Franz Oppenheimer, dem Lehrer und Freund

In: Ludwig Erhard, Gedanken aus fünf Jahrzehnten, Reden und Schriften, hrsg. v. Karl Hohmann, Düsseldorf u. a. 1988, S. 858 - 864.
Rede zu Oppenheimers 100. Geburtstag, gehalten in der Freien Universität Berlin (1964).

[S. 858] Diese akademische Feierstunde bedeutet für mich eine junge und doch so alte Begegnung mit meinem verehrten, bewunderten und geliebten Lehrer Franz Oppenheimer, der mir zugleich ein väterlicher Freund war. Ich erinnere mich noch genau, auf welche Weise ich ihm begegnete.

Mein Weg war nicht klar vorgezeichnet. Nach dem ersten Weltkrieg habe ich - schwer verwundet -, wie das üblich war, ein akademisches Studium angefangen. »Diplomkaufmann« zu werden war gar nicht meine Absicht, und das Studium hat mir auch in den Anfängen nicht sehr viel bedeutet. Ich kann das bei allem schuldigen Respekt vor dieser edlen Zunft nicht leugnen, um so mehr ich ja doch schon sehr frühzeitig zum volkswirtschaftlichen Denken hin gelenkt wurde. Die Fortsetzung des Studiums in Frankfurt lag mal durchaus im Fahrplan der Diplomkaufleute.

Aber dort ereignete sich etwas Merkwürdiges. Dort herrschte bereits der Massenbetrieb unserer heutigen Universitäten. Gerade in meiner Disziplin gab es einige sehr gesuchte Professoren - über die ich gewiß kein [S. 859] nachträgliches Urteil fällen möchte. Das war eben so, daß, wer sein Examen leicht und schnell hinter sich bringen mochte, zu dem und jenem Lehrer ging; also habe auch ich mir Vorlesungen angehört - und war todunglücklich. Denn ich suchte wirklich Brot und fand meist nur Steine. Als es mir zuviel wurde, ging ich ins Dekanat, faßte mir ein Herz und fragte, ob und wo man denn hier Wissenschaft geboten bekäme. Man sagte mir etwa: »Ja, da ist schon einer da; er heißt Franz Oppenheimer, aber ich muß Ihnen gleich dazu sagen, daß Sie bei ihm nicht promovieren können. Das ist ein Außenseiter an unserer Universität; er hat auch eine ganz spezifische Lehre entwickelt, aber damit können Sie im Examen überhaupt nichts anfangen.«

Ha, das war immerhin eine Empfehlung und Trost für meine dürstende Seele. So also begegnete ich Franz Oppenheimer und war vom ersten Augenblick an fasziniert. Ich besuchte seine Seminare dazu, ohne auch nur einmal zu fragen, wie es um eine spätere Promotion bestellt wäre. Das war mir in diesem Augenblick völlig uninteressant. Es ist wohl ein guter Zufall gewesen, daß mir in der ersten Seminar-Diskussion etwas Brauchbares eingefallen ist. So lebte ich mich schnell ein und gehörte schon bald zu dem engen Kreis, ja man kann sagen Freundeskreis dieses wahrhaft großen Gelehrten.

Ich erinnere mich auch noch des kürzlich verstorbenen »Fritz Sternberg«, einen Feuerkopf, mit dem man stundenlang eifrig diskutieren und auch streiten konnte. Oppenheimer konnte das mit Fritz Sternberg auch - um es gleich zu sagen. Da war Leben! Praktisch hatte ich den ganzen übrigen Universitätsbetrieb abgeschrieben; das andere war lediglich eine lästige Pflicht. Seinerzeit mußte man auch noch nicht soundso viele Scheine und Klausuren nachweisen, wie das heute der Fall ist - man mußte nur eben zur rechten Stunde »fit« sein, um zu bestehen. Aber dieser ganze meist nur technische Ballast hat mich leichtsinnig sein lassen, weil ich mir dachte, daß man das ja wohl irgendwann einmal nachlesen könnte - aber studieren, das wollte ich bei Franz Oppenheimer.

Ein früherer Lehrer, Wilhelm Rieger - übrigens auch ein Verehrer von Franz Oppenheimer -, hat mich zur Wissenschaft hingeführt, aber wissenschaftlich denken gelehrt in straffer innerer Zucht hat mich Franz Oppenheimer, und das danke ich ihm noch heute! Ich erinnere noch, als er mir nach einem langen Gespräch sagte: »Sie sind ein theoretischer Kopf.« Ich kann dazu heute nur sagen: Alle nachfolgenden Ehrendoktoren, die ich erhalten habe, und sämtliche Orden bedeuten mir keine so hohe Auszeichnung als von Oppenheimer zu hören, ich wäre ein »theoretischer Kopf«. Ja, das waren beglückende und gesegnete Jahre. Dabei haben auch mich manchmal Zweifel geplagt, ob die Bodensperre - historisch gesehen wohl unbestreitbar - auch noch heute die Quelle der Unfreiheit und [S. 860] möglicher Ausbeutung sein könne. Oppenheimer ging ja so weit, den Kapitalzins aus der Bodensperre abzuleiten. Diese große Persönlichkeit aber vertrug selbst Widerspruch, wenn er nur spürte, daß den Schüler die Suche nach Wahrheit und Erkenntnis bewegte.

