppelten sie ihre Anstrengungen«, kann sich jederzeit zum Schaden der Völker bewahrheiten. Und gerade darum, weil heute wieder allseitig die »fehlenden politischen Visionen« beklagt werden, mag man den von OPPENHEIMER eingebrachten Diskussionsbeitrag zur Kenntnis nehmen wollen und seine, auf Freiheit und Gerechtigkeit bauende, von theoretischer Substanz untermauerte Vision zum machbaren Sollzustand erklären, auf den hin sich die Gesellschaft mit jeder bewußten Entscheidung in ihren dezentralen Entscheidungszentren kulturell geeint zubewegen könnte. [S. 365]

4.3.1. Die Organisation der Staaten

„Die Tendenz[695] der Entwicklung des Staates führt unverkennbar dazu, ihn seinem Wesen nach aufzuheben: er wird aufhören, das »entfaltete politische Mittel« zu sein und wird »Freibürgerschaft« werden. Das heißt: die äußere Form wird im wesentlichen die vom Verfassungsstaate ausgebildete bleiben, die Verwaltung durch ein Beamtentum: aber der Inhalt des bisherigen Staatslebens wird verschwunden sein; die wirtschaftliche Ausbeutung einer Klasse durch die andere. Und da es somit weder Klassen noch Klasseninteressen mehr geben wird, wird die Bureaukratie des Staates der Zukunft jenes Ideal des unparteiischen Wahrers des Gemeininteresses wirklich erreicht haben, dem die heutige sich mühsam anzunähern versucht. Der »Staat« der Zukunft wird die durch Selbstverwaltung geleitete »Gesellschaft« sein.“[696]

An der Stelle des alten Staates „steht jetzt die föderalistische Gesellschaft auf dem Plan; das heißt: ein Gemeinwesen, das allen örtlichen und beruflichen Gruppen grundsätzlich soviel Freiheit läßt, wie mit dem Wohl der Gesamtheit irgend verträglich ist. Zentralisiert sind wahrscheinlich noch die großen Verkehrsunternehmungen, weil sonst leicht Privatmonopole entstehen könnten, zentralisiert sind selbstverständlich Recht und Gerichtswesen, weil im ganzen Kreise gleiches Recht und gleiche Rechtspraxis herrschen müssen, zentralisiert ist, solange es noch nötig ist, das Wehrwesen und ein Teil der Polizeimacht usw. Aber im übrigen begnügt sich der »Staat« damit, seinen Untergliedern gewisse Mindestleistungen vorzuschreiben und behält sich die Aufsicht darüber vor, läßt ihnen aber in diesem Rahmen völlig freie Hand und hat nicht im mindesten etwas dagegen einzuwenden, wenn sie aus eigenen Steuermitteln in Schule und Straßenwesen, in Bauten und Kunstpflege usw. die Minima beliebig überschreiten; er stachelt diesen Wettbewerb der Kollektivitäten um die höchste Ehre innerhalb der ganzen Gemeinschaft im Gegenteil nach Kräften an.“[697]

Die Zentralisierung durch den absoluten Staat war nach OPPENHEIMER einst eine unvermeidliche Notwendigkeit, weil das durch die Ausschreitungen des politischen Mittels geschaffene Chaos gar nicht anders hätte geschlichtet werden können als durch die Schaffung eines »Staatsuntertan« nach einheitlichem Recht. „Es war ein Stück des Weges zur Gerechtigkeit, das hier gegangen wurde: denn Gerechtigkeit ist Gleichheit, und der absolute Staat hat wenigstens die Gleichheit der Untertanenschaft hergestellt.“[698] Dennoch war dieser »Gipsverband«, unter dem „die vollkommen zerbrochenen Knochen der Gemeinschaft wieder zusammenheilen [S. 366] konnten“, ein Übel, denn die Zentralisierung „diente zuletzt doch immer der Herrschaft und der Ausbeutung und der Niederpflügung allen Eigenwuchses“[699].

In seinem utopischen Roman läßt OPPENHEIMER seine Figur im Jahre 2032 dem fragenden Zeitreisenden aus der Vergangenheit erklären:

„»Allüberall das gleiche Possenspiel! Erobernde Gewalt schafft den Staat, die Eroberer werden zum Adel, die unterjochten Bauern und auf höherer Stufe auch die Städter haben zu zinsen, zu fronden und zu bluten. Dann schlagen sich die Prinzen um die Krone, in diesen Kämpfen verkommt der alte Adel, und ein neuer Adel schwingt sich empor, fast sämtlich Unfreie, Hofdiener und Gardisten, vielfach die übelsten Emporkömmlinge. Sie drücken die freien Bauern in Knechtschaft, sperren das Land, und stürzen ihren Staat in hoffnungslose Anarchie. Die Wildvölker überschwemmen die Länder, bis endlich der mächtigste der Magnaten eine neue Ordnung schafft. So entsteht der absolute, der zentralisierte Staat als Retter, der aber dann die letzten Reste der alten gewachsenen Ordnung der Gemeinschaft zerstört.«
»Wie war es denn vorher?«
»Man könnte es allenfalls Föderalismus nennen. Selbstverwaltung in Dorf, Gau und Stadt, in Zunft und Gilde. Der Staat kümmert sich nur um die Steuern. Im übrigen läßt er seine Untertanen leben, wie sie es gewöhnt sind; fast jeder Gau hat sein eigenes Recht, seine alte Sitte und Tradition in Tracht, Hausbau und Geräten, oft genug seine eigene Sprache. Aber der zentralisierte Staat zerschlägt das alles. Er kann eben nur den 'Untertanen' gebrauchen, den normalisierten Menschen, und reguliert alles von oben her, mit einer Bürokratie, die zuletzt das Volk auffrißt, bis die bürgerlichen Revolutionen eine Zeitlang wieder eine neue Ordnung schaffen, indem sie den Menschen befreien. (...) Damit war der Klassenstaat überwunden. Aber es blieb noch die Zentralisierung zu beseitigen. (...) Erst seitdem ist eine vernünftige Regierung überhaupt möglich geworden.«
»Was verstehst du darunter?«
»Nun, sehr einfach. Demokratie unter sehr starker Führerschaft.«
»Das galt meiner Zeit als unvereinbar.«
»War's aber nicht. Kennst du HEGEL? Auf höherem Niveau versöhnen sich die Gegensätze in der Synthese. Wir haben die Synthese von Liberalismus und Sozialismus, die ihr auch für unvereinbar hieltet, auf dem Gebiet der Wirtschaft, und die Synthese von Demokratie und Führerschaft auf dem der Politik verwirklicht.«
»Warum ist das früher unmöglich gewesen?«
»Weil eure Staaten zentralisiert waren. Da bedeutet Demokratie notwendigerweise auch den zentralen Parlamentarismus, und der war ein neues Übel. Wer kam hinein? Die Redner: Rechtsanwälte und Journalisten, Syndizi der großen Kapitalmagnaten, Priester, Männer mit geläufiger Zunge. Wer aber gehörte hinein? Die Schaffer, die Sachverständigen, die Organisatoren, aber die haben nicht die Zeit zu vielen Reden, und meistens keine Neigung dazu. Haben Besseres zu tun. Nur im kleineren Kreise ist Demokratie möglich. Sogar ROUSSEAU hat immer nur an Kantone wie sein heimatliches Genf gedacht, aber nicht an Großstaaten oder gar an den Weltstaat. Im kleinen Kreise kennt man sich, und da kommen ohne weiteres die Schaffer an die Spitze.“[700]

