liberal, Heft 3/96, S. 80-88

Freibürgerschaft und soziale Marktwirtschaft

Die vergessene Konzeption Franz Oppenheimers

[S. 80] Dr. med. et phil. Franz Oppenheimer (1864-1943) war von 1918 bis 1928 Professor für Soziologie und theoretische Nationalökonomie in Frankfurt am Main. Er engagierte sich mit Nachdruck für eine ökonomisch ansetzende Bodenreform in Deutschland (Oppenheimer 1896), lieferte der zionistischen Bewegung die Idee und theoretische Begründung zur einzig möglichen Ansiedelung in Palästina im Kibbutz (Oppenheimer 1964c, 281, Herzl/Oppenheimer 1964, Schayer 1954), hinterließ Bücher und Aufsätze in einem Umfang von circa 10 000 Druckseiten mit den Arbeitsschwerpunkten Wirtschaftssoziologie, Volkswirtschaftslehre, allgemeine Soziologie, Staatswissenschaften und Geschichtswissenschaften, kritisierte »Kapitalismus« und »Kommunismus« mit gleicher Entschiedenheit und thematisierte als erster (lange vor Wilhelm Röpke, Ota Sik und anderen) einen sogenannten »dritten Weg«, den er als »liberalen Sozialismus« bezeichnete. Er war persönlich mit Friedrich Naumann bekannt, dessen Redaktionsstube der »Hilfe« sich 1897/98 im gleichen Gebäude befand wie die »Welt am Montag«, deren Chefredakteur Oppenheimer zu diesem Zeitpunkt war (Oppenheimer 1929, 105). Sein engster Weggefährte, der Rechtsphilosoph Leonard Nelson, war 1911 aktives Mitglied im »Agitationsverband der Hilfe-Leser« (Franke 1991, 94) und wurde später akademischer Lehrer von Willi Eichler und Gerhard Weisser, die auf die neu gegründete SPD nach 1945 großen Einfluß hatten. Franz Oppenheimers renomierteste Schüler waren Ludwig Erhard und Erich Preiser. Ersterer bewährte sich in der Praxis als Wirtschaftsminister und bekannte sich später nachdrücklich zu seinem Lehrer und Doktorvater (Erhard 1988, 689 und 858), letzterer gehört zu den bedeutenden deutschen Wirtschaftstheoretikern der Nachkriegszeit und sorgte dafür, daß ein Teil der von den Nationalsozialisten vernichteten Schriften Oppenheimers 1964 (mit finanzieller Hilfe Erhards) erneut veröffentlicht wurde.

Von links und rechts gescholten

Franz Oppenheimer
aus: Franz Oppenheimer:
Erlebtes, Erstrebtes,
Erreichtes.
Düsseldorf
1964

Das Schicksal Oppenheimers ist das eines aufrechten Streiters, der sich den beiden großen Flügeln der damals gespaltenen Gesellschaft nicht anschließen wollte und deswegen als »Antimarxist« von den Linken ebenso gescholten wurde wie als »Linker« von den Rechten. So hat er mit dem organisierten Liberalismus die schwere Stellung der Mitte gemein, obgleich er die auch von Liberalen betriebene Polarisierung nach »bürgerlich-liberalem« und »sozialistischem« Lager nicht teilte. Echter Liberalismus und echter Sozialismus streben nach seiner Auffassung in letzter Konsequenz dem selben Fernziel entgegen: der Gesellschaft der Freien und der Gleichen (Gleichheit verstanden als Gegensatz zur Klassengesellschaft, also Rechtsgleichheit und Chancengleichheit bei ansonsten individuell verschieden möglichen Lebenswegen und nach Leistungsfähigkeit - nicht Erbschaft oder Herrschaft - differenzierter Stellung in der Gesellschaft).

Der von den Marxisten verbreiteten Vorstellung, daß der zur damaligen Zeit erkennbare Klassengegensatz durch innerökonomische Gesetzmäßigkeiten immer schärfer würde und letztlich nur eine Revolution der proletarischen Massen das Blatt wenden könnte, widersprach Oppenheimer (1903a und 1962) in jeder Hinsicht. Er sah den Mißbrauch der Macht durch den politischen Apparat in den nach Marx'schem Plan errichteten Systemen ebenso voraus wie die Mängel ihres ökonomischen Koordinationsmechanismus. Statt also die sozial negativ empfundenen Gegebenheiten der Marktwirtschaft in der radikalen Negation einer Planwirtschaft fortzuführen, setzte er an, den Machtmißbrauch durch Freiheit und Wettbewerb in der Marktwirtschaft zu bekämpfen. Daraus erwuchs seine Unterscheidung einer »reinen« und einer »politischen« Ökonomie. In ersterer sah er das Prinzip der Leistung und des freien Wettbewerbes verwirklicht, während letztere für die mannigfachen Formen außerökonomischer, politischer und herrschaftlicher Einflußnahmen auf das Wirtschaftsgeschehen steht.

