Franz Oppenheimer

Gedenkrede zur 100. Wiederkehr seines Geburtstages.

In: Franz Oppenheimer zum Gedächtnis. Frankfurter Universitätsreden, Heft 35, Frankfurt am Main 1964, S. 11-25.

[S. 11] Franz Oppenheimer, zu dessen Gedächtnis wir uns heute versammelt haben, gehört zu den großen Gestalten einer Gelehrtengeneration, zu der wir mit Bewunderung, aber auch mit dem Gefühl aufblicken, daß ihr Werk nur einmal und nur damals möglich war. Vereinigung von Theorie und Geschichte war ihr Ziel, Soziologie der Name für das, was sie versuchten. Neben Franz Oppenheimer steht Max Weber, im gleichen Jahre 1864 geboren, und der um ein Jahr ältere Werner Sombart. Wo immer sie ihre Wurzel hatten, in der Nationalökonomie oder in der Jurisprudenz, haben sie nach dem geschichtlichen Stoff gegriffen, haben sie ihn im Netz ihrer Begriffe und ihrer Hypothesen zu fassen gesucht. Es gehörte Mut dazu und Selbstbewußtsein und ein gehöriges Stück Optimismus. Mit dem Drang zur universalen Betrachtung des gesellschaftlichen Lebens verband sich der Wunsch, auf das Schicksal ihrer Generation Einfluß zu nehmen, sei es neben der wissenschaftlichen Arbeit wie bei Max Weber, sei es durch sie wie bei Franz Oppenheimer. Jedenfalls haben sie weit über den akademischen Bereich hinaus gewirkt, Jünger um sich versammelt, das Gesicht ihrer Zeit mitgeprägt. Trotzdem blieben sie Alleingänger. Weder bildete sich eine Schule, wie sie Gustav Schmoller aufgerichtet hatte, noch gab es die Kommunikation, wie sie heute unter den Nationalökonomen der ganzen Welt besteht. Anders also war diese Zeit und waren die Männer, die ihr den Stempel aufdrückten, aber eben weil wir so nüchtern und illusionslos geworden sind, mag uns die Besinnung auf ihr Werk und im besonderen die Erinnerung an Franz Oppenheimer die Weite des Blicks und die Begeisterung wiedergeben, die uns die trockene Sachlichkeit des heutigen Wissenschaftsbetriebs und der Perfektionismus unserer spezialisierten Arbeit geraubt hat.

Wenn die Universität Frankfurt die Gedenkstunde seines 100. Geburtstags mit den Feierlichkeiten ihres 50jährigen Jubiläums vereint, [S. 12] so ehrt sie mit der Persönlichkeit Franz Oppenheimers zugleich sich selbst. Es war nicht irgendeiner, den sie im Jahre 1919 auf den Lehrstuhl für Soziologie und ökonomische Theorie geholt hat. Sein Lebenswerk war in den Grundzügen abgeschlossen. Aber es war umstritten, und man mußte wissen, daß hier nicht nur ein Soziologe - damals sozusagen als Verzierung - kam, sondern ein scharfsinniger und kämpferischer Nationalökonom, der die Luft seiner Heimatstadt Berlin mit sich brachte und über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt war. Mit seiner Berufung hat die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät, damals ein wenig despektierlich auch die fünfte Fakultät genannt, den entscheidenden Schritt über ihre Vergangenheit hinaus getan, und wenn auch die Masse der aus dem Krieg zurückströmenden Studenten sich nach wie vor den technischen Details der Handelswissenschaften widmete und nebenbei die Langeweile der hergebrachten nationalökonomischen Vorlesungen über sich ergehen ließ, so sammelte sich jetzt doch in den Vorlesungen und besonders in den Seminaren des neuen Professors die Elite, der es nicht bloß um die Vorbereitung auf den Beruf ging, sondern um wissenschaftliche Einsicht und um Aufklärung über die Unruhe der Zeit.