[S. 367] Für den zentralen Parlamentarismus und das heutige Parteienwesen prognostiziert OPPENHEIMER auch an anderer Stelle einen radikalen Wandel. Echte Parteien werde es in einer Zukunftsgesellschaft nicht mehr geben, „wo die Klassen verschwunden sind: »denn eine völlig homogene Gesellschaft wäre nicht mehr imstande, dauernde Parteigegensätze in sich zu bergen«. Wohl aber wird es, hoffentlich, unechte Parteien, Parteiungen und Fraktionen genug geben, in denen der Ehrgeiz strebt, sich an die höchste sichtbare Spitze durchzuringen, zur Führerschaft im kleineren oder größeren Kreise: vom Vorstand des Vergnügungsvereins über den Stadtverordnetenvorsteher der Kleinstadt bis zum Präsidenten der nationalen Republik, des Völkerbundes und vielleicht des planetarischen Bundes. Davon sofort! Zunächst die Feststellung, daß aller solcher Aufstieg nicht mehr wie heute durch die Begabung des Agitators zur rednerischen Faszination[701] der Masse und zur Skrupellosigkeit der Versprechungen, sondern lediglich durch wirkliche Leistungen [S. 368] im Interesse der kleineren oder größeren Gruppe möglich ist, in der er aufsteigen will. (...)
Dem bloßen Redner, dem Agitator mit dem schwülen Kopf und dem kalten Herzen, fehlt hier der Resonanzboden, den nur die Klassenscheidung bieten kann. (...) Hier handelt es sich nicht mehr darum, den Gegner für das bekannte Gemisch von Schurke und Trottel zu erklären und selber die unmöglichsten Versprechungen zu machen, sondern hier handelt es sich um praktische Leistungen: um Straßen, Häfen und Eisenbahnen, öffentliche Bauten, Verwendung der Steuermittel, da es hier nicht mehr darum geht, die Lasten auf die Schultern der einen zu legen, um die anderen zu bereichern. Hier sind alle Interessen gleich, und somit ist das Ziel für alle dasselbe: es kann sich nur darum handeln, welches der Zwischenziele zunächst, und wie es am besten erreicht werden kann. Und darüber entscheidet nicht mehr »Rednergebärde und Sprechergewicht«, sondern Sachverstand und ehrliche Arbeit. (...): wo es sich nicht um hohe Politik, sondern um praktische Aufgaben handelt, da kommen »the brains to the top« wie in den genossenschaftlichen Kolonien nach NORDHOFF überall.
Und es handelt sich nirgends mehr um hohe Politik. Das wollen wir zunächst für die Innenpolitik darlegen. Es gibt keine Klassengegensätze mehr, die auszugleichen und im Notfall niederzuhalten sind; es gibt keine partikulären Klasseninteressen mehr, die miteinander in dem widerlichen Schacher des heutigen Parlamentbetriebes kompromittieren. Und mehr:
Es gibt keinen zentralisierten Staat mehr!
Der zentralisierte Staat von heute, der sich in alles mischt, der alles regiert und reguliert, der dem Bürger kaum in seinen privatesten Verhältnissen etwas freien Raum läßt, ist geradeso expropriiert, von innen her ausgehöhlt und entkräftet, wie der Kapitalismus, dessen Gehäuse er war.“[702]

Die Möglichkeit einer funktionierenden Demokratie ist nach OPPENHEIMER gebunden an die Umwandlung des Zentralstaates in ein föderales System. In diesem stehen ganz unten die überschaubaren Einheiten der Gemeinden, Stadtteile oder Genossenschaften, in denen die Menschen zuallererst mit eigenen Mitteln in Übereinstimmung mit den übergeordneten Rechtsvorschriften den Teil ihrer Angelegenheiten besorgen, der ausschließlich sie selber betrifft. Hier bereits soll gelten, daß bei dem Einsatz der erhobenen Steuermittel nicht Luzern für Bern bezahlt und beide zusammen für Genf, sondern ein jeder Kanton und in diesem wieder jede Untereinheit zuallererst einmal für sich selber sorgt. Davon mag man in Katastrophenfällen aus Gründen der Solidarität und Mitmenschlichkeit abweichen, aber nichts fördert nach OPPENHEIMER so sehr die Sparsamkeit einer öffentlichen Verwaltung als die Verbindung von Leistungsentrichter und Leistungsbezieher auf einem Gebiet. Wenn in den zur demokratischen Regelung geeigneten Verbänden ein bestimmtes Budget zu Verfügung steht, das es optimal zu verwenden gilt, dann wird man damit sorgsamer umgehen und der Verwaltung andere Aufträge erteilen, als wenn ein anonymer zentraler Geldtopf mit einer fernstehenden zentralen Verwaltung [S. 369] in jedem Fall bedrängt und belagert werden muß und am Schluß jeder für die Dinge soviel erhält, wie man dem entfremdeten Verteilungsmechanismus eben abzuschwatzen geschafft hat.

Von den dezentralen demokratischen Gemeinwesen ausgehend sollen dann jeweils qualifizierte Personen in die übergeordneten Verbände hineingewählt werden, damit man dort etwa auf Kreis-, Stadt-oder Kantonsebene die Dinge besorge, die alle untergeordneten Einheiten gemeinsam angeht, aber nicht das gesamte Land. Auf dieser Ebene solle auch die Landesverteidigung organisiert werden, so daß keine zentrale Regierung mehr über Truppen verfüge, die sie aus zentralistischem Interesse gegen ihre Landesteile oder Nachbarn einsetzen könne, sondern angewiesen ist auf die Entsendung von Truppen aus den Landesteilen, die dem Ruf nur folgen werden, wenn ein echter Verteidigungsfall vorliegt[703].

Eine so von unten her aufgebaute Ordnung wird alles andere als anarchistisch oder führungslos sein. Es wird weiterhin Ordnung geben, wenn auch mit einem anderen Zuschnitt der politischen Gebiete, anderen Zuständigkeiten der Gewählten und anderen Auswahlverfahren als im zentralistischen Parlamentarismus üblich sind. Zwei weitere Textstellen mögen dies abschließend veranschaulichen. In der ersten zitiert OPPENHEIMER CONSTANTIN FRANTZ:

„»Soll in einem Staat politische Freiheit bestehen, so muß das Volk sich selbst regieren. Die Teilnahme an der Gesetzgebung folgt dann ganz von selbst, während nicht umgekehrt aus dem Letzteren auch das Erstere folgt« (S. 247). »Mag die Zentralgewalt im Kabinett eines absoluten Monarchen oder in einer konstitutionellen Kammer oder in einem souveränen Konvente ruhen, das ändert sehr wenig an der Sache. Immer bleibt die politische Freiheit haltungslos und kaum mehr als ein frommer Wunsch, solange die Gemeinden, Kreise und Provinzen nicht auf eigenen Füßen stehen. Ist dies nicht der Fall, so muß man sie auf eigene Füße zu stellen suchen, und nur insoweit das gelingt, wird politische Freiheit Wurzeln schlagen« (S. 214).
»Weil also die Repräsentation sich gar nicht an die wirkliche Gliederung des Staates und der Gesellschaft anschließt, sondern vielmehr selbst desorganisierend wirkt, indem die Wahlversammlungen die verschiedensten Elemente zusammenwerfen, und die Wahlkreise die bestehenden Korporationen sehr häufig durchschneiden, so müssen sich wohl Parteien organisieren, um irgendeinen Halt zu gewinnen« (S. 316). Was aber kommt dabei heraus? »Aussicht, gewählt zu werden, haben dabei im Durchschnitt nur solche Kandidaten, die selbst Durchschnittsmenschen sind, für die am leichtesten die [S. 370] erforderliche Stimmenmehrheit zu gewinnen ist, weil jedenfalls nichts Auffallendes an ihnen hervortritt, was diesen oder jenen Wähler abstoßen könnte. Die Mittelmäßigkeit ist privilegiert. Dazu der unvermeidliche Humbug, weil die große Masse der fast immer kenntnislosen Wähler, deren Stimmen gleichwohl entscheiden, durch Agitationsmittel und Wahlmanöver gewonnen sein will, worauf sich in der Regel oberflächliche Menschen am besten verstehen, gediegene Charaktere aber und gründliche Köpfe sich kaum einlassen mögen« (S. 326). »Wie ganz anders wäre es, wenn die Deputierten nicht bloße Wählerhaufen verträten, sondern die Provinzen, die Kreise oder wenigstens die Gemeinden, überhaupt Korporationen, und darum ihren Deputierten zum wirklichen Rückhalt dienten« (308).“[704]

Die Genossenschaft „braucht, um zu handeln, in der Regel eine Leitung, ROUSSEAUs »prince« (ein Wort, das durchaus nicht immer eine Einzelperson bezeichnen soll): einen »Herzog« im Kriege, eine Regierung und Richter im Frieden. Die Leitenden haben dem Sinn der Genossenschaft zufolge nur den Willen des Souveräns auszuführen und besitzen nur in den ihnen gesteckten Grenzen selbständige Verfügung; sie sind jederzeit abrufbar und für Überschreitungen ihrer Amtsbefugnisse verantwortlich. Das ist dasjenige, was wir im Gegensatz zur herrschaftlichen die genossenschaftliche Führerschaft, oder im folgenden kurz: Führerschaft schlechthin nennen wollen.

