Der Spiegel, Jg. 7, Nr. 37 vom 9. September 1953

SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT

 Die Flucht nach vorn

 in: Der Spiegel, Jg. 7, Nr. 37 vom 9. September 1953, S. 11-17.

Acht Tage vor der westdeutschen Steuersenkung für Kaffee schlürfte am Frühstückstisch eines Heilbronner Hotels ein massig - älterer Herr seine Tasse Schwarzen. Dabei fragte er den bedienenden Ober: "Sagen Sie mal, was soll denn die Tasse Kaffee bei Ihnen nach der Steuersenkung kosten?" Ein wenig zögernd kam die Antwort: "Der Preis wird von 65 auf 60 Pfennig herabgesetzt."

Worauf der massig - ältere Herr explodierte: "Das ist ja unerhört. Und wenn wir die Steuer noch einmal senken, setzt ihr den Preis wohl um zwanzig Prozent herauf, was?" Sprach's, spuckte die abgebissene Zigarrenspitze aus und verließ dampfend das Frühstückszimmer. Der verdatterte Oberkellner forschte dann im Anmeldebuch nach den Personalien des erzürnten Gastes: Erhard, stand da; Wirtschaftsminister.

Die Kaffeesteuersenkung, mit, oder besser gegen Finanzminister Schäffer durchgeführt, war vor den Wahlen Ludwig Erhards letzte Tat für den Verbraucher. Die letzte primitive Reverenz einer Wirtschaftspolitik, die durch den Magen ging und die als Antriebskraft ganz ungeniert Genuß und Eigeninteresse des einzelnen benutzte. Dieser jahrtausendealte Brennstoff hat in der westdeutschen Wirtschaftsmaschinerie enorm gezündet: von 1500 Tageskalorien stieg der allgemeine Lebensstandard fast auf Friedensniveau, das Sozialprodukt[*] wuchs von 50 auf über 130 Milliarden Mark.

Auf achtzig Wahlversammlungen hat die scheidende Bundesregierung am Ende der ersten vierjährigen Regierungsperiode im westlichen Nachkriegsdeutschland noch einmal jenes rosige Gesicht herumgezeigt, das in der Weltöffentlichkeit mit dem neuerrungenen deutschen Wohlstand nahezu identisch geworden ist:

Eine Stirn, wie die westdeutsche Produktionskurve (1948 Index 63, heute 152), steil nach oben gerichtet, schmale Schweinsäuglein über aufgeplusterten Wangen (Einzelhandelsumsatz 1948 15 Mrd., heute 36) und herabhängende Fettpolster für schlechtere Zeiten (Devisenreserve 6,5 Mrd. Mark), die das kleine Kinn umrahmen. Darüber, qualmend wie die Schlote des Ruhrgebietes, die ewige schwarze Brasil.

Auch dieses Gesicht hat anders ausgesehen, als an einem Oktoberabend des Jahres 1945 ein Jeep vor Ludwig Erhards Haus in Fürth hielt, um ihn als bayrischen Staatsminister für Wirtschaft nach München zu bringen. Bis dahin kannte kaum jemand den hohlwangigen Professor des Nürnberger Instituts für Wirtschaftsbeobachtung. Und noch als Vorsitzender der Sonderstelle Geld und Kredit in Bad Homburg war Erhard ziemlich unbekannt.

Erst als er im März 1948 als Nachfolger von Hühnerfutter-Semler Direktor der Frankfurter Verwaltung für Wirtschaft wurde, sprach es sich in breiteren Wirtschaftskreisen herum, daß da so ein Verrückter namens Erhard herumlaufe, der direkt vom Mond kommen müsse. Denn der Mann führe so wirre Reden über einen in Deutschland notwendigen liberalen Wirtschaftsvorstoß.

Entsetzen aber verbreitete sich selbst unter seinen Anhängern, als dieser Mann sich dann ganz kurz nach der alliierten Währungsreform an das Mikrophon des [S.12] Rundfunks stellte und für große Warengruppen die bis dahin strenge Bewirtschaftung aufhob. Der einzige Bezugschein, den man künftig noch brauchen werde, sei die neue Deutsche Mark, erklärte er kühn.

Die Militärregierung machte darauf kurzen Prozeß. Sie holte den Wirtschaftsdirektor sofort nach der Rede aus seiner Amtsstube in der Frankfurt-Hoechster Kaserne heraus, um ihn vor die alliierten Wirtschaftsoffiziere zu zitieren. Als Erhard in den kleinen Versammlungsraum des IG-Farben-Hauses eintrat, begegnete er nur feindseligen Blicken.

Auf den Tischen der Offiziere lagen Statistiken, die über die seinerzeitige Versorgungslage Aufschluß gaben. Sie besagten nichts anderes, als daß die legal zur Verteilung kommende Produktion je Kopf der Bevölkerung folgende Leistungen ermöglichte:

  • alle 18 Jahre ein Hemd,
  • alle 29 Jahre ein Paar Strümpfe,
  • alle 98 Jahre einen Anzug.

Wie er unter diesen Umständen dazu komme, die alliierten Bewirtschaftungsvorschriften abzuändern, herrschten die Offiziere Erhard an. Was der Deutsche auf diesen Vorwurf, hinter dem das Militärstrafgesetz drohte, erwidert hat, traute sich der Dolmetscher kaum zu übersetzen: "Ich habe sie nicht geändert. Ich hebe sie auf."

Die Offiziere fluchten, er solle die Bewirtschaftung wieder einführen. Aber sofort. Eine Rundfunkerklärung sei bereits vorbereitet. Da verlangte Erhard den General Clay zu sprechen.