Oppenheimer teilte damit aber keineswegs den bekannten Laissez-faire-Standpunkt seiner Zeit, [S. 81]sondern sah die Chancengleichheit der Massen in der Bevölkerung verletzt durch weit zurückliegende Ereignisse der Geschichte, bei denen durch Raub, Krieg und Kampf eine gravierende Verteilung des Vermögens, vor allem in der Form umfangreichen Landbesitzes (dem wichtigsten Produktionsmittel in der Agrargesellschaft) stattgefunden hat. Der Übergang von der feudalen Agrargesellschaft zur modernen demokratischen Industriegesellschaft war für Oppenheimer nicht bereits durch die Stein-Hardenbergischen Edikte zur Gewerbefreiheit vollzogen, sondern aus dem vorangegangenen agrarischen Kapitalismus, aus dem die Erben der ehemaligen Kriegsgewinnler als Herrscher über das Landvolk und als herrschende Klasse im Staat hervorgingen, sah er belastende Elemente mit in die neue Zeit übernommen (Oppenheimer 1990, 50), von denen sich die weiter entwickelnde Gesellschaft erst im Laufe mehrerer Generationen würde befreien können. Dem symbolischen Bruch mit dem Feudalismus folgt danach eine etwa 200jährige Phase liberaler Befreiungsbewegung (Oppenheimer 1927 und 1932), an deren Ende genau die Gesellschaftsform entwickelt sein würde, die sich auch sozialistische Schriftsteller vorgestellt haben, nur eben herbeigeführt durch einen Siegeszug menschlichen Freiheits- und Gerechtigkeitsstreben in unendlich vielen kleinen Schritten und nicht mit revolutionärem Paukenschlag.

Geschichte und Vision

Die Spannbreite Oppenheimer'schen Wirkens reicht von der Analyse der Geschichte zum Zwecke der Theoriebildung über die Auseinandersetzung mit dem aktuellen Zeitgeschehen bis hin zur prognostisch und visionär dargelegten Entwicklung des kommenden Jahrhunderts. 1932 bereits sah er atomare Waffen kommen, deren Vernichtungskraft so gewaltig sein würde, daß die Völker keine Kriege mehr gegeneinander wagten. Als andere noch den Erbfeind Frankreich zum Nachbarn wähnten, schilderte er für das Jahr 2032 ein geeintes, grenzenloses Europa mit vorwiegend überschaubaren, regionalen Verwaltungen. Er sah, während die Welt ihre schwerste Wirtschaftskrise erlebte, eine Gesellschaftswirtschaft voraus, die keine Krisen mehr kennen würde und in der vor allem freie, selbständige, genossenschaftlich geeinte Menschen ihre Geschäfte organisieren würden. Drei Jahre bevor in Deutschland überhaupt der erste Fernsehsender auf Sendung ging, prognostizierte er, daß im Jahre 2032 ein Bildtelefon in jedem Haushalt stehen würde und lautlose Fahrzeuge in damals unvorstellbarer Zahl über gut ausgebaute Straßen glitten. Wenn der Satz gilt, daß man einen guten Theoretiker an der Treffsicherheit seiner Prognosen erkennt, dann findet man bei Oppenheimer reichlich Material und Belege für einen analytisch scharfen Verstand.

Indes mochten die Zeitgenossen vieles nicht glauben oder annehmen von dem, was Oppenheimer ihnen unterbreitete. Warnungen vor dem Faschismus, Analysen der Unzulänglichkeiten der damaligen ökonomischen Verhältnisse und wirtschaftswissenschaftlichen Theorie sowie der gewiesene Weg in eine willentlich herbeiführbare bessere Zeit blieben ungehört. Erst nach dem Krieg, in dem die große soziale Sprengkraft damals falsch geordneter wirtschaftlicher und sozialer Verhältnisse sich entladen hatte, konnte ein Mann wie Ludwig Erhard Gehör finden und aus den Trümmern [S. 82] heraus in ein »Wirtschaftswunder« führen, das auf derselben theoretischen Grundlage ebensogut vor dem Kriege hätte herbeigeführt werden können. Indes waren die Verhältnisse vor dem Krieg und der nationalsozialistischen Machtergreifung nicht dergestalt, daß die theoretischen Erkenntnisse Oppenheimers und seiner Schüler zur Wirkung hätten kommen können. Die Verantwortlichen jagten anderen Dingen nach als ausgerechnet den Wohlstand des Volkes zu fördern, indem die von den Herrschenden ausgenutzten Verhältnisse und errichteten Hindernisse abgebaut worden wären. Der Glaube an den Segen übermächtiger Monopole prägte jene Zeit, und die Kumpanei zwischen der konzentrierten wirtschaftlichen Macht und der politischen Macht richtete sich mit geeinten Kräften gegen die Schaffenskraft des Volkes (Rüstow 1957, 160).

Erst Erhard hatte das Format, den Wettbewerb der Unternehmer als anspornende Kraft der Gesellschaftswirtschaft wieder zu entfachen; erst unter seiner Führung zerbrach der Irrglaube an die Nützlichkeit der großen und übermächtigen Unternehmen; erst in seiner Amtszeit wurde es zur Selbstverständlichkeit, daß eine Wirtschaftspolitik Chancengleichheit und möglichst nicht zu weit auseinanderklaffende Einkommensverhältnisse anzustreben habe, die durch Arbeit redlich erworbene Kaufkraft der breiten Massen also erstes Ziel politisch gelenkter Wirtschaft sein muß, damit alle Teile miteinander gedeihen können und der soziale Friede auf Dauer gesichert ist. Leider gab es unter den Ökonomisten der Folgezeit keinen zweiten mehr, der die gleiche Konsequenz bei der Aufgabe an den Tag gelegt hätte, die Wirtschaft bis zum äußersten zur Leistung anzuspornen (statt sich den Managern und Eignern anzudienen) und zugleich den schuldenfinanzierten Forderungen gegen »Vater Staat« die Stirn zu bieten, wie dies durch falsch verstandene Wohlfahrts- und Wirtschaftspolitik zum Schaden nachfolgender Generationen im Anschluß geschehen ist. Aus dem neuerlichen Sündenfall sollte man lernen, daß soziale Leistungen dauerhaft gesichert nur aus den erwirtschafteten Überschüssen bezahlt werden können und das eigentliche Problem, die Leistungsfähigkeit einer Wirtschaft zu erhalten, als Kampf gegen die Trägheitsmomente der Wirtschaft geführt werden muß. Kein noch so großer, der Wirtschaft in der Form von Subventionen (oder ähnlichem) vor die Füße gelegter Knochen kann sie zum Jagen treiben.