Die heutige Jugend kann sich schwer vorstellen, wie es einem Kommilitonen vor 45 Jahren zu Mute war. Wer heute Nationalökonomie oder Soziologie studiert, befaßt sich mit einem Fach, in dem es zwar sachliche Differenzen und professorale Eigenheiten gibt, aber weder einen ernstlichen Streit um die Methode noch gar weltanschauliche Parteien. Theorie läßt sich ganz einfach erlernen, und es kommt auch nicht sehr darauf an, wo das geschieht. Damals aber fehlte es an der Einigkeit schon über die Grundlagen. Der Methodenstreit war freilich eingeschlafen, die Vorherrschaft der Historischen Schule, die sich in belanglosen empirischen Untersuchungen erschöpfte, zu Ende gegangen, aber es konnte immer noch vorkommen, daß ein in seinem Fach angesehener Kollege zu einem, der es erst werden wollte, mit herablassendem Schulterklopfen sagte: "Junger Mann, schreiben Sie erst einmal eine solide wirtschaftshistorische oder wirtschaftspolitische Arbeit - Theorie können Sie später noch genug treiben." In dieser Theorie aber wiederum waren die platten Allerweltsweisheiten der Vorlesungen fast noch erträglicher als der Eklektizismus der Lehrbücher - ganz abgesehen [S. 13] von der apologetischen Haltung, in der die Nationalökonomie betrieben wurde. Die Marxisten wiederum, am Rande der Universität angesiedelt, blickten mit Verachtung auf die bürgerliche Ökonomik, obwohl sie ihrerseits zu Marxphilologen und argen Doktrinären geworden waren.

So ging, wer kritisch war, zu Oppenheimer. Hier gab es eine saubere Methode, eine an den Klassikern und an Marx geschulte Theorie, ein geschlossenes und widerspruchsfreies System, das mit der Erfahrung im Einklang zu stehen schien. Man mochte Vorbehalte machen; manches schien einseitig und überspitzt. Aber man hatte Boden unter den Füßen, und wer sich Oppenheimer anvertraute, wurde in strenge Zucht genommen. Seine Seminare galten als schwer, er ließ nichts durchgehen. Freilich, Oppenheimer stand zwischen den Fronten, und wer sich zu ihm bekannte, hatte es nicht leicht. Man war auf sich gestellt, denn auch der Kreis, der sich um Oppenheimer scharte, in Frankfurt und vorher schon in Berlin, war alles andere als homogen. Allzu verschieden war die Herkunft und waren die Interessen derer, die zu ihm stießen: Philosophen, besonders aus der Schule Leonard Nelsons, Soziologen und Nationalökonomen. Allen bot er etwas, aber jeden ließ er gewähren, und wie sie kamen, so gingen sie auch wieder, jeder seinen Lebensweg: auf Lehrstühle, in die Verwaltung und in die Praxis, ohne daß man viel von der Gemeinsamkeit einer Schule spüren könnte. Wie verschieden sie waren, bezeugen schon die Namen derer, die ich wegen ihrer besonderen Beziehungen zu Frankfurt als einzige nenne: Adolf Löwe, Julius Kraft und Gottfried Salomon, der uns schon als junger Privatdozent durch seine geistvollen Anregungen wie durch seine menschliche Wärme in den Bann gezogen und den der Tod vor kurzem mitten aus lebendigster Arbeit herausgerissen hat. Es gab und es gibt keine Oppenheimerschule, aber es gab die Schulung des Denkens bei ihm und durch ihn, und sie war es, die Frankfurt in den zwanziger Jahren neben Kiel und Heidelberg zu einem Zentrum der sozialwissenschaftlichen Ausbildung machte. Die Universität ihrerseits hat sich, als sie Oppenheimer berief, als das Geschöpf des Frankfurter Bürgergeistes erwiesen: damals wie heute offen für alles Neue, im Theater- und Musikleben und auch in der Wissenschaft.