Es ist nicht verbürgt, ob der amerikanische General begriffen hat, was ihm der deutsche Professor damals in einer mehrstündigen Besprechung auseinandersetzte. In diesen Stunden aber wurde Erhards Prinzip des ökonomischen Durchbruchs nach vorn gesichert. Nach langen Jahren der Zwangs­ und Planwirtschaft begann die Rückführung der deutschen Wirtschaft auf die Gesetze des Marktes.

Was immer noch manchem als ein Vabanque-Spiel erscheint, erläutert Professor Erhard heute nach dem gelungenen Experiment: "Wir kannten damals zwar nur eine Seite der Bilanz, die Geldseite. Soundso viel Milliarden neuer Mark waren ausgegeben. Aber das Risiko war nicht zu groß. Denn die Planwirtschaftler vergessen, daß damals über die Kopfquote hinaus alles neue Geld nur verdient wurde durch (Produktions-)Leistung. Außerdem hatten die Leute das Gefühl, dieser neue Geldschein ist etwas Wertvolles. Damit mußt du vorsichtig umgehen."

Hier irrte Erhard. Denn die meisten Kopfquoten-Bürger starteten in jenem Sommer 1948 mit ihrem neuen Geld sofort zum Run auf die Geschäfte. Viele befürchteten eine neue Abwertung in Kürze.

Jeden Morgen, wenn Erhard in der Frankfurter Kaserne am Schreibtisch Platz nahm, fragte er seine Sekretärin, Frau Muhr: "Na, Frau Muhr, sind schon wieder mehr Textilien in den Schaufenstern?"

Bald wurde es der blonden Frau Muhr, die schon im Nürnberger Institut für Erhard gearbeitet hatte, recht sauer, zu berichten. Denn Schaufenster und Warenlager konnten kaum so schnell nachgefüllt werden, wie die aus aufgeschmolzenen Festkonten und ersten DM-Löhnen gespeiste Nachfrage wuchs. Unter oft enormen Verdienstspannen schossen die Preise nach oben. Professor Erhard aber hatte auf alles Drängen nur eine Antwort: "Wir müssen die Preise auspendeln lassen."

Im November drohte das ganze Experiment zusammenzubrechen. Erhards Erzfeinde, die Gewerkschaften, forderten jetzt die sofortige Wiedereinführung von Bewirtschaftungsmaßnahmen. Sie riefen zum Generalstreik auf.  

In der Nacht vor diesem Streik bearbeiteten zehn hitzige Gewerkschaftsführer den dickköpfigen Erhard in einem Frankfurter Sitzungssaal. Um Mitternacht drohten die DGB-Vertreter, unter ihnen Georg Reuter: "Wenn morgen die Scheiben eingeschlagen werden und Blut fließt, dann kommt das auf Ihr Haupt." Erhard blieb ungerührt.

Am Weihnachtsabend machte der Prophet dieser neuen Wirtschaftspolitik, die er soziale Marktwirtschaft nannte, dann seine erste Weissagung. Über Rundfunkstationen und Zeitungen verkündete Erhard den Verbraucherfamilien am Tannenbaum die frohe, wenn auch stark angezweifelte Botschaft: Zum Frühjahr werden die Preise bestimmt wieder fallen!"

[S.13] Das war die erste einer Reihe von Voraussagen, deren meist mysteriös-exakte Erfüllung dem Volkswirtschaftler Erhard ein Odeur verschaffte, um das ihn jeder afrikanische Medizinmann beneiden würde.

Der Volkswirtschafts-Professor Erhard machte hier offensichtlich Anleihen bei der Massen- und Tiefenpsychologie. Denn das wußte er nur zu gut. Wenn alle glauben, daß die Preise sinken, dann warten die Käufer ab, die Auftragsbücher der Industrie werden schwindsüchtig, und der entsprechende Druck des Warenangebots zwingt die Preise tatsächlich hinunter.

Auf die Frage, wieso er damals und in den folgenden Jahren seine Prognosen (s. Graphik) mit solcher suggestiven Festigkeit abgeben konnte, nimmt Ludwig Erhard heute feierlich die Zigarre aus dem Mund, denn es geht hier an den Kern seiner stark gefühlsbetonten Wirtschaftspolitik, und verkündet: "Weil ich es tief im Herzen wußte. Ich wäre ja ein Scharlatan gewesen, wenn ich nicht selbst daran geglaubt hätte."

Was er gesagt hätte, wenn es schiefgegangen wäre? Erhard: "Es konnte mit tödlicher Sicherheit nicht schiefgehen. Was man oft als meine Sturheit ausgelegt hat, war doch die wissenschaftliche Erkenntnis, daß alles so verlaufen muß, wenn wir uns richtig verhalten, und ich durfte mich durch nichts davon abbringen lassen. Das ist eben der Vorzug des Wissenschaftlers, daß er von den aktuellen Zeitverhältnissen abstrahieren kann und die ökonomischen Zusammenhänge im Auge hat."

Tatsächlich hatte sich Erhards Weihnachtsprognose bereits nach drei Monaten erfüllt. Unter dem reichhaltiger werdenden Warenangebot (auch ERP-Lieferungen) begannen die Preise erst zu stocken, dann zu purzeln. Der westdeutsche Preisindex fiel

  • von 211 im Winter
  • auf 188 im Sommer 1949.