Die Organisation des Staates

Buchtitel (1933 im
Alfred Protte Verlag,
Potsdam)

»Die Tendenz der Entwicklung des Staates führt unverkennbar dazu, ihn seinem Wesen nach aufzuheben: er wird aufhören, das »entfaltete politische Mittel« zu sein und wird »Freibürgerschaft« werden. Das heißt: die äußere Form wird im wesentlichen die vom Verfassungsstaate ausgebildete bleiben, die Verwaltung durch ein Beamtentum: aber der Inhalt des bisherigen Staatslebens wird verschwunden sein; die wirtschaftliche Ausbeutung einer Klasse durch die andere. Und da es somit weder Klassen noch Klasseninteressen mehr geben wird, wird die Bureaukratie des Staates der Zukunft jenes Ideal des unparteiischen Wahrers des Gemeininteresses wirklich erreicht haben, dem die heutige sich mühsam anzunähern versucht. Der »Staat« der Zukunft wird die durch Selbstverwaltung geleitete »Gesellschaft« sein.« (Oppenheimer 1990, 131)

An der Stelle des alten Staates »steht jetzt die föderalistische Gesellschaft auf dem Plan; das heißt: ein Gemeinwesen, das allen örtlichen und beruflichen Gruppen grundsätzlich soviel Freiheit läßt, wie mit dem Wohl der Gesamtheit irgend verträglich ist. Zentralisiert sind wahrscheinlich noch die [S. 83] großen Verkehrsunternehmungen, weil sonst leicht Privatmonopole entstehen könnten, zentralisiert sind selbstverständlich Recht und Gerichtswesen, weil im ganzen Kreise gleiches Recht und gleiche Rechtspraxis herrschen müssen, zentralisiert ist, solange es noch nötig ist, das Wehrwesen und ein Teil der Polizeimacht und so weiter. Aber im übrigen begnügt sich der »Staat« damit, seinen Untergliedern gewisse Mindestleistungen vorzuschreiben und behält sich die Aufsicht darüber vor, läßt ihnen aber in diesem Rahmen völlig freie Hand und hat nicht im mindesten etwas dagegen einzuwenden, wenn sie aus eigenen Steuermitteln in Schule und Straßenwesen, in Bauten und Kunstpflege und so weiter die Minima beliebig überschreiten; er stachelt diesen Wettbewerb der Kollektivitäten um die höchste Ehre innerhalb der ganzen Gemeinschaft im Gegenteil nach Kräften an.« (Oppenheimer 1964a, 774)

Die Zentralisierung durch den absoluten Staat war nach Oppenheimer einst eine unvermeidliche Notwendigkeit, weil das durch die Ausschreitungen des politischen Mittels geschaffene Chaos gar nicht anders hätte geschlichtet werden können als durch die Schaffung eines »Staatsuntertan« nach einheitlichem Recht. »Es war ein Stück des Weges zur Gerechtigkeit, das hier gegangen wurde: denn Gerechtigkeit ist Gleichheit, und der absolute Staat hat wenigstens die Gleichheit der Untertanenschaft hergestellt.« Dennoch war dieser »Gipsverband«, unter dem »die vollkommen zerbrochenen Knochen der Gemeinschaft wieder zusammenheilen konnten«, ein Übel, denn die Zentralisierung »diente zuletzt doch immer der Herrschaft und der Ausbeutung und der Niederpflügung allen Eigenwuchses« (Oppenheimer 1964a, 774).

Für den zentralen Parlamentarismus und das heutige Parteienwesen prognostizierte Oppenheimer (1964a, 772) einen radikalen Wandel. Echte Parteien werde es in einer Zukunftsgesellschaft nicht mehr geben, »wo die Klassen verschwunden sind: denn eine völlig homogene Gesellschaft wäre nicht mehr imstande, dauernde Parteigegensätze in sich zu bergen. Wohl aber wird es, hoffentlich, unechte Parteien, Parteiungen und Fraktionen genug geben, in denen der Ehrgeiz strebt, sich an die höchste sichtbare Spitze durchzuringen, zur Führerschaft im kleineren oder größeren Kreise: vom Vorstand des Vergnügungsvereins über den Stadtverordnetenvorsteher der Kleinstadt bis zum Präsidenten der nationalen Republik, des Völkerbundes und vielleicht des planetarischen Bundes. Davon sofort!
Zunächst die Feststellung, daß aller solcher Aufstieg nicht mehr wie heute durch die Begabung des Agitators zur rednerischen Faszination der Masse und zur Skrupellosigkeit der Versprechungen, sondern lediglich durch wirkliche Leistungen im Interesse der kleineren oder größeren Gruppe möglich ist, in der er aufsteigen will. (...)
Dem bloßen Redner, dem Agitator mit dem schwülen Kopf und dem kalten Herzen, fehlt hier der Resonanzboden, den nur die Klassenscheidung bieten kann. (...) Hier handelt es sich nicht mehr darum, den Gegner für das bekannte Gemisch von Schurke und Trottel zu erklären und selber die unmöglichsten Versprechungen zu machen, sondern hier handelt es sich um praktische Leistungen: um Straßen, Häfen und Eisenbahnen, öffentliche Bauten, Verwendung der Steuermittel, da es hier nicht mehr darum geht, die Lasten auf die Schultern der einen zu legen, um die anderen zu bereichern. Hier sind alle Interessen gleich, und somit ist das Ziel für alle dasselbe: es kann sich nur darum handeln, welches der Zwischenziele zunächst, und wie es am besten erreicht werden kann. Und darüber entscheidet nicht mehr 'Rednergebärde und Sprechergewicht', sondern Sachverstand und ehrliche Arbeit. (...): wo es sich nicht um hohe Politik, sondern um praktische Aufgaben handelt, da kommen 'the brains to the top' wie in den genossenschaftlichen Kolonien nach Nordhoff überall.
Und es handelt sich nirgends mehr um hohe Politik. Das wollen wir zunächst für die Innenpolitik darlegen. Es gibt keine Klassengegensätze mehr, die auszugleichen und im Notfall niederzuhalten sind; es gibt keine partikulären Klasseninteressen mehr, die miteinander in dem widerlichen Schacher des heutigen Parlamentbetriebes kompromittieren. Und mehr:
Es gibt keinen zentralisierten Staat mehr!
Der zentralisierte Staat von heute, der sich in alles mischt, der alles regiert und reguliert, der dem Bürger kaum in seinen privatesten Verhältnissen etwas freien Raum läßt, ist geradeso expropriiert, von innen her ausgehöhlt und entkräftet, wie der Kapitalismus, dessen Gehäuse er war.«