[S. 14] Jedoch, nicht von Oppenheimer und Frankfurt soll hier weiter die Rede sein, sondern von ihm selbst, seinem Leben und seiner Arbeit. Sein Weg zur Nationalökonomie und zur Soziologie ist der Weg eines Außenseiters, der die gesellschaftliche Welt erkennen will, um sie zu verändern. Er beginnt mit dem Nachdenken über praktische Reformen und gipfelt in einem wissenschaftlichen Werk von stupender Gelehrsamkeit. Wie ist es dazu gekommen?

Franz Oppenheimer wurde am 30. März 1864 als Sohn eines Rabbiners geboren, der Altphilologie, orientalische Sprachen und Theologie studiert, sich aber bald von der Orthodoxie gelöst hatte und Prediger an der jüdischen Reformgemeinde Berlins geworden war. Es war ein durch und durch liberales Haus, in dem er aufwuchs, vom Vater und von der Mutter her, und es war ein Haus, in dem nur geistige Werte zählten; aus einer langen Reihe gelehrter Vorfahren war nur der Großvater - aus finanzieller Not - Kaufmann geworden. Ein Schwager und Freund Oppenheimers war Richard Dehmel, ein anderer Schwager der Leipziger Ägyptologe Steindorff, sein Bruder der bekannte Professor der Chemie Carl Oppenheimer. Der aufkommende Antisemitismus der Zeit ließ ihn auf das beabsichtigte Studium der Philologie und der Geschichte und einen darauf aufbauenden Berufsweg verzichten. So studierte er Medizin und war von 1886 bis 1895 zuerst als praktischer Arzt, dann als Spezialist für Hals-, Nasen- und Ohrenleiden tätig. Befriedigung fand er freilich nicht: "Die größte meiner Fähigkeiten", so schreibt er, "blieb unausgenutzt: die Fähigkeit zu denken". Aber zweierlei nahm er für später mit, die Erfahrung der Krankheiten, denen offenbar nicht der Arzt, sondern nur der Nationalökonom abhelfen konnte, vor allem der Säuglingssterblichkeit und der Tuberkulose, und das Bild von Gesundheit und Krankheit auch im gesellschaftlichen Organismus, das zu einem Leitstern seiner späteren Lebensarbeit wurde. Aber was ihn dann zu den Sozialwissenschaften brachte, war doch erst die Berührung mit dem liberalen Sozialismus, die er im »Ethischen Klub« der Berliner Bohême fand. Tief beeindruckte ihn Theodor Hertzkas utopischer Roman »Freiland«; in der gleichen Zeit las er Smith, Marx und Dühring. Es war der Gedanke der [S. 15] Siedlungsgenossenschaft, der ihn von da an nicht mehr losließ und dem später auch sein Sohn Ludwig seine ganze Aufmerksamkeit widmete. Aber wenn Hertzka und andere die Siedlungsgenossenschaft sozusagen für sich und isoliert betrachteten, so ging Oppenheimer sogleich einen Schritt weiter. Was ihn bewegte, war nicht die Oase als solche, wie sie ja in dieser oder anderer Form schon viele utopische Sozialisten erdacht und experimentiert hatten, sondern ihre Wirkung auf die nahe und ferne Umgebung: weil der Lohn in der Oase hoch steht, auf dem vollen Arbeitsertrag, wie man damals sagte, saugt sie Arbeiter an, mit der Konsequenz, daß das Lohnniveau auch draußen steigt und die Grundrente überall reduziert wird. Das Nachdenken über diese Probleme beschäftigte ihn so sehr, daß er sich entschloß, die Praxis aufzugeben. Den Mut dazu gab ihm vollends der Feuilletonwettbewerb einer Zeitung, die zwei Preise über das Thema »Norddeutsch und Süddeutsch« ausgeschrieben hatte: er gewann sie beide und verdiente seinen Lebensunterhalt von da an bis zu seiner Berufung nach Frankfurt als Journalist und freier Schriftsteller.