Schließlich ging ich also dann doch zum Examen. Oppenheimer, der seinerzeit wegen einer Bronchitis einen Winter in Cellerina verlebte, sagte mir: »Wenn Sie Zeit haben, kommen Sie doch zu mir nach Cellerina.« Und so geschah es dann auch. Vorher waren wir uns schon oft außerhalb der Universität begegnet, auch in Sommeraufenthalten auf seinem Wohnsitz im Gute Rützendorf in Wrietzen. Dort lernte ich unmittelbar, von ihm selbst demonstriert, auch das Siedlungswesen in der Praxis kennen.

Zum eigentlichen Examen fragte er mich: »Ja, was soll ich Sie eigentlich prüfen; ich kenne Sie so gut und wir haben so viel diskutiert, daß alles klar ist.« Dann sind wir auf Bergfahrt gegangen. Es war, so glaube ich, in etwa 3000 Meter Höhe, als er mir sagte: »Jetzt verleihe ich Ihnen den >höchsten< akademischen Grad - nämlich in 3000 Meter Höhe!«

Und dann kehrte ich wieder in die Niederungen nach Frankfurt zurück. Ich will von jenen Erlebnissen nur eines schildern, um doch auch den Respekt deutlich zu machen, den Franz Oppenheimer genoß. Ein damals sehr bedeutender Statistiker, Professor Zizek, war gerade in einer Fachzeitschrift heftig angegriffen worden, weil die Prüfungen bei ihm eigentlich nur noch eine Farce wären. Zizek, ein temperamentvoller Mann, schäumte auf und sagte: »Es solle ja keiner mehr wagen, zu mir in die Prüfung zu gehen, denn natürlich kann ich auch jeden durchfallen lassen, und jetzt wird das so gemacht!«

Na, ich konnte nicht mehr ausweichen und habe mich gemeldet. »Wissen Sie auch, was Sie tun?« Ich erwiderte, daß ich von seiner Aussage gehört habe, aber es bliebe mir nichts anderes übrig. Und dann ereignete sich ein merkwürdiger Zufall! »Sagen Sie mal, bei wem haben Sie denn promoviert?« »Bei Franz Oppenheimer.« Das war nämlich eine Seltenheit -. Darauf Zizek: »Bei wem?« »Ja, bei Franz Oppenheimer.« »Haben Sie ein theoretisches Thema behandelt?« »Ja«, sagte ich, »ich habe über >Wesen und Inhalt der Werteinheit< geschrieben.« »Ach«, lautete die Antwort, »das also gibt es doch noch bei uns in Frankfurt?!« -

Damit war die Prüfung beendet.

Das sind heitere Reminiszenzen um eine ernste und bewegte Zeit, denn diese Zeit war im politischen Leben erregend genug, und nicht zuletzt hat auch das unsere Gemeinsamkeit bestimmt, vor allem aber mich selbst geprägt. Man kann bei Gott nicht sagen, daß Oppenheimer eine »wertfreie« Wissenschaft lehrte; nein, er war zu temperamentvoll, um sein Wollen nur in eine theoretische oder akademische Aussage zu kleiden. Ich denke noch daran, wenn er z. B. bei allem Respekt vor den Klassikern - [S. 861] das ist hier schon angeklungen - gleichwohl von dem »Malthusschen Bevölkerungsgeschwätz« sprach, und wenn er mit dem ganzen Gewicht seiner Persönlichkeit, hart und oft auch ironisch, die verschiedenen modernen Beiträge zur Nationalökonomie analysierte.

Etwas hat mich so tief beeindruckt, daß es für mich unverlierbar ist, nämlich die Auseinandersetzung mit den gesellschaftspolitischen Fragen unserer Zeit. Er erkannte den »Kapitalismus« als das Prinzip, das zur Ungleichheit führt, ja das die Ungleichheit geradezu statuiert, obwohl ihm gewiß nichts ferner lag als eine öde Gleichmacherei. Auf der anderen Seite verabscheute er den Kommunismus, weil er zwangsläufig zur Unfreiheit führt. Es müsse einen Weg geben - einen dritten Weg -, der eine glückliche Synthese, einen Ausweg bedeutet. Ich habe es, fast seinem Auftrag gemäß, versucht, in der Sozialen Marktwirtschaft versucht, einen nicht sentimentalen, sondern einen realistischen Weg aufzuzeigen.