Die föderale Ordnung

Die Möglichkeit einer funktionierenden Demokratie ist nach Oppenheimer gebunden an die Umwandlung des Zentralstaates in ein föderales [S. 84] System. In diesem stehen ganz unten die überschaubaren Einheiten der Gemeinden, Stadtteile oder Genossenschaften, in denen die Menschen zuallererst mit eigenen Mitteln in Übereinstimmung mit den übergeordneten Rechtsvorschriften den Teil ihrer Angelegenheiten besorgen, der ausschließlich sie selber betrifft. Hier bereits soll gelten, daß bei dem Einsatz der erhobenen Steuermittel nicht mehr der eine Bezirk für den anderen bezahlt und beide zusammen für einen dritten, sondern ein jeder Kreis und in diesem wieder jede Untereinheit soll zuallererst einmal für sich selber sorgen. Davon mag man in Katastrophenfällen aus Gründen der Solidarität und Mitmenschlichkeit abweichen, aber nichts fördert nach Oppenheimer so sehr die Sparsamkeit einer öffentlichen Verwaltung, als daß es sich bei den Leistungsentrichtern und Leistungsbeziehern um den selben Personenkreis auf einem Gebiet handelt. Wenn in den zur demokratischen Regelung geeigneten Verbänden ein bestimmtes Budget zur Verfügung steht, das es optimal zu verwenden gilt, dann wird man damit sorgsamer umgehen und der Verwaltung andere Aufträge erteilen, als wenn ein anonymer zentraler Geldtopf mit einer fernstehenden zentralen Verwaltung in jedem Fall bedrängt und belagert werden muß und am Schluß jeder für die Dinge soviel erhält, wie man dem entfremdeten Verteilungsmechanismus eben abzuschwatzen geschafft hat.

Von den dezentralen demokratischen Gemeinwesen ausgehend sollen jeweils qualifizierte Personen in die übergeordneten Verbände hineingewählt werden, damit man dort etwa auf Kreis-, Stadt- oder Kantonsebene die Dinge besorgt, die alle untergeordneten Einheiten gemeinsam angehen, aber nicht das gesamte Land. Auf dieser Ebene soll auch die Landesverteidigung organisiert werden, so daß keine zentrale Regierung mehr über Truppen verfügt, die sie aus zentralistischem Interesse gegen ihre Landesteile oder Nachbarn einsetzen kann, sondern angewiesen ist auf die Entsendung von Truppen aus den Landesteilen, die dem Ruf nur folgen werden, wenn ein echter Verteidigungsfall vorliegt.

Oppenheimer geht es wohlgemerkt um eine föderale und keine partikularistische Ordnung, wie es sie in Deutschland vor der Vereinigung der Kleinstaaten gegeben hat. »Der Partikularismus will nicht die Dezentralisation, sondern die Zentralisation, nur auf kleinerem Gebiet: statt eines zentralisierten Großstaates eine Reihe locker verbundener zentralisierter Kleinstaaten. Das ist ganz etwas anderes, und gewiß nichts gutes.« (Oppenheimer 1964a, 776). Die von unten her aufgebaute Ordnung wird auch alles andere als anarchistisch oder führungslos sein. Es wird weiterhin Ordnung geben, wenn auch mit einem anderen Zuschnitt der politischen Gebiete, anderen Zuständigkeiten der Gewählten und anderen Auswahlverfahren als im zentralistischen Parlamentarismus üblich sind. Um dies zu veranschaulichen zitiert Oppenheimer (1964a, 778) Constantin Frantz (1858):

»Soll in einem Staat politische Freiheit bestehen, so muß das Volk sich selbst regieren. Die Teilnahme an der Gesetzgebung folgt dann ganz von selbst, während nicht umgekehrt aus dem Letzteren auch das Erstere folgt.« (S. 247) »Mag die Zentralgewalt im Kabinett eines absoluten Monarchen oder in einer konstitutionellen Kammer oder in einem souveränen Konvente ruhen, das ändert sehr wenig an der Sache. Immer bleibt die politische Freiheit haltungslos und kaum mehr als ein frommer Wunsch, solange die Gemeinden, Kreise und Provinzen nicht auf eigenen Füßen stehen. Ist dies nicht der Fall, so muß man sie auf eigene Füße zu stellen suchen, und nur insoweit das gelingt, wird politische Freiheit Wurzeln schlagen. (S. 214)«