Diese Führerschaft hat sogar der wildeste aller Anarchisten, BAKUNIN, als notwendig anerkannt: »Ich anerkenne, daß eine gewisse, nicht automatische, aber freiwillige und durchdachte Disziplin, die vollständig im Einklang steht mit der Freiheit der Individuen, immer notwendig ist und bleiben wird, und zwar jedesmal dann, wenn viele freiwillig vereinigte Individuen eine gemeinsame Aktion ausüben wollen. Diese Disziplin ist dann nichts anderes als die freiwillige und durchdachte Übereinstimmung aller individuellen Anstrengungen zur Erreichung eines gemeinsamen Ziels ... . Inmitten der Aktion scheiden sich natürlich die Rollen ... die einen leiten und befehlen, die anderen führen die Befehle aus. Aber keine Funktion erstarrt, fixiert sich und bleibt unwiderruflich einer Person übertragen ... . Keiner erhebt sich über den anderen, oder wenn er sich erhebt, so geschieht es nur, um, wie die Wellen des Meeres, einen Augenblick später zurückzufallen ... . In diesem System gibt es eigentlich keine Macht. Die Macht liegt in der Gemeinschaftlichkeit und wird der wahre Ausdruck der Freiheit eines jeden ... . Jeder gehorcht nur, weil der Führer ihm nur das befiehlt, was er selbst will«[705]. Und an anderer Stelle: »Wenn ich mich vor der Autorität von Spezialisten beuge, ... tue ich das, weil diese Autorität mir von niemanden aufgezwungen ist, nicht von Menschen und nicht von Gott«[706].“[707] [S. 371]

4.3.2. Die Organisation der Wirtschaft

Damit in einer Marktwirtschaft Kapitalismus herrschen kann, bedarf es nach OPPENHEIMER des »freien« Arbeiters im doppelten Sinne: »frei« bzw. »ledig« von jeglicher Verfügung über die zur Produktion notwendigen Mittel, die in den Händen einer »besitzenden« bzw. darüber im eigenen Interesse verfügenden Klasse konzentriert sein müssen, und zweitens eines Überhangs der so zur Abhängigkeit verurteilten Klasse, die durch den ihr innewohnenden Angebotszwang bei Strafe ihres Unterganges gezwungen ist, sich der Bewirtschaftung durch die ökonomisch stärkere Klasse zu unterwerfen. Wenngleich es auch noch andere Möglichkeiten der Ausbeutung von Abhängigkeiten gibt, so liegt doch die stärkste Fessel für eine ökonomisch unterlegene Klasse in der Unmöglichkeit, durch Einsatz ihrer Arbeit die Mittel zu erwerben, die notwendig wären, um sich aus all den möglichen Formen der ausbeutbaren Abhängigkeit zu lösen.

Wenn OPPENHEIMER auch bis zu diesem Punkt der Beschreibung kapitalistischer Wesenheit mit MARX übereinstimmt, so kann es seiner Ansicht nach doch zu keinem Erfolg führen, wenn die politische Herrschaft auf dem Sektor der Wirtschaft durch eine noch verschärfte Form der Herrschaft politischer Apparate oder Parteien ersetzt wird. Wo Macht sich konzentriert, da wird sie auch mißbraucht. Und kein noch so sehr von seiner eigenen edlen Gesinnung überzeugter Kommunist hat es vermocht, in einem politischen System, das von vornherein auf die Konzentration von Macht angelegt war, die Freiheit, Individualität, Gerechtigkeit und Würde des Menschen zu beschützen, auf die hin der ganze Versuch angelegt war. OPPENHEI-MERs Kritik annehmen hinsichtlich der »sozialen Unmöglichkeit« des Kapitalismus heißt deswegen in keinster Weise, mit den von MARX inspirierten Kritikern des Kapitalismus bei der gezeichneten Alternative übereinzustimmen, sondern bedeutet in scharfem Gegensatz dazu, der Freiheit des Einzelnen in einem umfassenderen Sinne zum Durchbruch zu verhelfen und der zur Ausbeutung und Mißbrauch führenden Konzentration von Macht mit emanzipatorischen Zielsetzungen entgegenzutreten. Das, was eine freiheitliche und kulturell hochstehende Wirtschaftsorganisation zu leisten vermag, gilt es mit OPPENHEIMER zu entwickeln. Erst wenn jeder Erwerbsfähige grundsätzlich jederzeit eine auf sich gestellte, selbständige Tätigkeit aufnehmen könnte und der Verzicht darauf auf einem freien Entschluß beruht, zu dem keine Not ihn zwingt, ist ein Zustand der gesellschaftlichen Entwicklung erreicht, bei dem wirklich jeder Mensch seine Würde hinreichend verteidigen kann und »frei« ist im Sinne des alten Liberalismus[708]. Eine auf Fähigkeiten, Mitteln und Möglichkeiten beruhende Freiheit ist eine auf Unabhängigkeit und Leistungsbereitschaft beruhende Freiheit, die der Einzelne sich jederzeit erkämpfen und verteidigen kann. Sie wurzelt als Freiheit in dem entwickelten Individuum und ist keine Freizügigkeit in dem Sinne, wie sie die herrschenden [S. 372] Klassen stets bei ihrem Ausbeutungsbegehren gegen ihre Ausbeutungsobjekte in Anschlag bringen. Aber mögen sie ruhig weiter dafür einstehen, Preise und Vertragsbedingungen zu eigenem Gunsten mit welchen Mitteln auch immer verbessern zu dürfen: Wo es keine Not mehr gibt, sich diesem Ansinnen zu beugen, wird es objektiv keine Chance mehr geben, es durchzusetzen. Wenn also jemals die Freiheit erreicht sein wird, die ein jedes Gesellschaftsmitglied sich durch eigene Befähigung zum Handeln erworben hat, dann wird die heute noch anzutreffende unterschiedliche Deutung des Begriffes »Freiheit« -je nach der Klassenlage und dem Interesse des Sprechers -verschwinden und als »frei« nur noch gelten, wer vor keinem Zwang mehr sich zu beugen genötigt ist und mittels seiner Arbeit auch seine Freiheit sich jederzeit erhalten kann.

Freiheit und Demokratie werden bei OPPENHEIMER von der Emanzipation des wirtschaftenden Menschen ausgehend entwickelt. Daß der Mensch nach dieser Freiheit kraft seiner Vernunft strebt und die erwartbare Modernisierung der Gesellschaft auf diesem Wege vonstatten geht, beschreibt die für ihn erkennbare Tendenz. Sie mündet in einem dem Kapitalismus seiner Zeit konträren Modell. Eckpunkte darin sind
- die (klassen-)monopolfreie Wirtschaft,
- der Wegfall der »Reservearmee« und ein höherer Grad an Selbständigkeit in frei zustandegekommenen Kooperationsbeziehungen, - der Ausgleich aller Einkommen durch freien Wettbewerb.