Aus meinem Erleben der letzten zwanzig Jahre weiß ich unmittelbar um diese Auseinandersetzung. Oppenheimer nannte seine Lehre einen »liberalen Sozialismus«. Wenn man, wie ich, im politischen Leben steht, wird man auf Herz und Nieren geprüft: Predigst du nun auch oder wirkst du im Sinne eines liberalen Sozialismus? Nun, ich habe Adjektiv und Substantiv verlagert. Das hat übrigens auch mein Freund Wilhelm Röpke getan - und sagte dazu, daß ein »Sozialer Liberalismus« die Akzente gewiß etwas verlagert, aber dem Prinzip, um das es geht, dennoch treu bleibt. Es ist der gleiche Geist, und darum ist es auch kein Zufall, daß die Frage: Gibt es eine Oppenheimersche Schule, rein formal gesehen, zu verneinen ist. Es gibt sie nämlich deshalb nicht, weil, wie schon gesagt, Oppenheimer keine »Jünger«, sondern »Schüler« erziehen wollte. Das aber ist für eine »Schulbildung« im herkömmlichen Sinne nicht die richtige Grundlage; aber die Wirkung ist um so größer, wenn ein Mann eine so überaus starke geistige Ausstrahlung auf viele Menschen ausgeübt hat, wie das bei Franz Oppenheimer der Fall war.

Man reiht mich gemeiniglich ein in die Kategorie der »Neoliberalen«. Es mag so geschehen; ich wehre mich gar nicht dagegen, denn Gelehrte, von Walter Eucken angefangen über Wilhelm Röpke, Alexander Rüstow zu Hayek und Franz Böhm, um nur einige zu nennen, haben im tiefsten Grunde Oppenheimersches Gedankengut in sich aufgenommen und in unsere Gegenwart übersetzt, indem sie einen leidenschaftlichen Kampf gegen die Beschränkungen des Wettbewerbs und vor allen Dingen gegen Monopole führten. Sie zerstörten wie Oppenheimer den Optimismus sowohl der klassischen Lehre als auch des üblichen Liberalismus, daß die prästabilierte Harmonie ein Eigengewächs der wirtschaftlichen Entwicklung wäre. Nein, wenn und wo nicht ein vollständiger Wettbewerb besteht, wo immer Konkurrenz durch faktische oder rechtliche Maßnahmen unterbunden, [S. 862] unterdrückt oder geschmälert wird, gibt es keine Freiheit - dort gibt es auch keine Gerechtigkeit. Ich habe es mir angewöhnt, das Wort Gerechtigkeit fast immer nur in Anführungszeichen auszusprechen, weil ich erfahren habe, daß mit keinem Wort mehr Mißbrauch getrieben wird als gerade mit diesem höchsten Wert.

Als mir dann im Jahre 1948 der Auftrag zuteil wurde, das deutsche wirtschaftliche, soziale und gesellschaftliche Leben aus dem völligen Zusammenbruch heraus neu zu ordnen, war ich mir über eines klar: Die Bilder und praktizierten Modelle der Vergangenheit reichen zu einer Lösung nicht mehr aus.

Das erste, was ich aufgenommen habe, war der leidenschaftliche Kampf gegen Monopole und gegen die mannigfachen Bindungen, die menschliche Abhängigkeiten und Unfreiheiten zur Folge haben mußten. Aus dieser Haltung heraus wurde das deutsche Kartellgesetz oder besser gesagt Antikartellgesetz geschaffen.

Vor mir steht noch der Kampf um die Aufhebung der »Preisbindung der zweiten Hand«. Zwar wird man mir sagen: Du hast deine Gedanken doch nur teilweise oder begrenzt durchsetzen können. Monopole kann man unter Mißbrauchsaufsicht stellen, Kartelle kann man verbieten oder in ihrer Wirksamkeit so weit beschränken bzw. einengen, daß daraus kein Übel erwächst.

Aber da hat mich Oppenheimer ein weiteres gelehrt. Er wußte nämlich um die »Theorie der reinen und der politischen Ökonomie«. Ich habe es in der Zwischenzeit reichlich erfahren, welcher Unterschied zwischen der reinen und der politischen Ökonomie besteht.

Mir ist im Bundestag zuweilen vorgeworfen worden: »Können Sie das, was Sie da gemacht haben, mit ihren theoretischen Grundüberzeugungen in Einklang bringen?« Darauf konnte ich nur antworten, daß ich um meine Sünden weiß, aber wichtig wäre dabei, daß, wenn man schon sündigen muß, sich dessen auch bewußt ist, wann und in welchem Ausmaß das geschieht. Und das eben habe ich immer gewußt; ich habe es auch immer wieder ausgesprochen.