Damit war die erste Schlacht gewonnen. Als sich dann bei der Herausnahme von immer mehr Warengruppen aus der Rationierung[**] das gesamte Preisniveau noch bis in den zweiten D-Mark-Herbst hinein weiter senkte, begann die Bevölkerung der neuen Wirtschaftspolitik Geschmack abzugewinnen. Im Propagandakrieg der Wahl zum ersten Bundestag lieferten ihre Erfolge schon die wirksamste Munition am rechten Flügel. Die zweiten Bundestagswahlen fußten schon wie selbstverständlich auf Erhards Postament, so daß man es beinahe übersah.

Am 20. September 1949 konnte, jenseits der Schwelle zum biblischen Alter, Dr. h. c. Konrad Adenauer vom Rednerpult des Bonner Bundestages herab die erste Regierungserklärung verlesen. Daß sein damals schon mehr als zwanzig Jahre alter Ehr­geiz, deutscher Kanzler zu werden, in Er­füllung gegangen war, verdankt er Ludwig Erhard. Denn mehr als der Prinzipien­streit einer Politik der "christlichen Verpflichtung" mit der anderen des "sozialistischen Fortschritts" zog die glaubwürdige Verheißung voller Läden und guten Geldes.

Aber schon ein halbes Jahr später schien es, als sei es ein Fatum, daß der Errichtung eines demokratischen Staates in Deutschland diskreditierende Wirtschaftsmiseren folgen müssen. So war es im Weimarer Staat, dem nur die drei letzten zwanziger Jahre eine kurzlebige Prosperität beschieden. So drohte es schon im ersten bundesrepublikanischen Winter 1949/50 zu werden.

Anderthalb Jahre nach Ausgabe der neuen D-Mark rannte sich der wirtschaftliche Aufschwung fest. Die binnenwirtschaftliche Expansion brach sich an den engen Grenzen des Landes, bevor Westdeutschland in den internationalen Handel zurückkehren konnte. Das Außenhandelsdefizit des Jahres 1949 betrug 3,7 Milliarden Mark.

Die Lohnwellen, durch aufreizende Unternehmer-Gewinne des ersten D-Mark-Jahres in Bewegung gebracht, hatten eine Kaufkraft geschaffen, der die Produktion noch nicht folgen konnte. Warenverknappungen drohten die Ära des schlechten Geldes und des Schwarzmarktes wieder heraufzuführen. Zugleich trotteten jede Woche 1,3 Millionen Arbeiter zum Stempeln.

Am 9. Februar 1950 stand der kürzlich verstorbene sozialdemokratische Wirtschaftsprofessor Dr. Erik Nölting am Rednerpult des Bundestages und begann seinen Rede-Feldzug gegen Ludwig Erhard, für den ihm zwei Jahre hindurch der Stoff nicht ausging. Nölting: "Am Horizont der Wirtschaft steht die Arbeitslosigkeit wie ein gespensterhaftes Wetterleuchten."

Nölting wußte die Wirtschaftsexperten der Hochkommissare auf seiner Seite. Amerikanische New Dealer, Austerity-Engländer und deutsche Sozialdemokraten fanden sich darin, daß es besser sei, zur, wenn auch gemäßigten, Verwaltung des Mangels zurückzukehren, als Ludwig Erhards massivem Optimismus weiterhin zu vertrauen.

Professor Erhard absolvierte auch diese zweite Gratwanderung, die zwischen den Abgründen Inflation und Zwangswirtschaft entlangführte, nach der Methode des französischen Philosophen Coué "Es wird, besser, es wird von Tag zu Tag immer besser", deklamierte er unentwegt. Er verhinderte damit, was in den modernen, vom Weltmarkt abhängigen und von der großen Außenpolitik beeinflußten Wirtschaften am gefährlichsten ist: die psychologische Depression der Unternehmer und Manager.

Der SPD-Professor Erik Nölting verstand es anders: "Optimismus in allen Ehren, aber es gibt einen Optimismus, [S.14] für den es eine einfache deutsche Übersetzung gibt: Bequemlichkeit."

Die baldurhafte Siegessicherheit des Wirtschaftsministers war keine Bequemlichkeit. Sie wuchs aus dem Vertrauen in die rasante Investitionsfähigkeit der konsumnahen Industrie. Was später das deutsche Wunder heißen sollte, das waren nicht zuletzt die Geschwindigkeit und der Umfang, mit denen in allen Fabriken neue, moderne Maschinen aufgestellt, die Produktionskapazitäten ausgeweitet und Arbeitsplätze geschaffen wurden.

"Die Preise werden sich auspendeln", redete Erhard sich selbst, den Produzenten und den Konsumenten Tag für Tag ein. Der Slogan wurde zur zündenden Pointe aller politischen Kabaretts. Erhard genügte es, daß er damit die Angstkäufe der Erzeuger und der Verbraucher in Grenzen hielt.

Als aber im Juni 1950 in Korea die Kanonen losgingen, da glaubte kaum noch jemand daran, daß es dem Professor Erhard gelingen könne, solange das gläubige Vertrauen im nachkriegsdeutschen Gemüt festzuhalten, die westdeutsche Wirtschaft sei total gesund, bis sie es wirklich geworden war.

Erik Nölting bepflasterte jetzt den Bundestag im Gegenpart, mit bilderreichern Pessimismus: "Die Marktwirtschaft macht die Reichen nur reicher und die Armen  ärmer."

Korea lieferte den Sprengstoff, der den Ministersessel des Ludwig Erhard fast zerpulvert hätte. Nur den Mann, der auf diesem Sessel saß, erschütterte der Spektakel nicht. Rohstoffverknappung, Rohstoff- und Seefrachten-Verteuerung riefen nun die Planungswilligen auch in Erhards eigener Partei, der CDU/CSU, auf den Plan. Der Kanzler zog die Hand von seinem Schöpfer ab.