Die Organisation der Wirtschaft

Nach Oppenheimer kann eine Marktwirtschaft verschiedene Ausprägungen annehmen. Die historisch bekannte Ausprägung der Marktwirtschaft als »Kapitalismus« ist nur dort gegeben, wo erstens eine große Anzahl von Wirtschaftspersonen nicht über die zur eigenständigen Arbeitsverwendung notwendigen Mittel verfügt und zweitens das Überangebot der zur abhängigen Arbeit verurteilten Klasse diese bei Strafe ihres Unterganges zwingt, sich der Bewirtschaftung durch eine ökonomisch stärkere Klasse zu unterwerfen (Oppenheimer 1964b, 1116). Wenngleich es auch noch andere Möglichkeiten der Ausbeutung von Abhängigkeiten gibt als im unmittelbaren Arbeitsprozeß, so liegt doch die stärkste Fessel für eine ökonomisch unterlegene Klasse in der Unmöglichkeit, durch Einsatz ihrer Arbeit die Mittel zu erwerben, die notwendig wären, um sich aus all den anderen möglichen Formen ausbeutbarer Abhängigkeit zu lösen.

Obgleich Oppenheimer hinsichtlich der Kapitalismus-Beschreibung unverkennbar mit Marx übereinstimmt, läßt er dessen Gleichsetzung von [S. 85] »Kapitalismus« und »Marktwirtschaft« nicht gelten. Es kann Oppenheimers Ansicht nach zu keinem Erfolg führen, wenn die politische Herrschaft auf dem Sektor der Wirtschaft durch eine noch verschärfte Form der Herrschaft politischer Apparate oder Parteien ersetzt wird. Wo Macht sich konzentriert, da wird sie auch mißbraucht. Und kein noch so sehr von seiner eigenen edlen Gesinnung überzeugter Kommunist hat es vermocht, in einem politischen System, das von vornherein auf die Konzentration von Macht angelegt war, die Freiheit, Individualität, Gerechtigkeit und Würde des Menschen zu beschützen, auf die hin der ganze Versuch angelegt war. Man hat die Freiheit letztlich immer der Gleichheit geopfert und auch im bürgerlichen Lager mit umgekehrten Vorzeichen geglaubt, daß Freiheit und Gleichheit unvereinbar miteinander seien.

Oppenheimers Kritik annehmen hinsichtlich der »sozialen Unmöglichkeit« des Kapitalismus führt in keinster Weise dazu, mit den von Marx inspirierten Kritikern des Kapitalismus bei der gezeichneten Alternative übereinzustimmen, sondern bedeutet in scharfem Gegensatz dazu, der Freiheit des einzelnen in einem umfassenderen Sinne zum Durchbruch zu verhelfen. »Was fordert denn der Liberalismus für das Individuum oder die Persönlichkeit? Erfordert Freiheit. Was aber ist Freiheit? Aristoteles sagt: »Der eine Bestandteil der Freiheit ist, abwechselnd zu regieren und regiert zu werden, der andere, zu leben nach eigenem Belieben«.« (Oppenheimer 1964a, 801).

Freiheit und Demokratie werden bei Oppenheimer von der Emanzipation des wirtschaftenden Menschen ausgehend entwickelt. Daß der Mensch nach dieser Freiheit kraft seiner Vernunft strebt und die erwartbare Modernisierung der Gesellschaft auf diesem Wege vonstatten geht, beschreibt die für ihn erkennbare Tendenz. Sie mündet in einem dem Kapitalismus seiner Zeit konträren Modell. Eckpunkte darin sind

  • die (klassen-)monopolfreie Wirtschaft,
  • der Wegfall der »Reservearmee« (Arbeitslosigkeit) durch einen höheren Grad an Selbständigkeit in frei zustandegekommenen Kooperationsbeziehungen,
  • der Ausgleich aller Einkommen durch freien Wettbewerb der Berufsgruppen und Gewerbe.

Gegen die »Konkurrenz der Ungleichen«

In seinem utopischen Roman trägt Oppenheimer (1932, 67) das Problem der Machtasymmetrie als Kernproblem des Kapitalismus im Rahmen eines Dialogs vor: »Monopol heißt, Ausschluß der freien Konkurrenz aufgrund einer Übermacht. Wo Konkurrenz besteht bei Vorhandensein von Monopolen, da ist es nicht freie, da ist es gefesselte Konkurrenz. Da zieht der Monopolist am langen Hebelarm, da ist die Waage des Marktes gefälscht, - und das war der Kapitalismus.« Entsprechend war zur Überwindung des Kapitalismus »keine funkelnagelneue Wirtschaftsmaschine aufzubauen, wie die Kommunisten faselten, sondern bloß die Konkurrenz von ihrer Hemmung zu befreien. Und das war, einmal erkannt, sehr einfach. Im Verhältnis zu den Utopien der Weltverbesserer soviel einfacher, wie es einfacher ist, einem geknebelten Menschen die Fesseln abzunehmen, als einen künstlichen Menschen zu fabrizieren.« »Schon vor zweihundert Jahren hat der Amerikaner Caray die Wahrheit fast ganz in der Hand gehabt, und sein deutscher Schüler Dühring und dessen Schüler haben sie immer wieder in die Welt hinausgerufen. Aber niemand wollte sie hören. (...) Klassenbefangenheit! Die Bürger verteidigten unbewußt ihre Privilegien - und die Proletarier ließen sich von ihnen das Gesetz des Denkens vorschreiben. (...) Die Bürger erklärten die gefesselte, oder sagen wir besser die ungleiche Konkurrenz, das heißt die Konkurrenz zwischen Ungleichen, für die freie oder gleiche Konkurrenz, und deshalb wollten die Arbeiter die Konkurrenz überhaupt abschaffen. (...) Plan setzt fest, was wie und wo an Gütern hergestellt wird, wie es dahin gebracht wird, wo man's braucht, und an wen es ausgegeben wird. Irrtümer gibt's nicht! Reibung gibt's nicht! Der Mensch als Maschinenteilchen - wahrhaftig, von allen Illusionen eurer wahnsinnigen Zeit die allerverrückteste! (...) Man hielt die Krankheit für die Gesundheit. (...) Stell' dir eine ganz isolierte Insel vor, deren sämtliche Einwohner schon als kleine Kinder malariakrank werden. Was werden die Anatomen glauben müssen? Natürlich, daß eine Riesenmilz die Norm ist. Das sind eure Mammutvermögen. Die Physiologen werden annehmen, daß alle zwei Tage Schüttelfrost und hohes Fieber natürlich sind. Das sind eure Wirtschaftskrisen. Und die Priester werden zu einem Gott des Fiebers nach einem feierlich ausgebildeten Zeremonial beten lassen und das Schwarzwasserfieber als Strafe [S. 86] der Sünden darstellen.« (Oppenheimer 1932, 72) Mit der Abschaffung der »Konkurrenz der Ungleichen« muß der Mehrwert verschwinden. »Die Riesenvermögen und Rieseneinkommen des Kapitalismus kann es nicht mehr geben, ebensowenig wie allgemeine Krisen. Die Ergiebigkeit der Arbeit ist sehr groß, dank der Verwendung sehr starker Maschinerie; daher lebt jeder Arbeitende in Wohlstand.« (Oppenheimer 1932, 74)