In seinem utopischen Roman trägt OPPENHEIMER das Problem der Machtasymmetrie als Kernproblem des Kapitalismus im Rahmen eines Dialogs vor: „Monopol heißt, Ausschluß der freien Konkurrenz aufgrund einer Übermacht. Wo Konkurrenz besteht bei Vorhandensein von Monopolen, da ist es nicht freie, da ist es gefesselte Konkurrenz. Da zieht der Monopolist am langen Hebelarm, da ist die Waage des Marktes gefälscht, -und das war der Kapitalismus.“[709] Entsprechend war zur Überwindung des Kapitalismus „keine funkelnagelneue Wirtschaftsmaschine aufzubauen, wie die Kommunisten faselten, sondern bloß die Konkurrenz von ihrer Hemmung zu befreien. Und das war, einmal erkannt, sehr einfach. Im Verhältnis zu den Utopien der Weltverbesserer soviel einfacher, wie es einfacher ist, einem geknebelten Menschen die Fesseln abzunehmen, als einen künstlichen Menschen zu fabrizieren.“[710] „Schon vor zweihundert Jahren hat der Amerikaner CAREY die Wahrheit fast ganz in der Hand gehabt, und sein deutscher Schüler DÜHRING und dessen Schüler haben sie immer wieder in die Welt hinausgerufen. Aber niemand wollte sie hören. (...) Klassenbefangenheit! Die Bürger verteidigten unbewußt ihre Privilegien -und die Proletarier ließen sich von ihnen das Gesetz des Denkens vorschreiben. (...) Die Bürger erklärten die gefesselte, oder sagen wir besser die ungleiche Konkurrenz, d. h. die Konkurrenz zwischen Ungleichen, für die freie oder gleiche Konkurrenz, und deshalb wollten die Arbeiter die Konkurrenz überhaupt abschaffen. (...) Plan setzt fest, was wie und wo an Gütern hergestellt [S. 373] wird, wie es dahin gebracht wird, wo man's braucht, und an wen es ausgegeben wird. Irrtümer gibt's nicht! Reibung gibt's nicht! Der Mensch als Maschinenteilchen -wahrhaftig, von allen Illusionen eurer wahnsinnigen Zeit die allerverrückteste! (...) Man hielt die Krankheit für die Gesundheit. (...) Stell' dir eine ganz isolierte Insel vor, deren sämtliche Einwohner schon als kleine Kinder malariakrank werden. Was werden die Anatomen glauben müssen? Natürlich, daß eine Riesenmilz die Norm ist. Das sind eure Mammutvermögen. Die Physiologen werden annehmen, daß alle zwei Tage Schüttelfrost und hohes Fieber natürlich sind. Das sind eure Wirtschaftskrisen. Und die Priester werden zu einem Gott des Fiebers nach einem feierlich ausgebildeten Zeremonial beten lassen und das Schwarzwasserfieber als Strafe der Sünden darstellen.“[711] Mit der Abschaffung der »Konkurrenz der Ungleichen« muß der Mehrwert verschwinden. „Die Riesenvermögen und Rieseneinkommen des Kapitalismus kann es nicht mehr geben, ebensowenig wie allgemeine Krisen. Die Ergiebigkeit der Arbeit ist sehr groß, dank der Verwendung sehr starker Maschinerie; daher lebt jeder Arbeitende in Wohlstand.“[712]

Das Gleichgewicht der »reinen Ökonomie« wird sich nach OPPENHEIMER auf den Punkt einstellen, den bereits JOHANN HEINRICH VON THÜNEN beschrieb: „Wenn durch den Preis der Ware die Arbeit von gleicher Qualität in allen Gewerben gleich hoch gelohnt wird, so findet das Gleichgewicht statt.“ Den dahinterstehenden Ausgleichmechanismus beschrieb ADAM SMITH mit den Worten: „Wenn in derselben Gegend irgendeine Beschäftigung entweder vorteilhafter oder weniger vorteilhaft wäre, als die übrigen, so würden in dem einen Falle so viele ihr zuströmen, in dem anderen so viele sich von ihr abwenden, daß ihre Vorteile bald wieder mit denen anderer Beschäftigungen in eine Linie kämen.“ Der freie Wettbewerb hat demnach die Wirkung, daß der Schuster auf die Dauer nicht mehr verdienen kann als der Schneider, „der Fabrikant von Automobilen nicht mehr als der Fabrikant von Stecknadeln, der Arzt nicht mehr als der Anwalt.“[713] Wo sich dieser Effekt bislang nicht einstellte, ist der Zustand des Kapitalismus demnach noch nicht überwunden und das Ziel der Sozialen Marktwirtschaft mit immanent ökonomischem Ausgleichmechanismus nicht erreicht.

Besonders die fortbestehende »Konkurrenz der Ungleichen« auf dem Sektor der Umsetzung von Arbeitspotentialen in wirkende Marktangebote und Nachfrage hat den von OPPENHEIMER vorhergesagten Zustand der »reinen Ökonomie« bei weitem noch nicht erreicht. Nach wie vor haben die Arbeitnehmer noch keine Majoritätsbeteiligung an den Unternehmen erworben, die ihre Arbeitsplätze stellen, und sind bis heute unfähig, sich in genossenschaftlichen Unternehmen unabhängig von sogenannten »Arbeitgebern« zu organisieren. Daß die Arbeitnehmer kulturell auf dem unemanzipierten Niveau abhängig Beschäftigter verharren, zeugt von einem geistigen Überbau der Wirtschaftsgesellschaft, der in Theorie und Zielsetzung klar dem Interesse der Arbeitgeber und heutigen Produktivkapitaleigner folgt. Über die [S. 374] Formen des klassengebundenen theoretischen Denkens äußerte OPPENHEIMER kritisch:

„Nirgend liegt natürlich die Gefahr tendenziöser Induktion und Deduktion in so hohem Maße vor, wie in denjenigen Wissenschaften, die sich mit den Interessensphären der großen Klassen selbst beschäftigen, vor allem also in den Staatswissenschaften und der Geschichtswissenschaft. Darum hat es bisher in der Ökonomik noch nie etwas anderes gegeben als Klassentheorien; alle Meinungskämpfe ihrer Vertreter waren, ihnen selbst natürlich völlig unbewußt, sublimierte Klassenkämpfe; (...) Klassenvertreter waren alle unsere großen Meister, von den kleinen Epigonen gar nicht zu sprechen. QUESNAY und seine Schüler, die Physiokraten, vertraten das Interesse der Großlandwirtschaft, die durch den Merkantilismus geschädigt war, der seinerseits wieder Klassenvertreter des Handelsstandes war. Dann erstand ADAM SMITH als der Klassenvertreter der neu aufkommenden Industrie, und RICARDO und MALTHUS waren geradezu Klassenadvokaten der zur vollen Herrschaft gelangten Großbourgeoisie gegen den neu entstehenden Sozialismus, der seinerseits in fast allen seinen Spielarten nichts weiter war und ist als die wissenschaftliche Formulierung der proletarischen Klassenziele und Klassenwege zum Ziele.“[714]

Alle Formen der Arbeiterbildung, die den Menschen auf breiter Basis zu einer höheren Autonomie in der Produktionssphäre führen könnten, werden als wichtiger Bestandteil einer Zukunftsgesellschaft von den Verantwortlichen weder erkannt noch gestützt. Die Entwicklung anderer Unternehmensformen, mittels derer die abhängig Beschäftigten zu unabhängigen, selbstorganisierten Teilhabern eines Unternehmens aufsteigen könnten, werden ausgerechnet unter fälschliche Berufung auf OPPENHEIMER verunmöglicht (↑ 300). Dabei ist der Schritt in eine Erwerbslandschaft, in der der Arbeiter formell oder faktisch Teilhaber des Betriebes sein wird[715] der emanzipatorische Schritt schlechthin, den eine Kulturnation leisten müßte, um die Hauptquelle ausbeutbarer Abhängigkeiten, exorbitanter Einkommensunterschiede, kapitalistischer Nachfragekrisen und rentabler Arbeitslosigkeit im Verteilungskampf der Klassen dauerhaft zu überwinden.