Nölting frohlockte im Bundestag: "Herr Wirtschaftsminister, Sie haben in der heutigen Rede etwas verdächtig oft betont, daß Sie die für die Wirtschaftspolitik allein zuständige Instanz seien. So etwas legt immer den Verdacht nahe, daß sich neben Ihnen noch irgendeine Nebenregierung etabliert hat." (Heiterkeit und Beifall bei der SPD.)

Kanzler Dr. h. c. Adenauer hatte sich in der Tat eine wirtschaftspolitische Nebenregierung zugelegt. In seinem Palais Schaumburg bemühte sich der Dr. Friedrich Ernst mit einem Expertenstab um Plan-Alternativen zur Erhardschen Unbekümmertheit angesichts des koreanischen Krieges.

Der Wirtschaftsminister nahm diese Schläge kompakten Mißtrauens nicht anders als jenen Überschlag, mit dem Chauffeur Stadler ihn auf einer Fahrt nach Hannover samt dem Mercedes 300 im Straßengraben aufs Kreuz legte.

Chauffeur Stadler hatte sich noch nicht ganz aus dem Wagen gezwängt, da stand Erhard schon neben ihm, klopfte gelassen die Zigarrenasche von den Revers und sagte nur: "Da, meine Zigarre is ausgangen. Geben's mir Feuer. Und dann wollen wir schauen, daß wir weiterkommen. Ich muß da reden." Stoppte ein vorüberfahrendes Auto und hielt anderthalb Stunden später die Eröffnungsansprache auf der Hannoverschen Messe.

Der Korea-Sommer trieb die westdeutschen Lebenshaltungskosten steil in die Höhe. In der Mitte des Jahres wurden sie von den Löhnen noch überholt. Die Inflationsschraube drehte sich beängstigend schnell und bedrohte die neue Währung.

Im Frühjahr 1951 schließlich, nach einem kohle-armen Winter, war der Triumph der sozialdemokratischen Abgeordneten des Bundestages vollkommen. Und die Männer der Regierungskoalition zitterten. Alles deutete darauf hin, daß der professionelle Optimist Erhard auf seiner dramatischen Flucht nach vorn ins Loch gefallen war.

Am 14. März 1951 rief der Professor Nölting mit Falsettstimme im Bundestag seinem Gegner zu. "Herr Professor Erhard, was Sie heute auf diesem Podium brachten, das war die Mumie Ihrer Marktwirtschaft. Wenn Sie in den Spiegel schauen, möchte ich Sie fragen: Erkennen Sie sich selbst dann eigentlich noch wieder?"

Was war geschehen? Der Schöpfer der sozialen Marktwirtschaft, der liberale Professor Dr. Ludwig Erhard, hatte planwirtschaftliche Methoden angekündigt: "Was die Frage nach der Konsumbeschränkung anlangt, so ist bis zur Wiedererholung einer organischen Spartätigkeit nicht damit zu rechnen, daß ohne irgendwelche staatlichen lenkenden Einflüsse auszukommen ist." (Zurufe: Aha! und Lachen bei der SPD.)

Die in der Bevölkerung nun doch durchgebrochene Kaufnervosität hatte den Minister also belehrt. Niemand sparte mehr, alles rannte in die Läden. Zur Abwehr der Preissteigerungen wollte Erhard den Staat einsetzen. Die Zigarre war ausgegangen.

Das mußte das Ende sein. Denn Ludwig Erhard sprach auch von Zwangssparen, behördlich festgesetzten und kontrollierten Kalkulationsnormen und von Richtpreisen, von den Erzelementen der Planwirtschaft also. Nöltings Fraktion forderte: der Wirtschaftsminister soll zurücktreten.

Die Epoche Erhard schien damit vorüber. Schon sah der Kanzler sich vorsichtig nach einem neuen Wirtschaftsminister um. Eine Zeitlang glaubte er, ihn in Dr. Johannes Semler, Erhards Vorgänger beim Frankfurter Wirtschaftsrat, gefunden zu haben. Und Ludwig Erhard holte sich tatsächlich aus Hinrich Kopfs niedersächsischer SPD-Regierung den Preiskommissar Ebisch nach Bonn.

Doch der bekam kaum etwas zu tun. Denn als jedermann in Deutschland der marktwirtschaftliche Boden unerträglich heiß unter den Füßen zu werden begann, hatte Ludwig Erhard längst Morgenluft gewittert: Trotz aller aktuellen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die aus dem Korea-Krieg erwuchsen, brachte Korea auch günstigen Wind.

Dieser Krieg war das außenpolitische Glückslos Konrad Adenauers, der nun seine EVG-Politik beginnen konnte. Er war bares Gold für die bundesrepublikanische Ausfuhr.

Als Erik Nölting noch im Bundestag tönte "Die Sozialdemokratie gibt sich nicht gemeinsam mit diesem Kabinett zu einer Pokerpartie der Brotkarte und der Zwangswirtschaft her", da hatte die Ausfuhr schon aufwärts zu schnellen begonnen. Durch die Mitgliedschaft in der EZU wuchs der deutsche Außenhandel weiter.