Das Gleichgewicht der »reinen Ökonomie« wird sich nach Oppenheimer auf den Punkt einstellen, den bereits Johann Heinrich von Thünen beschrieb: »Wenn durch den Preis der Ware die Arbeit von gleicher Qualität in allen Geworben gleich hoch gelohnt wird, so findet das Gleichgewicht statt.« Den dahinterstehenden Ausgleichsmechanismus beschrieb Adam Smith mit den Worten: »Wenn in derselben Gegend irgendeine Beschäftigung entweder vorteilhafter oder weniger vorteilhaft wäre, als die übrigen, so würden in dem einen Falle so viele ihr zuströmen, in dem anderen so viele sich von ihr abwenden, daß ihre Vorteile bald wieder mit denen anderer Beschäftigungen in eine Linie kämen.« Der freie Wettbewerb hat demnach die Wirkung, daß der Schuster auf die Dauer nicht mehr verdienen kann als der Schneider, »der Fabrikant von Automobilen nicht mehr als der Fabrikant von Stecknadeln, der Arzt nicht mehr als der Anwalt.« (Oppenheimer 1932, 64) Wo sich dieser Effekt bislang nicht einstellte, ist der Zustand des Kapitalismus demnach noch nicht überwunden und das Ziel der Sozialen Marktwirtschaft mit immanent ökonomischem Ausgleichsmechanismus nicht erreicht.

Selbstbestimmung und Selbstverantwortung sind die beiden Seiten der Emanzipation, einmal ausgedrückt in der Maßzahl hinzugewonnener Freiheit und einmal ausgedrückt in der Maßzahl aufgegebener Leichtigkeit. Der befreite Mensch wird es schwerer haben in seinem Leben, weil er mehr begreifen muß, mehr durchdenken muß, mehr an Unsicherheit aushalten muß, für Fehleinschätzungen stärker selber gestraft wird etc. Deswegen rufen alle, die es heute noch nicht gelernt haben, die Bürden der Freiheit selber zu tragen, nach einem Herrn, einem Gesetz, dem Staat oder einer Verwaltung, die für sie denken und regeln möge, was aus der Unfähigkeit zur Eigenständigkeit heraus angst macht. Aber, und das sei hier als Herausforderung und Zielvorgabe für den kulturell einzuschlagenden Weg formuliert, je weitergehend zukünftige Generationen auf ihrem Bildungsweg lernen, diese Lasten zu tragen, desto leichter werden ihnen die Lasten scheinen und wird die Fähigkeit zur selbstverantworteten Selbstbestimmung wachsen. Das heißt nicht, daß die Gesellschaft der Zukunft ohne Kooperationen und ohne einen Gesellschaftsvertrag auskommen würde. Es heißt aber, daß die Kooperationen auf der wertmäßigen Grundlage emanzipierter Persönlichkeiten aufbauen, von denen es keine mehr nötig hat, sich dem anderen zu unterwerfen und auch niemand mehr auf die Idee käme, in dem anderen etwas anderes als einen Partner zur Bewältigung gemeinsamer Herausforderungen zu sehen.

Liberale Perspektiven

Die Oppenheimersche Theorie ist bis in die Gegenwart hinein politisch heimatlos, obgleich Oppenheimer früher, eindringlicher und letztlich wirkungsvoller Wege in die Freibürgerschaft und Soziale Marktwirtschaft gewiesen hat als jeder andere Gesellschaftswissenschaftler seiner Zeit. Sie ist, was die liberale Sache angeht, aber auch alles andere als bequem, weil sie das, was heute von Liberalen unter »Wirtschaftsliberalismus« verstanden wird, nur hinsichtlich der ethischen Werte »Freiheit« und »Selbstverantwortung« teilt, während eine ansonsten gänzlich andere theoretische Auffassung von dem Funktionieren der Gesellschaftswirtschaft entwickelt wurde.