„KRUPP hatte auf der Höhe seiner Tätigkeit vor dem Kriege nahezu 100.000 Arbeiter und Angestellte. Wenn jeder von ihnen aus eigenem Vermögen tausend oder zweitausend Markt Genossenschaftsanteil hätte zeichnen oder Aktien hätte übernehmen können, so hätten sie zusammen das Werk erwerben oder ein gleiches errichten können. Das aber wird in der reinen Ökonomie der Fall sein.“[716]

In keinem ökonomischen System kann mehr an erzeugten Produkten und Dienstleistungen abgesetzt werden, als die Produzenten in ihrer Eigenschaft als Konsumenten mit ihren Arbeitserträgen eintauschen oder »bezahlen« können. Dieser unauflösliche Zusammenhang gilt sowohl für das Maximalniveau gesellschaftlich möglicher Produktivität, welches natürlich begrenzt ist durch die Menge der [S. 375] einsetzbaren Arbeit[717] und durch den gesellschaftlich beherrschten technologischen Standard. Produktions-und Konsumkraft einer Wirtschaftsgesellschaft sind aber auch miteinander verknüpft und können in ihrer Entfaltung weit unterhalb des durch Arbeit und Technik möglichen Niveaus verharren, wenn ihre freie Entfaltung gehemmt wird. Ein solches Hemmnis liegt mit der Machtasymmetrie zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern im Kapitalismus systemimmanent vor. Die Abhängigkeit des Arbeitnehmers wirkt sich insbesondere bei begleitender hoher Arbeitslosigkeit über das Lohnsystem gegen die Lohnhöhe des Arbeitnehmers aus. Die erzielten Gewinne der Unternehmenseigner und -leiter lassen sich von diesen kaum noch verkonsumieren und müssen wiederum angelegt oder »investiert« werden. Entweder zwingt der vorhandene Vermögensüberschuß den Unternehmer, den so schon nicht vollständig absetzbaren Produkten weitere hinzuzufügen, möglich ist auch die so schon zu geringe Kaufkraft der Arbeitnehmer durch weitere Rationalisierungsinvestitionen zu verkürzen, oder aber das Geld wird zinsbringend in die Verschuldung von Staat und Privathaushalten gegeben. Die einmal aus dem Lot gebrachte Gleichzeitigkeit von Produktion und Konsum hat die Tendenz, auf der Zeitachse eine Spaltung der Gesellschaft herbeizuführen, die den unterlegenen Teil auf Dauer von einer produktiven Marktteilnahme ausschließt und zum Sozialfall macht (solange die verbliebene Ertragskraft der Sicherungsgemeinschaft der Arbeitnehmer noch groß genug ist, um sich massenhaft Sozialfälle leisten zu können).

Die Überwindung der kapitalistischen Krisen und Sicherung eines dauerhaften Wohlstandes ist unmittelbar geknüpft an die Realisierung maximal hoher Löhne. Das mag angesichts gegenwärtiger Diskussionen erst einmal irritieren, doch bedeuten verdient hohe Löhne in jeder Hinsicht einen Fortschritt auf dem Weg der Sozialen Marktwirtschaft, sowohl was das Auseinanderdriften oder Zusammenwachsen der sozialen Klassen angeht als auch hinsichtlich der Realisierung des möglichen Technologiefortschrittes. „Eine Maschine ist, volkswirtschaftlich gesehen, ein Ding, das Arbeit spart, ist aber, vom privatwirtschaftlichen Standpunkt des Unternehmers gesehen, ein Ding, das Löhne spart. Folglich sind um so gewaltigere Maschinen rentabel, je höher die Löhne stehen. Dennoch wird das Produkt billiger. (...) Da in der reinen Ökonomie die Löhne ihr mögliches Maximum erreichen, [S. 376] ist auch dem Maximum der technisch möglichen Maschinerie die Rentabilität sicher.“[718]

4.3.3. Ethik und Ziele der Gemeinschaft

„Die Gruppe ist ihrem Wesen nach essentiell statisch. Aber die Umwelt wandelt sich und mit ihr muß sich, durch neue Anpassung, die Gruppe wandeln. Alte Normen werden schädlich, neue notwendig, ein »Kulturwandel« ist unvermeidlich geworden. Jedoch: der völlig domestizierte, völlig »soziale« Mensch kann ihn nicht anregen oder aufzwingen, dazu steht er allzu gebunden vor den Imperativen seiner Gruppe. Das kann nur der Mensch leisten, der ihnen mit etwas größerer Freiheit gegenübersteht, ein »novarum rerum cupidus«, ein »Brecher alter Werte, ein Verbrecher«: ein Reformer, ein Revolutionär, ein Prophet im allerweitesten Sinne.“[719]

Gemeinschaften bieten dem einzelnen Menschen die Chance eines zielgerichteten »Anders-Seins-Als-Andere« oder »Mit-Sich-Selber-Identisch-Seins« in einem sozialen Rahmen, der die gegebenen Haltungen der vereinigten Individuen stabilisiert und im Falle von Wirtschaftsgemeinschaften materiell überhaupt erst ermöglicht. Gleichzeitig birgt die Suggestibilität des rein sozialen Individuums, dem die persönliche Autonomie gegenüber der Gruppe fehlt, eine neue Gefahr. Während die Formen der Herrschaft in atomisiert-individualistischen Zusammenhängen über relativ offenliegende Zwangsstrukturen erfahrbar sind und den Einzelnen gegen Widerstreben beugen, sind die in kollektiven Zusammenhängen entwickelten Unterdrückungsformen meist unmittelbar im Moralverständnis der Gruppenmitglieder verankert und insofern Bestandteil eines »So-Seins«, daß es, um kritisch gesehen werden zu können, entweder der widerstreitenden Erfahrungen bedarf oder einer nicht naturgegebenen, sondern erst in der Auseinandersetzung mit sich und anderen erworbenen Reife der Persönlichkeit, die den Imperativen von Gruppen grundsätzlich eigenständig abwägend gegenübersteht.

Die Befürwortung der Genossenschaft durch OPPENHEIMER zum Zwecke des Widerstandes gegen Ausbeutung, Herrschaft und Ungerechtigkeit bedeutet nun gerade nicht, daß die Genossenschaft als Institution gesehen werden darf, die mit ihren Imperativen »Gutes« über die Menschheit bringt und das »Tier im Menschen« [S. 377] domestiziert, ohne daß der Einzelne eigentlich weiß, wie ihm geschieht[720]. Nein, den von vielen Kollektivisten mit der Genossenschaft verknüpfte Glauben an die bessere Form »an sich« durchkreuzt OPPENHEIMER mit der Warnung vor einer falsch verstandenen, naiven und verantwortungslosen Sozialität, in die sich der Einzelne hineinfallen und treiben lassen könnte, um unversehens zum willigen Objekt jener falschverstandenen »Führer« zu werden, die ihrerseits den Imperativen der Gruppe mit weit größerer Autonomie gegenüberstehen und die ihre »Untergebenen« aufgrund der bei diesen geltenden Imperative dann nach belieben manipulieren können.

Die Entfaltung der suprasozialen Persönlichkeit (↑ 281), die den »Imperativen der Gruppe nicht mehr im blinden Gehorsam« folgt, liegt deswegen mit der »Ausscheidung aller Institutionen, die das politische Mittel geschaffen hat«, auf einer gemeinsamen Entwicklungslinie[721]. Im Zuge dieser Entwicklung erwartete OPPENHEIMER das Heranwachsen einer neuen sozialen Ordnung auf geeinter ethischer Basis. Man muß sich dazu eine Reihe fortschreitender Veränderungen über einen längeren Zeitraum hinweg vorstellen, die sich in ihrer Möglichkeit gegenseitig zur Voraussetzung haben und den Fortschritt antreiben. Der zu erklärende Zusammenhang kann dabei nicht in einem linearen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang (vergleichbar einer Perlenkette) abgearbeitet werden, sondern ist als Fortschreiten auf der Zeitachse ein Summenergebnis tausender Ereignisse, die gegenseitig aufeinander wirken. Auf der Suche nach Freiheit und Gerechtigkeit tragen unzählig viele Einzelpersonen in ihrem Verantwortungsbereich zu den Veränderungen bei, die, jeweils für sich betrachtet, winzig sein mögen, aber als Bewegung von Millionen doch eine erkennbare Richtung und Wirkung aufweisen.