Die westliche Welt produzierte Waffen. Westdeutschland lieferte Verbrauchsgüter. Ende 1951 schon hatte der Außenhandel nahezu den Umfang erreicht, aus dem sich inzwischen eine Devisenreserve von 6,5 Milliarden Mark ansammelte. Das war die Zeit, da Ludwig Erhard in seinem Ministerbüro einen Besucher anlächelte: "Wissen Sie, was ich von all den angekündigten Planereien wirklich gemacht habe? - Nix!"

Er hatte die dritte Gratwanderung mit vorgetäuschten Planmaßnahmen getarnt. Getarnt vor den Amerikanern, die in ihrem reichen Land umfassende Preiskontrollen einführten ("Wie an Schulbuben ham's mich 'nüberzitiert und gefragt, ob wir armen Teufel auf solche Maßnahmen verzichten könnten"), vor den Engländern, deren Außenhandel in dieser Zeit rüstungskrank wurde und vor den eigenen Freunden, die ihm nicht mehr vertrauten.

Als damals im Winter Mao Tse-tungs Divisionen zur Verstärkung der Kommunisten ausrückten, da fieberte der Westen in Weltkriegsfurcht. Die Regierungen horteten Lebensmittel und Rohstoffe, regulierten den Wirtschaftsablauf mit staatlichen Eingriffen.

In dieser Zeit sah Ludwig Erhards Kalkül einfach so aus: In einem Volk, das gegen jede Bezugschein-Methodik durch lange Erfahrungen so gewappnet ist wie das deutsche, erreiche ich mit Waren-, Rohstoff- und Preisbewirtschaftung gar nichts. Korea ist die Chance für den deutschen Außenhandel, der nur von freien Unternehmern in der freien Wirtschaft mobilisiert werden kann. Die marktwirtschaftlichen Anfänge dürfen nicht zerstört werden. Kommt es zum Weltkrieg, dann ist in der Bundesrepublik als wahrscheinlichem Schlachtfeld sowieso alles hin. Daran können Bewirtschaftung und Hortung nichts ändern.

Ludwig Erhard hatte die Kriegsgefahr ignoriert, genau so wie er es bei seinem Autounfall Numero eins mit dem brennenden Benzintank tat. Erhard fuhr zu dieser Zeit noch seinen alten Maybach, als, ihn eines Tages aufgeregt winkend ein anderer [S.15] Wagen überholte. Fahrer Stadler stoppte, stieg aus. Aus dem Benzintank schossen helle Flammen. Stadler löschte, stieg dann wieder ein und berichtete dem Chef.

Erhard: "Ich hab's gemerkt. Mir ist die ganze Zeit schon so heiß gewesen."

Stadler: "Das hätte bös ausgehen können. Wenn der Benzintank nun explodiert wäre."

Erhard: "Da wär' mir nix passiert. Das wär' doch alles hinter mir losgegangen."

"Der Mann hat ein penetrantes Glück gehabt", ist heute bei vielen Freunden und Feinden die billige Erklärung dafür, daß ein Mann allein eine Nationalwirtschaft so beeinflussen konnte.

Professor Erhard hat Glück gehabt. Konjunkturstöße im rechten Augenblick kamen ihm zu Hilfe. Wäre er aber den weisen Bewirtschaftungs-Ratschlägen der Experten gefolgt, hätte Korea ihn umgebracht. Und schließlich: es war schon vorher, um die Ausfuhr zu steigern, ein Wagnis unternommen worden, das der Warenfreigabe nach der Währungsreform gleichkommt.

Erhard hatte die Stagnation des westdeutschen Außenhandels mit dem Vormarsch in die Liberalisierung pariert. Seine Berechnung war: Wenn wir dem Ausland unseren Markt öffnen, dann werden so viele Waren hereinfließen, daß wir bis über die Ohren in Schulden geraten. Dann müssen die anderen bei uns kaufen, wenn sie ihr Geld wiederhaben wollen[***]. Die Rechnung ging am Ende auf.

Der erste Wirtschaftsminister der Bundesrepublik ist weniger ein Nationalökonom als ein ökonomischer Psychologe. Die Volkswirte haben sich während der letzten fünfzig Jahre viel zu oft im Entscheidenden, ganz Primitiven, geirrt, als daß ein Ludwig Erhard eine unfehlbare Nationalökonomie auch nur für denkbar halten könnte.

Aber schon der junge Assistent im Institut für Wirtschaftsbeobachtung in Nürnberg und der spätere Leiter des Instituts für Industrieforschung am gleichen Ort hat bis 1945 von Marktuntersuchungen gelebt. Das Metier beherrscht er aus dem FF. Es ist sein wissenschaftliches Fundament.

Bei seinem Lehrer Franz Oppenheimer hatte der Student Erhard in den zwanziger Jahren begierig die für seine spätere Einstellung nicht unbedeutende Lehre der Oppenheimerschen Synthese von Sozialismus und Liberalismus aufgenommen:

"Liberaler Sozialismus, das ist der Glaube an eine Wirtschaftsordnung, in der das wirtschaftliche Selbstinteresse seine Herrschaft bewahrt und sich in völlig freiem Wettbewerb durchsetzt. Und in der doch nur noch eine Art von Einkommen existiert, das Arbeitseinkommen, während Kapitalprofite und Grundrenten bis auf harmlose Splitter verschwunden sind. Eine Ordnung, in der also das wirtschaftlich - soziale Klassenverhältnis der kapitalistischen Wirtschaft nicht mehr besteht."

Seine nachtwandlerische Sicherheit in der Marktbeurteilung und bei Konjunkturvoraussagen jedoch ist jener "Funke", von dem Erhard sagt, kein junger Mensch, der ihn nicht habe, dürfe Volkswirtschaft studieren. Es war nur eine unbedeutende Inkonsequenz, daß Erhard seine Tochter Elisabeth, die ganz sicher ist, diesen Funken bei sich noch nie gespürt zu haben, trotzdem zwang, Nationalökonomie zu studieren.