Nehmen wir exemplarisch den Streit um den Wirtschaftsstandort Deutschland. Aus Oppenheimers Sicht betrachtet ist das Gejammere der Unternehmen über Lohnkosten und für den Export ungünstige Wechselkurse völlig fehlgeleitet. Natürlich gibt es einen Kampf um die Ertragsteilung in den Unternehmen und hat ein jeder Produzent gegen Kosten anzukämpfen, aber Ziel der Wirtschaft muß eine hochentwickelte, rationelle Produktion sein und nicht der Klassenkampf des Managements gegen seine Mitarbeiter um die erwirtschafteten Erträge. Eine Bezahlung nach Leistung erfüllt auch in den Unternehmen die Funktion, die abhängig beschäftigten Mitproduzenten zu vollem Einsatz zu reizen. Es zeugt von einer bedauernswerten Haltung in diesem Lande, wenn Unternehmen, wie etwa Siemens, Gewinnsteigerungen von 25 Prozent bei gleichzeitig geplanter Entlassung von 7 000 Mitarbeitern veröffentlichen und »Standortprobleme« als Legitimation für die Zerschlagung von Produktionsvolumina anführen.

[S. 87] Tatsächlich ist Deutschland das Land mit den höchsten Wachstumsraten aller westlichen Industrienationen (The Economist vom 28.1.1995) und leiden statt dessen viele Großunternehmen unter ihren verkrusteten Strukturen, in denen es ebenso schwer ist wie in einer Behörde, revolutionäre Gedanken bis in die Führungsspitze zu tragen und umzusetzen. Diese wandlungsunfähigen Unternehmen schrumpfen sich gesund, weil sie krank sind!

Eine Wirtschaft funktioniert dann gut, wenn in ihr fleißig, innovativ und nach Regeln der Fairness gearbeitet wird. Wenn ein Management die Fähigkeit verliert, die gegebenen Arbeitspotentiale in Produkte umzusetzen und statt dessen beginnt, Unternehmensteile im Grenzbereich der Rentabilität zu zerschlagen, ohne beizeiten neue Tätigkeitsfelder zu entwickeln, dann funktioniert der Wettbewerb bei den Führungsmannschaften nicht mehr, weil nur noch Rotstiftexperten mit destruktiven Gewinnfantasien in die oberen Schichten konzentrierter Macht und Pfründe aufsteigen können, während die experimentell und innovativ veranlagten Elemente mangels Rechenhaftigkeit eventuel1er Wagnisse von den Finanzbürokraten ausgebremst werden. Man kann als Gesellschaft nur hoffen, daß die vorhandenen kreativen Potentiale der Gesellschaftswirtschaft in Unternehmensneugründungen umschlagen und als klein- und mittelständische Unternehmen die Erneuerungspotentiale freisetzen, die die Gesellschaft zur Bewältigung des stets vorhandenen Strukturwandels benötigt. Diese Wandlungsprozesse schützend zu begleiten und die Chancen des Marktzutritts für eintretende Anbieter gegen die Interessen der etablierten und vielfach träge gewordenen Altunternehmen durchzusetzen, das wäre Wettbewerbspolitik im Oppenheimerschen Sinne.

Die Überwindung der kapitalistischen Krisen und Sicherung eines dauerhaften Wohlstandes ist unmittelbar geknüpft an die Realisierung maximal hoher Löhne der breiten gesellschaftlichen Schichten. Diese, für »Wirtschaftsliberale« unannehmbare Position, auf deren Richtigkeit bereits Henry Ford (1923, 135 und 1930, 5) hinwies, mag angesichts gegenwärtiger Diskussionen irritieren. Doch bedeuten verdient hohe Löhne der Allgemeinheit in jeder Hinsicht einen Fortschritt auf dem Weg zur Sozialen Marktwirtschaft, sowohl was das Zusammenwachsen der sozialen Klassen angeht als auch hinsichtlich der Realisierung des möglichen Technologiefortschrittes. »Eine Maschine ist, volkswirtschaftlich gesehen, ein Ding, das Arbeit spart, ist aber, vom privatwirtschaftlichen Standpunkt des Unternehmers gesehen, ein Ding das Löhne spart. Folglich sind um so gewaltigere Maschinen rentabel, je höher die Löhne stehen. Dennoch wird das Produkt billiger. (...) Da in der reinen Ökonomie die Löhne ihr mögliches Maximum erreichen, ist auch dem Maximum der technisch möglichen Maschinerie die Rentabilität sicher.« (Oppenheimer 1964a, 748) Beispielsweise findet man den technologischen Fortschritt und die steigende Produktivität unmittelbar an maximal hohe Löhne gekoppelt, wenn man die Fertigungstechnik in der Bauindustrie betrachtet. Während in Japan angesichts fehlender und teurer Arbeitskräfte spezielle Roboter konstruiert wurden, um dortige Hochhäuser aufzubauen, wird in Deutschland dank reichlich verfügbarer, zuweilen extra aus dem »billigeren Ausland« herbeigeschaffter Arbeitskräfte an der tradierten Fertigungstechnik festgehalten.

Eine wirtschaftspolitische Einflußnahme, die nicht in Kategorien der Masse argumentiert, sondern in Kategorien privilegierter Eliten, kann zur Ausheilung ökonomischer Probleme, die schließlich die Gesellschaftswirtschaft als solche betreffen, wenig beitragen. Es gibt in einer Wirtschaftsgesellschaft keine Wirtschaftspersonen, die der wirtschaftlichen Emanzipation und Einbindung in den produktiven Gesamtprozeß unwürdig wären und auf die vom Standpunkt des bereits emanzipierten Stärkeren heruntergeguckt werden könnte, ohne daß damit der Schlüssel zu einer insgesamt entwickelten, aus sich heraus dynamischen und dauerhaft Wohlstand produzierenden Gesellschaftswirtschaft preisgegeben wird.