Auch meine Einstellung zur Macht hat ihre Wurzel in der Ethik Franz Oppenheimers. Ich meine dabei nicht nur die wirtschaftliche Macht, ich meine auch die politische Macht. Nicht, daß ich an die Verbrechen einer tragischen Vergangenheit erinnern möchte - nein, hier handelt es sich um ein modernes gesellschaftspolitisches Problem überhaupt. Natürlich weiß jede Zeit um die ihr gemäßen Mittel. Ich kann Ihnen aber nicht sagen, wie oft mir Oppenheimer gegenwärtig und lebendig war, als ich vor Entscheidungen stand, die nach der herkömmlichen Meinung und nach der Interessenlage der einzelnen Gruppen nicht gerade immer populär anmuteten. Sie haben sich aber zuletzt doch immer als richtig erwiesen.

[S. 863] Meine Damen und Herren! Macht! - ja ich sage immer: wer Macht besitzt und dazu rechtschaffen ist, wird fast demütig sein vor den Möglichkeiten, die ihm die Macht an die Hand gibt. Man wirft mir ja allenthalben vor, daß ich kein richtiges Verhältnis zur Macht hätte. Nun, ich möchte das anders ausdrücken: Ich habe kein Verständnis für den Mißbrauch der Macht und gehe deshalb damit pfleglich um. Ich glaube zudem, daß es zu einer guten Politik gehört, zu verhindern, daß Machtpositionen sich überhaupt ausprägen können, daß Macht gegen Macht ausgespielt wird.

Wenn in der Richtung Fortschritte erzielt werden, daß wir, sei es auf europäischer oder atlantischer Ebene, über die Enge der Nationalstaaten hinwegfinden, daß wir gemeinsame Märkte schaffen - offene, freie Märkte -, in denen sich die Konkurrenz frei entfalten kann, nicht mehr behindert durch staatliche Manipulationen und nicht durch künstliche Barrieren begrenzt, dann erwächst daraus sicher eine andere Art von Konkurrenz, als sie Oppenheimer aus seiner Sicht historisch und zeitbedingt völlig zu Recht aus dem Großgrundeigentum abgeleitet hat. Weil die Wurzel absolut wahr und wahrhaftig ist, glaube ich, seinem Gebot gefolgt zu sein.

Wie sehr Oppenheimer in mir lebt, das habe ich neulich erfahren, als ich in einer freien Rede zu Europa sagte: Was ich mir vorstelle, das ist ein Europa der »Freien und der Gleichen«. Und als ich dann sein Buch »Erlebtes, Erstrebtes, Erreichtes« zur Hand nahm, las ich aus seiner Feder fast erschreckt von »einer Gesellschaft der Freien und der Gleichen«. Diese Gesinnung ist also offenbar so sehr Bestandteil meines eigenen Wesens geworden, daß man sich selbst in der Sprache und im Ausdruck unbewußt wieder begegnet.

Franz Oppenheimer, mein geliebter Lehrer, war ein Mann, der mit heißem Herzen, aber mit kühlem Kopfe an die Probleme herangegangen ist, und er hat alle verachtet, die in der Umkehrung mit schwülem Kopf und kaltem Herzen ein Volk beglücken zu können glaubten. Er hatte das rechte Augenmaß für die Dinge.

Solange ich lebe, werde ich Franz Oppenheimer nicht vergessen! Ich werde glücklich sein, wenn die Soziale Marktwirtschaft - so vollkommen oder so unvollkommen sie auch sein mag - weiter zeugen wird auch für das Werk, für den geistigen Ansatz der Gedanken und die Lehre von Franz Oppenheimer.

Ich glaube, daß viele Menschen es nicht zu ermessen wissen, wieviel sie einem einzigen Manne zu verdanken haben. Ich weiß es, und ich habe dem auch dadurch Ausdruck gegeben, daß in meinem Arbeitszimmer über lange Zeit nur ein Bild stand, das meines Lehrers Franz Oppenheimer. Ich glaube, er wäre auch damit einverstanden, wenn er wüßte, daß in der »Reihe bedeutender Deutscher« jetzt auch eine Marke mit dem Porträt von [S. 864] Franz Oppenheimer herausgegeben wird. Daß ich glücklich bin, auch zu dem »Franz-Oppenheimer-Institut« etwas beitragen zu können, versteht sich von selbst.

Ich denke auch noch mit Wehmut und Trauer an den Abschied. Er hatte Tränen in den Augen, als er sagte: »Nun muß ich mein Vaterland verlassen.« Denn er fühlte sich als Deutscher. Er verkörperte im reinsten und edelsten Sinne deutschen Geist und deutsche Kultur. Seinem Andenken sei darum für heute und immerdar Dank und Ehre!