Da auch Professor Erhards Frau Luise Volkswirtin ist, kann es nicht verwundern, daß die soziale Marktwirtschaft den Gesprächsstoff auch innerhalb der Familie Erhard abgibt. Der Minister selbst trägt seinen von Granatsplittern des ersten Weltkrieges geschundenen Leib und die von einer spinalen Kinderlähmung dünn gewordenen Glieder mit dem Gedanken an seine Marktwirtschaft ins Bett und steht mit ihnen auf. Seine Mitarbeiter sagen: "Die Marktwirtschaft, das ist sein Hobby, seine Entspannung, seine Arbeit, das ist sein Leben."

Auch in der Gesellschaft kennt er nur Variationen des gleichen Themas. Als ihn vor seinem Besuch im Hause des belgischen Außenministers van Zeeland seine Mitarbeiter darauf  hinweisen, er müsse aber zu der Gastgeberin besonders freundlich sein, da brummte er: "Na, was soll i denn der sag'n?" Später fand man ihn mit der Dame des Hauses angeregt auf einem Sofa diskutieren: Soziale Marktwirtschaft.

Nachweislich hat er es auch fertiggebracht, auf einer Adventsfeier bei Kerzenschein die Unterhaltung ausschließlich mit marktwirtschaftlichen Thesen zu bestreiten.

Erhard spricht nicht von sich. Selbst die Männer, die täglich um ihn sind, kennen nicht einen Spalt des privaten Erhard. Sie glauben seit langem, daß es in ihm neben etwas klassischer Musik nur soziale Marktwirtschaft gibt. Was Wunder, daß auch seine Leute für ihn nur Faktoren in seinen Überlegungen sind.

Als im Zuge der Platow-Affäre einer seiner Hauptabteilungsleiter, Ministerialdirektor Dr. Günter Keiser, aus dem Amt gefegt wurde, rührte Erhard sich kaum. Er stellte sich auch nicht vor den Ministerialdirektor Dr. Graf und den Geheimen Legationsrat Dr. Strack, als diese mit dem Bonner Außenamt wegen ihrer den Kanzler-Intentionen zuwiderlaufenden Ansichten über das Israelabkommen kollidierten, obwohl er die gleiche Meinung vertrat wie sie. 

Dabei ist einer seiner wesentlichsten Züge sein unbekümmerter Mut, der auch das Sprungbrett für seine große Nachkriegs-Karriere schuf. Erhard hatte Mitte Juli 1944 an den Oberbürgermeister Dr. Goerdeler ein Exposé geschickt mit seinen Ansichten über die nach dem Umsturz bald notwendig werdende Währungsreform, dazu einen Begleitbrief. Ein gnädiger Postbeamter schrieb auf das Päckchen "Empfänger nicht zu ermitteln". Die Sendung ging an den Absender zurück, als Goerdeler bereits gehängt war.

Mit diesen Beweisen seiner Gesinnung zog Ludwig Erhard nach dem Einmarsch der Amerikaner in seinem Wohnsitz Fürth zum US-Stadtkommandanten. Ihm trug er in gutem Englisch seine Pläne vor.

"Sie verstehen, also etwas von Wirtschaft", zog der US-Major das Fazit aus [S.16] der Unterhaltung. "Da können Sie mir helfen bei der Erteilung von Produktionsgenehmigungen für Fürther Firmen." Über diese Zusammenarbeit hinweg machten ihn die Amerikaner später zum bayrischen Minister.

Damals kam er auch zum erstenmal mit Fritz Schäffer in nähere Berührung, den die Amerikaner zum Chef der deutschen Zivilverwaltung für Bayern ernannt hatten. Erhard konnte nicht ahnen, daß er mit dem kleinen, eisgrauen Mann aus dem Bayrischen Wald noch einmal als Bundesminister um jeden Meter Kompetenz und Einfluß zu kämpfen haben würde. Tatsächlich verlagerten sich Erhards Auseinandersetzungen dann in den letzten beiden Jahren seiner Amtszeit auf die fiskalische, rechnerische Politik des Finanzministers.

Denn der Erfolg der Marktwirtschaft war nach Überwindung Koreas und der EZU-Außenhandelskrise im Jahre 1950/51 so gefestigt, daß Erhards planwirtschaftliche Gegner schon in seiner literarischen Vergangenheit herumsuchten, um noch Angriffsflächen zu entdecken. In den "Wirtschaftspolitischen Blättern der deutschen Fertigindustrie", die Ludwig Erhard von 1933 bis 1940 redigiert hatte, fanden sie dabei Leitsätze, die zu dem heutigen liberalen Erhard allerdings wenig passen. Zum Beispiel:

 "Das eine ist jedenfalls gewiß, das Zeitalter des Liberalismus, des freizügigen Individualismus ist vorbei. Die Auffassung, daß diese Wirtschaftsprinzipien am ehesten der Aufgabe, die Menschen mit materiellen Gütern zu - versorgen, gerecht zu werden vermögen, ist heute nicht nur in Deutschland überwunden."

Darauf abzielende Anwürfe sozialistischer Kritiker bringen ihn noch heute in Wut: "Das ist doch geradezu idiotisch; was sind das nur für Eunuchen. Ich habe damals gesagt, der alte Liberalismus ist unter allen Umständen vorbei."