Ein Meilenstein auf dem Weg dieses Begehrens nach Freiheit und Gerechtigkeit ist die Überwindung der Klassenspaltung als solcher. Der zur Gerechtigkeit hin reformierte Verfassungsstaat und die Ausscheidung des politischen Mittels aus der Ökonomie hilft, die Bürger eines Landes auf eine ähnliche oder gar gleiche wirtschaftliche Grundlage zu stellen.

„Nur bei rationeller (und das ist nicht etwa die mechanische) Gleichheit kann der Consensus bestehen, und ohne Consensus gibt es keine »Gemeinschaft«. Da es diese aber ist, die »in ihrer Wesentlichkeit, als der Gott, vorgestellt, verehrt und genossen wird, in der Religion -als Bild und Anschauung dargestellt wird in der Kunst -und als Gedanken begriffen wird in der Philosophie«: so kann es echte [S. 378] Religiosität, echte Kunst und echte Philosophie in der zersetzten »Gesellschaft« nicht geben. Die große Problemstellung und die Kraft der Lösungen geht verloren, Scholastik, Alexandrinismus und Spezialistentum überwuchern in der Wissenschaft den weltumspannenden Geist der klassischen Zeiten, und ein böser Subjektivismus verdrängt in der Philosophie wie in der Politik den klaren, großzügigen Objektivismus, ein Zeichen der gleichen sozialen Zersetzung, die das aus all seinen gewachsenen Banden gelöste Individuum steuerlos in eine dem Abgrund zurasende Gesellschaft gestellt hatte: der »Modus« hat den tiefen Zusammenhang mit der sozialen »Substanz« und damit Weg und Ziel verloren.“[722]

Hingegen: „Wo die Menschen wieder in feste gewachsene Gruppen eingeordnet sind (es müssen nicht Blutsgruppen sein; Nachbarschaften, die durch keine Klassengegensätze gespalten sind, leisten ganz das gleiche); wo infolge all dessen die antisoziale Handlung zur Seltenheit geworden ist, da ist das Gewissen wieder zum zuverlässigen Berater des Einzelnen und Wächter der Gesellschaft geworden, und man kann endlich wieder das Vertrauen in jeden Mitbürger haben, das den letzten und stärksten Kitt aller Gesellschaft bildet.“[723]

Hier eröffnet sich ein scheinbarer Widerspruch. Einmal wurde oben eine deutliche Warnung vor den das Individuum beherrschenden Imperativen der Gruppe gegeben, und nunmehr soll gerade jene Gruppe den Rahmen für eine höherstehende Sozialität abgeben? Doch hier muß der Inhalt von der Form geschieden werden. Die Gruppe als solche beschreibt das soziale Phänomen der Bindung von Individuen, die sich in dieser Konstellation nach außen leichter behaupten können. Der Akt der Bindung kann auf Blutsverwandtschaften oder traditioneller Bindung beruhen, auf situativer Solidarisierung (Flugzeugabsturz, Arbeitskollegium etc.) und frei gewählten Bindungen. Der Modus des Vorgehens, die innere Ordnung und verfolgten Zielsetzungen der Gruppe sind damit noch nicht näher bestimmt, wenngleich sich sagen läßt, daß freie Gruppenbildungsprozesse nach innen einen Zustand prinzipieller Rechtsgleichheit erfordern, um zu stabilen Zusammenhängen zu führen. Könnte eine frei assoziierte Gruppe ihren Mitgliedern keine Rechtsgleichheit bieten, würden die zum Mitmachen nicht gezwungenen, unterlegenen Mitglieder eigene Vereinigungen bilden. Und genau das ist die Situation der frei gebildeten Genossenschaft, in der es wohl Demagogen geben kann, die die Gemeinschaft ausnutzen und an der Nase herumführen, aber von der sich die Mitglieder doch jederzeit lossagen können, um andere Wahlgemeinschaften einzugehen.

„Die Ausbildung des öffentlichen Geistes zeigt sich nun darin, daß genügend viele Kreise von irgendwelcher objektiven Form und Organisierung vorhanden sind, um jeder Wesensseite einer mannigfach beanlagten Persönlichkeit Zusammenschluß und genossenschaftliche Betätigung zu gewähren. Hierdurch wird eine gleichmäßige Annäherung an das Ideal des Kollektivismus wie des Individualismus geboten. Denn einerseits findet der Einzelne für jede seiner Neigungen und Bestrebungen eine Gemeinschaft vor, die ihm die Befriedigung derselben erleichtert, [S. 379] seinen Tätigkeiten je eine als zweckmäßig erprobte Form und alle Vorteile der Gruppenangehörigkeit darbietet; andererseits wird das Spezifische der Individualität durch die Kombination der Kreise gewahrt, die in jedem Fall eine andere sein kann. So kann man sagen: aus Individuen entsteht die Gesellschaft, aus Gesellschaften entsteht das Individuum. Wenn die vorgeschrittene Kultur den sozialen Kreis, dem wir mit unserer ganzen Persönlichkeit angehören, mehr und mehr erweitert, dafür aber das Individuum in höherem Maße auf sich selbst stellt und es mancher Stützen und Vorteile der enggeschlossenen Gruppe beraubt, so liegt nun in jener Herstellung von Kreisen und Genossenschaften, in denen sich beliebig viele, für den gleichen Zweck interessierte Menschen zusammenfinden können, ein Ausgleich jener Vereinsamung der Persönlichkeit, die aus dem Bruch mit der engen Umschränktheit früherer Zustände hervorgeht.“[724]

Mit SIMMEL sieht OPPENHEIMER die Freiheit des Individuums einmal über die Freiheit der Wahl verwirklicht. Sofern eine Vielfalt an Möglichkeiten zur Auswahl steht, mehrere Genossenschaften oder Vereine sich um die Mitgliedschaft oder Mitarbeit potentieller Genossen bewerben und in den Genossenschaften mehrere qualifizierte Personen zur Auswahl für die Leitungsaufgaben bereitstehen, ist die Gefahr eines dauerhaften Mißbrauchs sozialer Definitionsmacht gering. Auf der anderen Seite gibt es aber auch gar keinen Grund zur Förderung konformistischer Gruppenideologien. Die Freiheit und Selbständigkeit jedes Einzelnen gegen die Wechselfälle des Lebens zu schützen und in dem Bündnis die ganze schöpferische Kraft der Mitglieder zum Einsatz gelangen zu lassen, verspricht doch jedem Sozialverband eine Steigerung der summierten Leistungskraft. Offenheit, Kreativität und gegenseitige Sicherung der Persönlichkeitsentwicklung lassen sich zwar nicht als Genossenschaftsethik herbeireden; je weiter die Individuen jedoch ihre Entwicklung zur suprasozialen Persönlichkeit vollziehen, desto selbstverständlicher werden die von ihnen getragenen Konstruktionen der Verwirklichung individueller Freiheitsrechte im Gruppenzusammenhang dienen.