Im Vordergrund aber stand das Studium der Nationalökonomie und die wissenschaftliche Arbeit. Sie beginnt mit der Prüfung der genossenschaftlichen Literatur, aus der 1896 sein erstes größeres, noch etwas altmodisch anmutendes Werk »Die Siedlungsgenossenschaft« hervorging; und sie führt sogleich, nur zwei Jahre später, 1898, mit dem Buch »Großgrundeigentum und soziale Frage« zur ersten Skizze seiner Gesamttheorie. Man kennt dieses Buch seit langem nicht mehr; es ist aufgegangen im Riesenwerk des »Systems der Soziologie«. Aber es war, trotz allen Unvollkommenheiten, ein genialer Wurf, und wer nichts weiter von Oppenheimer läse, hätte hier dennoch in nuce seine ganze Theorie: zunächst die systematische Lehre von der Physiologie und Pathologie der Tauschwirtschaft, d. h. das, was Oppenheimer später die Theorie der reinen und politischen Ökonomie nannte, sodann, im zweiten Teil, einen Abriß der Wirtschaftsgeschichte, an dem er seine Thesen zu verifizieren suchte; und er hätte zugleich das Bild eines Nationalökonomen, der, damals noch ohne breite Literaturkenntnis, mit nachtwandlerischer Sicherheit die Methode handhabt, die auf Adam Smith und Johann Heinrich v. Thünen zurückgeht.

Oppenheimer war damals 34 Jahre alt, ein Neuling, unbekannt in [S. 16] der Fachwelt; sein Buch fand kein Echo. Jetzt ging er daran, was ihm an Literaturkenntnis fehlte, nachzuholen und seine Theorie auszubauen. Monographien über Malthus (1900), Marx (1903) und Ricardo (1909) folgten. Mit dem Ricardo habilitierte er sich in Berlin, wo ihm Schmoller und Wagner freundlich entgegenkamen - ein schönes Beispiel für ihre Vorurteilslosigkeit gegenüber einem Manne, der sich offen als Sozialist bekannte und auch sonst kein Blatt vor den Mund nahm. Seine Erfolge als Lehrer waren groß, die Studenten strömten dem glänzenden Redner in heller Begeisterung zu. Aus seinen ersten Vorlesungen ging 1910 sein nationalökonomisches Lehrbuch »Die Theorie der reinen und politischen Ökonomie« hervor, das später zum Kernstück seines neunbändigen, zwischen 1922 und 1935 entstandenen »Systems der Soziologie« wurde.

Ich kann mich nicht darauf einlassen, den Soziologiebegriff Oppenheimers zu diskutieren. Soziologie ist für ihn eine Überwissenschaft, die den einzelnen Disziplinen vom gesellschaftlichen Leben die Erkenntnisgrundlagen und den gemeinsamen Bezugspunkt liefert. Zur heutigen Soziologie hat allenfalls der erste Teil seines »Systems« eine Beziehung, die allgemeine Soziologie, die auf die Motivationen des gesellschaftlichen Handelns abzielt und das typische Verhalten einer Gruppe aus ihrer Lagerung ableitet. So wichtig das Oppenheimer zu sein schien, wichtiger für seine Theorie war der zweite Teil des Systems, die Staatssoziologie. Wenn die politische Ökonomie, d. h. der Kapitalismus, sich von der reinen Marktwirtschaft durch den Einfluß unterschied, den das historisch überkommene Großgrundeigentum auf den Wirtschaftsprozeß ausübte, so lag es nahe, nach dessen Ursprung zu fragen. Offensichtlich war es durch außerökonomische Gewalt geschaffen, und das wieder führte auf die Frage nach der Entstehung und nach dem Wesen des Staates. Oppenheimer hatte ihr schon 1908 eine spannende kleine Monographie gewidmet, in der er die Eroberungstheorie von Gumplowicz übernahm; im System der Soziologie wurde die Staatslehre erweitert und antikritisch gesichert. Den dritten Teil dieses Systems bildet dann, jetzt soziologisch fundiert, die Wirtschaftstheorie, während der vierte und letzte, so wie es schon in »Großgrundeigentum und soziale Frage« geschehen war, die Gesamttheorie an der Geschichte nachzuprüfen unternimmt.