Die Oppenheimersche Theorie begründet von daher einen Ansatz, der als »liberal« bezeichnet werden kann, weil er die Idealvorstellungen einer zukünftigen, voll entwickelten Bürgergesellschaft verteidigt. Er grenzt sich von der rechts-konservativen und links-konservativen Vorstellung einer Gesellschaftsentwicklung per Staatsräson ab, ohne deswegen dem entgegengesetzten Irrtum zu verfallen und die Gesellschaft ihrer geistlosen »Natur« zu überlassen. Oppenheimer fordert die kulturelle Weiterentwicklung und bietet dazu eine wirtschaftspolitisch attraktive Erkenntnisbasis für einen Liberalismus mit sozialem Antlitz, der nicht Almosen verteilt, sondern seine Bürger fordert und fördert auf dem Weg eines generationenübergreifenden Wandlungsprozesses von der kapitalistischen Klassengesellschaft in die Freibürgerschaft und Soziale Marktwirtschaft.

Literatur

(gegenüber Erstabdruck wurden einige Fehler korrigiert)
  • Erhard, Ludwig (1988): Gedanken aus fünf Jahrzehnten. Düsseldorf. Darin speziell:
    Gestern - Heute - Morgen. Schallplattenaufnahme vom 9. Juni 1961 im Gespräch mit Hans Otto Wesemann, S. 684-716,
    Online: Rede zu Oppenheimers 100. Geburtstag in der FU Berlin, S. 858-864.
  • Ford, Henry (1923): Mein Leben und Werk. Leipzig
  • Ford, Henry (1930): Und trotzdem vorwärts, Leipzig
  • Franke, Holger (1991): Leonard Nelson. Ein biographischer Beitrag unter besonderer Berücksichtigung seiner rechts- und staatsphilosophischen Arbeiten. Ammersbek bei Hamburg
  • Frantz, Constantin (1858): Die Naturlehre des Staates. Leipzig
  • Herzl, Theodor/ Oppenheimer, Franz (1964): Briefwechsel. in: Bulletin des Leo Baeck Instituts, Bd. 7, S. 21-55.
  • Online: Kruck, Werner (1993): »Marktwirtschaftliche Selbststeuerung« und »gemeinwirtschaftliche Selbsthilfe« - Zur Politischen Ökonomie einer ostdeutschen Gesundungsstrategie. In: Arbeit. Zeitschrift für Arbeitsforschung, Arbeitsgestaltung und Arbeitspolitik, 2. Jg., S. 242-263.
  • Online: Kruck, Werner (1997): Franz Oppenheimer - Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft und Selbsthilfegesellschaft. Berlin, Berlin-Verlag [online nur Inhaltsverzeichnis und Rezensionen].
  • Kruse, Volker (1992): Zwischen »Kapitalismus« und »liberalem Sozialismus«. Die westliche Nachkriegsgesellschaft im Lichte der Kategorien Franz Oppenheimers. Ein theoretisches Experiment. In: Geschichte und Gegenwart, 11. Jg., S. 19-43.
  • Oppenheimer, Franz (1896): Die Siedlungsgenossenschaft. Versuch einer positiven Überwindung des Kommunismus durch Lösung des Genossenschaftsproblems und der Agrarfrage. Leipzig
  • Oppenheimer, Franz (1903a): Das Grundgesetz der Marxschen Gesellschaftslehre. Darstellung und Kritik. Berlin
  • Oppenheimer, Franz (1903b): Die Niederlage des deutschen Liberalismus. In: Freistatt. Kritische Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst, %. Jg., S. 603-604.
  • Online: Oppenheimer, Franz (1927): Demokratie. In: derselbe, Soziologische Streifzüge. Gesammelte Reden und Aufsätze. München, S. 159-187.
  • Online: Oppenheimer, Franz (1929): »Franz Oppenheimer«. In: Felix Meiner (Hg.), Die Volkswirtschaftslehre der Gegenwart in Selbstdarstellung, Bd. 2, Leipzig S. 68-116.
  • Oppenheimer, Franz (erschienen unter dem Pseudonym Francis D. Pelton) (1932): Sprung über ein Jahrhundert. Bern
  • Oppenheimer, Franz (1962): Weder Kapitalismus noch Kommunismus. 3. Aufl., Stuttgart
  • Oppenheimer, Franz (1964a): System der Soziologie, Band II, Der Staat, 2. Aufl., Frankfurt am Main
  • Oppenheimer, Franz (1964b): System der Soziologie, Band III, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, 2. Aufl.. Frankfurt am Main
  • Online: Oppenheimer, Franz (1964c): Erlebtes, Erstrebtes, Erreichtes. Lebenserinnerungen. 2. Aufl., Düsseldorf
  • Online: Oppenheimer, Franz (1990): Der Staat. Eine soziologische Studie. Berlin, Libertad-Verlag
  • Rüstow, Alexander (1957): Ortsbestimmung der Gegenwart, Bd. 3, Herrschaft oder Freiheit? Erlenbach-Zürich
  • Schayer, Konrad (1954): Franz Oppenheimer und die israelischen Siedlungsgenossenschaften. In: Archiv für öffentliche und freigemeinnützige Unternehmen, Bd. 1, S. 144-158.
  • Vogt, Bernhard (1994): Marktwirtschaft und Europa. Der erste Frankfurter Ordinarius für Soziologie. In: Frankfurter Jüdische Nachrichten, Nr. 84, März/April 1994, S. 29-30.
  • Wünsche, Horst-Friedrich (1986): Ludwig Erhards Gesellschafts- und Wirtschaftskonzeption. Soziale Marktwirtschaft als Politische Ökonomie. Stuttgart