Angesichts der Tatsache, daß gerade die westdeutsche Industriearbeiterschaft mit einem Anstieg ihrer Reallöhne

  • von der Indexziffer 100 im Jahre 1948 auf die IndexzahI 142 im Jahre 1953

unter der westdeutschen Arbeitnehmerschaft den größten Nutzen aus der neuen Wirtschaftsform zog, blieben solche Angriffe der Planwirtschaftler nur Rückzugsgefechte.

Während die Oppositionsparteien in der Adenauerschen Außenpolitik ein dankbares Feld für ihre Kritik fanden, stießen Erhards freiwirtschaftliche Ideen in seiner eigenen Umgebung auf Hemmnisse. Auch im Kabinett. Die Probleme der Wirtschaft waren dem Bundeskanzler mysteriös genug, als Persönlichkeit zog er die Buchhalternatur des ausgezeichneten Fiskalbeamten Schäffer dem Draufgängertum Erhards vor. Außerdem kam Schäffer immer pünktlich zu den Kabinettssitzungen, Erhard nicht.

Einmal hatte Konrad Adenauer versucht, hinter das Geheimnis der Politik seines Wirtschaftsministers zu kommen: "Hören Sie mal, Herr Erhard, Sie haben mir da neulich wat über die Wirtschaft jesagt, und wat Sie heute machen, dat is ja janz wat anderes." Als Erhard antwortet: "Ja, und morgen mache ich wieder was anderes, das ist nun einmal bei der Wirtschaft so", da gab es der Kanzler auf.

Von den beiden Wirtschafts-Raben, die während der vergangenen vier Jahre auf den Schultern des weisen Odin von Rhöndorf hockten, war deshalb der kleine mit der Brille immer näher am Ohr des Kanzlers. In Bonn galt es sogar als ausgemachte Sache, daß Schäffer, der mit seinen Steuern und seiner Verwaltung der Bundesvermögen schon erhebliche Teile der Wirtschaft unter den Einfluß des Staates gebracht hat, so eine Art Über-Wirtschaftsminister werden wollte.

Selbst dann noch, als beispielsweise der Kompetenzstreit um das Ressort Geld und Kredite zugunsten des Wirtschaftsministeriums geregelt war, hielt der Finanzminister die Hand darauf. Nur wenige Sachbearbeiter des Ressorts wechselten in Erhards Duisdorfer Kaserne hinüber. Die entscheidenden Leute sitzen noch heute bei Schäffer. Auch die Akten kommen nur langsam herüber.

Innerhalb der Auseinandersetzung mit dem Finanzministerium liegt auch jener Sektor der Bonner Wirtschaftspolitik,. auf dem die Befreiung aus der Zwangswirtschaft bisher versagt hat: der Sektor des Kapitalmarkts. Unter dem amtlich festgesetzten Zinsfuß von fünf Prozent für Pfandbriefe und Kommunalobligationen und sechseinhalb Prozent für Industrieanleihen blieb der westdeutsche Kapitalmarkt praktisch tot.

Während Schäffer sich gegen eine Freigabe des Zinses stemmte, schöpfte er mittels attraktiver Steuervergünstigungen den Rahm des Kapitalmarktes für Staatsanleihen des Bundes und der Länder sowie für Pfandbriefe und Kommunalanleihen ab. Wer in Westdeutschland beispielsweise mit seinem Einkommen in der fünfzigprozentigen Steuer - Progressionsstufe liegt, bekommt durch diese Vergünstigungen bei der Zeichnung von Bundesanleihen bis zu 17 Prozent Zinsen.

Dagegen kann die Privatwirtschaft nicht anstinken. Denn eine Aktiengesellschaft, die wenigstens sechs Prozent Dividende ausschütten will, muß dazu bereits zwanzig Prozent ihres eigenen Kapitals verdienen. Den Schaden aus dieser Vorzugspolitik der Staatsanleihen aber trägt die Allgemeinheit: Der Steuerausfall aus staatlich begünstigten Kapitalanlagen beträgt jährlich rund 750 Millionen Mark.

Auch die Wohnungswirtschaft, die noch in den Fesseln der Zwangswirtschaft liegt, würde nach Meinung von Fachleuten durch eine Freigabe der Pfandbriefzinsen und den Abbau der 7c-Begünstigungen nicht zusammenbrechen. Denn die Wohnungsbaugesellschaften, in deren Eigentum fast 80 Prozent aller in der Bundesrepublik erstellten Wohnungen übergehen, haben die schwarzen Kurse auf dem Pfandbriefmarkt bisher offensichtlich durchaus vertragen können (SPIEGEL 28/1953).

Ludwig Erhard jedenfalls sagt: "Wenn wir das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft auch auf den Wohnungsbau übertragen, wird sich dieselbe Aufwärtsentwicklung zeigen wie nach der Aufhebung der Bewirtschaftung im Anschluß an die Währungsreform."

Erhard will die Wirtschaft vorn Staat befreien. Er wehrt sich aber auch gegen jede staatliche Einmischung oder Stützung, wenn die Geschäfte einmal schlecht gehen. Hier stieß der Wirtschaftsminister auf das Unverständnis seiner ureigensten Anhänger, der Unternehmer. Denn der unerläßliche Partner seiner auf dem Eigeninteresse des Einzelnen basierenden Politik ist der königliche Kaufmann, der Reglementierungen auch durch die Wirtschaft selbst ablehnt.

Von diesen königlichen Kaufleuten aber hat Ludwig Erhard in Westdeutschland noch nicht sehr viele gefunden. Sobald es vielmehr mit dem Absatz brenzlig wurde, riefen die westdeutschen Unternehmer nur zu gern nach dem Schutz des Staates und nach einem Kartell.