„Man kann sich einen BUDDHA, einen JESUS, einen LUTHER, einen MARX, ja nicht einmal einen wahrhaft großen Künstler, Erfinder oder Gelehrten vorstellen, der den unwesentlichen Imperativen seiner Gruppe in blindem Gehorsam gegenüberstünde. Wer einmal gelernt hat, dort zu zweifeln und zu fragen, wo die Normen es verbieten, kann grundsätzlich nie wieder aufhören; (...) Und so ist jeder schöpferische Mensch eine Brücke (...) zum übersozialen Menschen (denn die »Viel-zu-Vielen«, das sind die von ihren Gruppenimperativen hilflos Gefesselten[725]); er ist ein Schritt über die Gruppe hinaus (...). Und mag der schöpferische Mensch, auch der bedeutendere, nach anderen Richtungen als der seiner Arbeit hin auch noch so fest gebunden sein (...): er hat doch einen Teil seiner Fesseln gesprengt, er hat doch ein Stück Weges zur freien autonomen Persönlichkeit zurückgelegt und damit seiner Gruppe, seiner Gesellschaft und vielleicht der Menschheit neue Wege gebahnt, um neuen Kulturwandel zu vollziehen und für neue Persönlichkeiten Raum zu schaffen, die der Menschheit [S. 380] neue Ziele setzen.“[726]

„Wenn ein Bild gestattet ist: einer der schönsten Bäume des Nordens ist die frei stehende Kiefer, ein breitästriger, knorriger, individuell eigenwüchsiger Baum. Aber in der modernen Kiefernforst, die um der Gewinnung von Nutzholz halber angelegt ist, ist die Kiefer ein trauriger Besen, der die unteren Äste abzuwerfen gezwungen ist, um sich verzweifelt immer länger zu strecken, dem ihm noch vergönnten kärglichen Himmelslicht entgegen. (...) der Staatsbürger des zentralisierten Einheitsstaates wird genau so wie die Kiefer als, und auf, Nutzholz gezüchtet und ist gerade so nur eine statistische Nummer in der Rechnung des Klassenstaates und gerade so ein verkümmertes Exemplar seiner Gattung.“[727]

FRANZ OPPENHEIMERs »Utopie« gründet sich
- im Individualpsychologischen auf das KANTsche Vertrauen in die Kraft der Vernunft,
- im Sozialpsychologischen auf die Annahme sich ausdehnender Wechselseitigkeiten und somit fortschreitender Gerechtigkeit im Zwischenmenschlichen und dem positiven Recht,
- im Soziologischen auf die Emanzipation des Individuums gegenüber den herrschenden Institutionen, neue Gemeinschaftsbildung bei gleichzeitiger Ausweitung der echten Demokratie (↑ 71), die Überwindung wirtschaftlicher Abhängigkeiten,
- im Ökonomischen auf die Ausstoßung des politischen Mittels und Herstellung des freien Wettbewerbes unter Gleichen.

„Dieses System bringt nämlich die Synthese von Sozialismus und Liberalismus, um das geschändete Wort, das ich lieber vermiede, in seiner alten, edlen Bedeutung zu brauchen. Es ist das höchste Ziel, dem die Gesellschaftswissenschaft zustreben kann, weil eine Gesellschaft ohne Freiheit offenbar ebenso wenig Bestand haben kann wie ohne rationelle Gleichheit.“ (...) Selbst wenn man gelten ließe, „daß in jeder vergangenen Gesellschaft Freiheit und Gleichheit sich gegenseitig ausschlossen“, so beweist dies doch nicht, „daß dies auch in jeder künftigen, anders aufgebauten Gesellschaft der Fall sein muß. Wer das für »selbstverständlich« hält, präsentiert nicht mehr eine Tatsache, sondern seine, bis er sie bewiesen hat, völlig unverbindliche Meinung als den vermeintlichen Gegenbeweis. Wir haben gezeigt, warum in der Vergangenheit die beiden Güter unvereinbar waren, und haben daher das Recht zu behaupten, daß nach Fortfall dieser Gründe sie in der Zukunft vereinbar sein werden. Um uns zu widerlegen, müßte bewiesen -nicht bloß behauptet -werden, daß ein unveränderliches Natur-oder Seelengesetz die Unvereinbarkeit erzwingt.
Darf ich bescheidentlich daran erinnern, was kein Geringerer als IMMANUEL KANT über solches Mißdenken geäußert hat: »Nichts kann Schädlicheres und eines Philosophen Unwürdigeres sein als die pöbelhafte Berufung auf vorgeblich [S. 381] widerstreitende Erfahrung, die doch gar nicht vorhanden wäre, wenn jene Anstalten zur rechten Zeit nach den Ideen getroffen würden, und an deren Statt nicht rohe Begriffe, eben darum, weil sie aus der Erfahrung geschöpft werden, alle gute Absicht vereitelt hätten«.
Dieses ist mein wissenschaftliches Testament.

Berlin, im vierundsiebzigsten Jahre meines Lebens.

FRANZ OPPENHEIMER.“[728]