[S. 17] Sieht man von den spezifisch soziologischen Teilen dieses Werkes ab, das der Verlag Gustav Fischer soeben in ansprechender Form wieder herausgebracht hat, so ist es Ausbau und Zusammenfassung der früheren Entwürfe. Grundsätzlich Neues zur eigenen Theorie Oppenheimers bringt es nicht, aber die ungeheure Literatur, die er durchgearbeitet und hier ausgewertet hat, macht es zu einer Fundgrube gelehrten Wissens und zur unerschöpflichen Quelle der Orientierung nicht nur für den Nationalökonomen und den Soziologen, sondern auch und vor allem für den Studenten der Wissenschaft von der Politik, die ja heute das Erbe der Staatssoziologie angetreten hat. Allein, man darf über diesem großen Werk die vielen kleineren Bücher und die zahllosen Aufsätze und Reden nicht vergessen, die Oppenheimer hinterlassen hat. Wie er sich mit den Klassikern auseinandergesetzt hat, so mit der Grenznutzenschule, die er ins Vorfeld der Nationalökonomie verwies. Ein wahres Kabinettstück ist die dritte Auflage von »Wert- und Kapitalprofit« (1926), in dem er die objektive Wertlehre neu begründet, wobei der durch die Konkurrenz bewirkte Ausgleich des Einkommens Gleichqualifizierter den Ausgangspunkt bildet und der Kapitalprofit als Monopolgewinn abgeleitet wird. In diesen Zusammenhang gehören auch seine scharfsinnigen Diskussionen mit Schumpeter und Amonn. Mit anderen Schriften wiederum wollte er in die Breite wirken; so mit der Kritik an Kautsky in der Streitschrift »Die soziale Frage und der Sozialismus« (zuerst 1912), deren Lektüre ein intellektueller Genuß ist, sowie mit dem zuerst in den kritischen Jahren 1919 und 1931 publizierten, 1962 nachgedruckten Buch »Weder Kapitalismus noch Kommunismus«, in dem er die Grundzüge seiner Theorie vom liberalen Sozialismus zusammenfaßt und zum schleunigen Handeln auffordert.

Zum Handeln! Gemeint war die Reform, die das Großgrundeigentum beseitigen, der Zukunft einer Marktwirtschaft ohne Klassenunterschiede den Weg ebnen sollte, die Siedlung, die innere Kolonisation, wie man damals sagte. Was Oppenheimer dabei besonders am Herzen lag, war die Form der Siedlungsgenossenschaft, von der er ja ausgegangen war, und unsere Darstellung seines Lebens und seiner Arbeit wäre nicht vollständig, wenn wir nicht die praktischen Versuche wenigstens erwähnten, die er selbst angeregt hat. Ich nenne als Beispiel [S. 18] nur die zu großer Blüte gelangte Obstbausiedlung Eden bei Berlin-Oranienburg und das Gut Bärenklau bei Velten in der Mark. Wir kehren zum Anfang zurück, zu seiner Lieblingsidee. Das Beispiel sollte Schule machen; auch ein nur kleiner Anfang würde, so meinte er, das Großgrundeigentum so ins Hintertreffen bringen, daß es von selbst verschwände. Es ist anders gekommen, als er es sich vorstellte. Auf ganz andere Weise ist das Großeigentum am Boden in Deutschland beseitigt worden, auf eine Weise, die er, der deutsche Patriot, weder gewünscht noch gebilligt hätte. Er hat es nicht mehr erlebt. Die Naziherrschaft zwang ihn zur Auswanderung, seine Bücher wurden makuliert. 1938 ging er mit seiner Tochter Renate über Japan, wo er vorübergehend einen Lehrauftrag hatte, nach Kalifornien. In Los Angeles ist er am 30. September 1943 gestorben.