Erhard gibt zu, daß ihm einige Branchen in den Rücken gefallen sind: "Im Grunde genommen hat man in der Wirtschaft immer noch nicht begriffen, was das Attribut sozial bei der Marktwirtschaft bedeutet. Dieses Soziale, das zum Beispiel keine Preisabsprachen duldet, die den Verbraucher irgendwo betrügen."

Die Automatik seiner Wirtschaftspolitik aber bringt es mit sich, daß an manchen Stellen das Beiwort sozial bis dato nicht [S.17] berechtigt ist. Denn das Streben nach dem optimalen volkswirtschaftlichen Ergebnis schafft auch Ungerechtigkeiten.

Schon bei den Hortungsgewinnen am Währungsstichtag fing das an. Erhard: "Ja, aber was wollten Sie denn anders machen? Wer hätte denn diese Waren sonst bekommen? Doch nur die Leute mit den besten Beziehungen zu den Wirtschaftsämtern. Es war doch in der Konsequenz richtig, denn der erste Nachfragestoß wurde mit diesen Waren aufgefangen."

Ob denn der Zweck bei ihm die Mittel heilige? "Natürlich nicht", sagt Erhard, "aber man kann doch wegen dieser Hortungsgewinne oder weil die Renten oder die Beamtengehälter nur ungenügend erhöht wurden, nicht sagen, diese Wirtschaftspolitik sei nicht sozial. Sie ist es doch in ihrer Endauswirkung, denn mit der höheren Gesamtleistung werden auch Verbesserungen für diese Schichten erzielt." Das andere sei schon nicht mehr eine Frage der Wirtschaftspolitik.

Tatsache ist, daß Erhards Marktwirtschaft die vordringendsten sozialen Fragen aller gelöst hat, die in den aufblühenden Arbeitsprozeß selbst eingeschaltet sind. Die Untätigen aber kommen nur mit Verspätung in den Genuß der Früchte des Aufschwungs. Wie etwa die Rentner.

Ludwig Erhards Partei hat dieses Manko immerhin begriffen. Im vergangenen Wahlkampf stellte die CDU für die zweite Phase der sozialen Marktwirtschaft den Programmpunkt groß heraus:

  • Stärkere Beteiligung bisher zurückstehender Bevölkerungsteile (Rentner, Pensionäre, Kriegsopfer, Beamte, Angestellte, bäuerliche Bevölkerung, freie Berufe) an den Erfolgen der Marktwirtschaft. Bildung privaten Eigentums für möglichst breite Schichten.

Professor Erhard selbst hat für die neue Phase, ganz allgemein gesehen, den kühnen Plan gefaßt, Westdeutschlands Lebensstandard derart zu steigern, daß er nahe an den der USA heranreicht. Der dazu nötige Produktionsapparat konnte seiner Meinung nach in den vergangenen Jahren aufgebaut werden. Zauberformel für diesen weiteren Aufschwung sollen Rationalisierungsmaßnahmen und eine Mengenkonjunktur sein, deren größere Umsätze auch Steuersenkungen ermöglichen sollen.

Erhard weiß: "Der Bedarf ist nie gedeckt. So ein Monstrum von Mensch ist mir noch nicht begegnet, der keine Wünsche mehr hat."

Seine weiteren Angriffspläne, die ihn wieder in gefährliche Nähe des Finanzministeriums bringen würden, beziehen sich auf den Abbau von staatlichem Dirigismus auf den Gebieten Kapitalmarkt, Wohnungsbau und Landwirtschaft ("Das mit den Bauern ist eine reine Nervensache").

Nach außen hin aber will Professor Erhard die Konvertierbarkeit jetzt energisch vorantreiben. Wie bei der deutschen Währungsreform von 1948 erwartet er auch hier bahnbrechende Erfolge für die Arbeitsteilung und Leistungsfähigkeit der westlichen Welt. Entgegen den Ansichten des britischen Schatzkanzlers Butler, der schrittweise vorgehen will, vertritt Erhard auch hier die Meinung, wenn er einer Katze den Schwanz abhacken müsse, warum solle er es dann stückweise tun?

Der Gedanke, daß auf dem Ministersessel des Bonner Wirtschaftsministeriums nach der Wahl ein anderer Mann sitzen könnte, kommt dem Optimisten Erhard gar nicht. Auf die Frage, was ihm sein prophetisches Gefühl in dieser Hinsicht sage, erklärte Erhard zwei Tage vor der Bundestagswahl mit der erprobten Festigkeit: "Ich weiß, daß ich wiederkomme."

Fußnoten:
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Das Sozialprodukt ist die in Mark ausgedrückte Gesamtsumme des Wertes aller in einem Jahr erzeugten Güter, Dienstleistungen usw.
[**]
Als wichtigste Beiträge zur Liberalisierung der Wirtschaft wurden unter Erhard verordnet: die Aufhebung der Preisbindung am 25. Juni 1948, die Aufhebung des Bewirtschaftungsnotgesetzes am 30. Juni 1950, der Runderlaß Außenwirtschaft am 30. April 1952 über die Liberalisierung der Einfuhr.
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Über Westdeutschlands erfolgreichen Aufstieg im Außenhandel hat Erhard noch kurz vor den Wahlen ein Buch herausgegeben: "Deutschlands Rückkehr zum Weltmarkt", Econ Verlag, Düsseldorf. 288 Seiten. Ln. 12,80 Mark.