Fußnoten
[692]
BERTOLT BRECHT: Das Lied vom Wasserrad. Zitiert nach KARL OTTO HONDRICH, Theorie der Herrschaft, Frankfurt a. M. 1973, S. 4.
[693]
Einen solchen Versuch, die Zukunftsordnung auszumalen, unternahm OPPENHEIMER in seinem utopischen Roman „Sprung über ein Jahrhundert“, der 1932 unter dem Pseudonym Francis D. Pelton in Bern erschienen ist.
[694]
FRANZ OPPENHEIMER, System II, Der Staat, S. 726-811.
[695]
Fußnote im Text: „»Tendenz, d. h. ein Gesetz, dessen absolute Durchführung durch gegenwirkende Umstände aufgehalten, verlangsamt, abgeschwächt wird.« (Marx, Kapital, III, 1, p. 215.)“
[696]
FRANZ OPPENHEIMER: Der Staat (kleine Ausgabe), Berlin 1990, S. 131.
[697]
FRANZ OPPENHEIMER, System II, Der Staat, S. 774.
[698]
ebenda
[699]
ebenda
[700]
FRANCIS D. PELTON (Pseudonym): Sprung über ein Jahrhundert, Bern 1932, S. 143 ff.
[701]
Hier sei ein für Sprachforscher interessanter Hinweis angebracht. Als OPPENHEIMER im Jahre 1925 den vorliegenden Text erstmals veröffentlichte, da schrieb er noch von der »faszistischen Diktatur« und dem »Faszismus«. Es fällt auf, daß es zwischen der »Begabung des Agitators zur rednerischen Faszination« und dem Begriff des »Faszismus« sowohl äußerlich als auch sinngemäß vom beschreibenden Vorgang her eine deutliche Parallele gibt. Der Duden, Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache (Etymologie), Mannheim 1989, versucht eine Erklärung des Wortursprungs »Faschismus« über den italienischen Begriff »fascio« (Rutenbündel). „Das Rutenbündel mit Beil war nämlich Symbol altrömischer Herrschergewalt und wurde als solches von den Anhängern des Facismo übernommen und als Abzeichen getragen.“ (S. 176) Man gesteht an der Stelle aber gleichzeitig ein, daß der lateinische Begriff »fascis« »(Ruten)bündel« etymologisch nicht sicher gedeutet sei. Geht man bei seinem Deutungsversuch aber von dem lateinischen Begriff »fascino« (beschreien, behexen) oder italienisch »fascino« (Zauber) aus, dann wird man unwillkürlich mit der wohl ältesten Form der Herrschaft auf Erden konfrontiert, nämlich jener des Geisterglaubens und der Angst vor den rational nicht faßbaren Naturgewalten, die erst den Medizinmännern (und evtl. auch Frauen) die geistige Macht über ihre Stämme verliehen und später in Europa die katholische Kirche ein hartes Regime führen ließen (Inquisition und massenhafte Aneignung von Grund und Boden durch Erbschaften von verängstigten Gläubigen). Dem Psychoanalytiker wie auch der Feministin wird die angeregte Interpretation noch eine weitere Plausibilität aufweisen. Das lateinische Substantiv von »fascino«, »fascinus«, ursprünglich mit »Behexung« übersetzt, bezeichnet das männliche Glied, das als Amulett gegen die Behexung getragen wurde. Das ist insofern interessant, wie das Rutenbündel in der FREUDschen Psychoanalyse ebenfalls als Phallussymbol verstanden wird und in dem Begriff der Herrschaft die Erhebung des durch Krieg und Fehde zu Sklaven und Reichtum gekommenen Mannes über die Gemeinschaft (und Familie) gedanklich enthalten ist. Man ist geneigt zu sagen, daß mit dem Begriff des Faschismus die primitivste und ursprünglichste staatsbildende Gewalt bezeichnet wird, die der Mensch kennt, nämlich die der Räuberbande, die sich ihren Raubstaat errichtet. Und sie ist dem (männlichen?) Menschen möglicherweise triebhaft gegeben wie der Trieb schlechthin, der nach Mitteln und Wegen zur Paarung oder auch nur Befriedigung suchen läßt. Die Selbstverständlichkeit, mit der beispielsweise kriegerische Auseinandersetzungen mit Massenvergewaltigungen einhergehen, wirft ein Licht auf die unkultivierte Form der Sexualität und die Nähe der Sexualität zur Gewalt unter bestimmten Bedingungen. Der Begriff »Gewaltorgie« deutet auf die Ähnlichkeit des Rauschzustandes von Machtempfindung und sexueller Erregung. Und alles das, was an primitiver Ursprünglichkeit im Menschen schlummert, läßt sich wiederum in der faschistischen Symbolik und Praxis wiederfinden. Daß dabei das Gehirn anscheinend einem Leistungsverlust bzw. einer einseitigen Ausrichtung zugunsten des Übergriffs unterliegt, scheint Teil der Triebhaftigkeit oder »Behexung« zu sein.
[702]
FRANZ OPPENHEIMER, System II, Der Staat, S. 772 f.
[703]
Hier geht es wohlgemerkt um eine föderale und keine partikularistische Ordnung, wie es sie in Deutschland vor der Vereinigung der Kleinstaaten gegeben hat. „Der Partikularismus will nicht die Dezentralisation, sondern die Zentralisation, nur auf kleinerem Gebiet: statt eines zentralisierten Großstaates eine Reihe locker verbundener zentralisierter Kleinstaaten. Das ist ganz etwas anderes, und gewiß nichts gutes.“ (FRANZ OPPENHEIMER, System II, Der Staat, S. 776 f.) Im Partikularismus der Kleinstaaten haben die Herrscher ihre Völker ganz genauso gegeneinandergehetzt, wie es seitens der Herrscher von Großstaaten üblich ist. Im Föderalismus hingegen gibt es keine Armee, die einem Herrscher (oder einer herrschenden Klasse) zur Verfügung steht, sondern es gibt nur die Milizen der Bürger mit vielleicht einigen dauerhaft besoldeten Spezialisten, die an einem Krieg niemals interessiert sein können, weil in jedem Krieg das Volk mit Blut und zerstörten Gütern bezahlt, was die herrschenden Cliquen im Krieg für sich an Vorteilen zu realisieren hoffen.
[704]
FRANZ OPPENHEIMER, System II, Der Staat, S. 778.
[705]
Fußnote im Text: „BAKUNIN: Das knutogermanische Kaisertum und die soziale Revolution, S.9/10.“
[706]
Fußnote im Text: „Ebenda, S.111.“
[707]
FRANZ OPPENHEIMER, System II, Der Staat, S. 236 f.
[708]
„Was fordert denn der Liberalismus für das Individuum oder die Persönlichkeit? Er fordert Freiheit. Was aber ist Freiheit? ARISTOTELES sagt: „Der eine Bestandteil der Freiheit ist, abwechselnd zu regieren und regiert zu werden, der andere, zu leben nach eigenem Belieben.“ FRANZ OPPENHEIMER, System II, Der Staat, S. 801.
[709]
FRANCIS D. PELTON (F. OPPENHEIMER): Sprung über ein Jahrhundert, Bern 1932, S. 67 f.
[710]
Ebenda.
[711]
FRANCIS D. PELTON (F. OPPENHEIMER): Sprung über ein Jahrhundert, Bern 1932, S. 72 f.
[712]
FRANCIS D. PELTON (F. OPPENHEIMER): Sprung über ein Jahrhundert, Bern 1932, S. 74.
[713]
FRANCIS D. PELTON (F. OPPENHEIMER): Sprung über ein Jahrhundert, Bern 1932, S. 64 f.
[714]
FRANZ OPPENHEIMER, System I, Soziologie, S. 683 f.
[715]
Vgl. FRANZ OPPENHEIMER, System II, Der Staat, S. 754 f.
[716]
FRANZ OPPENHEIMER, System II, Der Staat, S. 744. Gemeint sind Goldmark von vor 1918. Tausend Mark jener Zeit entsprechen etwa 140.000 DM heutiger Währung. Nach den mir vorliegenden Angaben enthielt die Goldmark etwa 7,74 g Reingold, welches pro Gramm gegenwärtig etwa 18 DM kostet.
[717]
Man darf in diesem Zusammenhang unter »Arbeit« nicht alleine jenen Teil verstehen, der in einer Gesellschaft unmittelbar in die Erzeugung von Gütern eingeht, sondern muß den ganzen Bereich der erbrachten Dienste sehen, die in ihrer Summe letztlich den erwirtschafteten Wohlstand möglich machen. Dazu gehören beispielsweise auch Bildungsinvestitionen, die einer Person als Aufwand nicht unmittelbar honoriert werden, aber die erbrachten Leistungen einer Person aufwerten und sich auf längere Sicht dann doch »bezahlt machen«. »Produktivität« mag man so gebunden sehen an das unmittelbare »zu Markte bringen« von Gütern oder Diensten. »Produktivitätssteigernd« ist in diesem Sinne aber auch jeder erbrachte Dienst, der die Leistungsfähigkeit von Menschen herstellt oder erhält. Inwieweit er die Grenzen der Privatwirtschaft der Haushalte verläßt, an den Marktherantritt und eine entsprechende Marktbewertung erfährt, ist eine andere Frage.
[718]
FRANZ OPPENHEIMER, System II, Der Staat, S. 748. Man findet den technologischen Fortschritt und die steigende Produktivität einer Wirtschaft unmittelbar gekoppelt an maximal hohe Löhne, wenn man beispielsweise die Fertigungstechnik in der Bauindustrie betrachtet. Während in Japan angesichts fehlender und teurer Arbeitskräfte spezielle Roboter konstruiert wurden, um dortige Hochhäuser aufzubauen, wird in Deutschland dank reichlich verfügbarer, zuweilen extra aus dem »billigeren Ausland« herbeigeschaffter Arbeitskräfte an der tradierten Fertigungstechnik festgehalten. Der Anreiz zur technologischen Innovation und fortschreitenden Produktivität ist offenbar gebunden an einen machtpolitisch nicht zu bewältigenden Kostendruck, ohne den die Industrie die möglichen Innovationen unterläßt und sich im Bestehenden einrichtet.
[719]
FRANZ OPPENHEIMER, System I, Soziologie, S. 537 f.
[720]
Ein derart ideologisiertes Genossenschaftsverständnis findet man häufig in der post-faschistischen und kommunistisch orientierten Genossenschaftsliteratur. In ihr ist die Genossenschaft kein Werkzeug zur Befreiung des Individuums von den Zwängen der Gesellschaft, sondern das Individuum steht auf der letzten Stufe einer Hierarchie, in der die Gesellschaft oberste Legitimität besitzt. Aus der Gesellschaftspolitik werden die Vorgaben ihrer genossenschaftlichen Glieder abgeleitet und aus diesen wiederum die Imperative, denen sich die einzelnen Genossenschaftler zu beugen haben, wenn sie denn »gute Menschen« sein wollen. Welcher Mißbrauch bei einem solchen Ansatz möglich ist, zeigt die faschistische und kommunistische Praxis, die letztlich auch das freiheitliche und liberalsozialistische Genossenschaftswesen in Verruf gebracht hat.
[721]
Vgl. FRANZ OPPENHEIMER, System I, Soziologie, S. 1112.
[722]
FRANZ OPPENHEIMER, System I, Soziologie, S. 1111 f.
[723]
FRANZ OPPENHEIMER, System II, Der Staat, S. 801.
[724]
GEORG SIMMEL: Soziologie, Leipzig 1908, S.429/430, zitiert nach FRANZ OPPENHEIMER, System I, Soziologie, S. 542 f.
[725]
Fußnote im Text: „Die »nur Nachahmenden«, wie SPENCER (Study of Sociology I, S. 80) sagt, während der geniale Mensch um so weniger nachahmt, je genialer er ist.“
[726]
FRANZ OPPENHEIMER, System I, Soziologie, S. 539.
[727]
FRANZ OPPENHEIMER, System II, Der Staat, S. 770.
[728]
FRANZ OPPENHEIMER, Das Kapital, Leiden 1938, S. IX-XI.