Soviel über das Leben und die Arbeit Franz Oppenheimers. Es ist an der Zeit, daß wir die Bruchstücke, die uns die Darstellung seiner Entwicklung geliefert hat, zu einem geschlossenen Bild zusammenfügen und uns zugleich fragen, was von seinem Werk heute noch Bestand hat.

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Man findet den Zugang zu Oppenheimer am besten, wenn man davon ausgeht, daß der Kapitalismus für ihn ein historisches Phänomen war und daß die Geschichte nicht nur gewesen ist, sondern auch gewirkt hat. Das scheint trivial; die Klassiker waren der gleichen Ansicht, und Marx erst recht, von der Historischen Schule ganz abgesehen. Vergleicht man damit aber die Art und Weise, in der nationalökonomische Theorie heute betrieben wird, so sieht man, wie sehr sich - seit der Grenznutzenschule - die Betrachtungsweise geändert hat. Wir operieren am Modell einer Tauschwirtschaft, die nichts von den großen Wirkungen der Geschichte zeigt. Technische und psychologische Daten bestimmen den Wirtschaftsprozeß, und die Abstraktion von der Geschichte wird auch dadurch nicht aufgehoben, daß wir - im Interesse der Wirklichkeitsnähe - zahllose Marktformen und die verschiedensten Verhaltensweisen der Wirtschaftssubjekte unterscheiden. Der Rahmen des Prozesses, die Wirtschaftsordnung, ist ein blasser Schemen. Wohl setzen wir die Institution des Privateigentums voraus, aber seine Verteilung [S. 19] scheint für die theoretische Betrachtung gleichgültig zu sein, mit anderen Worten: wir gehen von einer beliebigen Anfangsverteilung der Güter aus. Man kann den Prozeß der Produktion und der Preisbildung damit erklären, den Prozeß der Distribution - trotz der Grenzproduktivitätstheorie - nicht. Gerade auf ihn aber richtet sich, wie vorher schon bei Smith, Ricardo, Marx, das Interesse Oppenheimers. Die Anfangsverteilung der Güter ist nicht beliebig, sie ist das Ergebnis der Geschichte. Freilich gibt es für die Ungleichheit dieser Verteilung zwei Erklärungen: die schon von Marx verspottete Kinderfibel von der ursprünglichen Akkumulation, nach der die Ungleichheit des Vermögens sich zwangsläufig aus der Ungleichheit der Menschen ergibt, und die These von der gewaltsamen Aneignung besonders des Bodens als des wichtigsten Produktionsmittels. Es könnte auch beides zusammenwirken, aber so viel steht fest, daß die ursprüngliche Akkumulation allein niemals im Stande wäre, die tatsächliche Verteilung des Eigentums am Beginn und im weiteren Verlauf der Industrialisierungsepoche zu erklären. Die Nationalökonomie muß dieser Tatsache Rechnung tragen, und wenn sie sich selbst nicht zuständig fühlt, die Entstehung der Ungleichheit zu untersuchen, so muß sie den Historiker, besser: den Geschichtssoziologen, zu Hilfe rufen.

Wir verstehen jetzt, warum Oppenheimer seiner nationalökonomischen Theorie die Staatstheorie vorausschickt. Entstanden aus Eroberung, gegründet auf Gewalt, ist der Staat das politische Mittel, das es dem Sieger erlaubt, den Besiegten auszubeuten. Land- und Seenomaden sind die Staatengründer, und ihre erste und wichtigste Maßnahme ist immer die Aneignung des bebauten Bodens und die Sperrung auch der freien Flächen. Die Bodensperre wird damit zum wichtigsten Faktum der Sozialgeschichte. Es mag sich nachher zwischen Ober- und Unterschicht ein Consensus herstellen - seinem Wesen nach bleibt der Staat doch, was er immer war, Klassenstaat. Die bürgerliche Revolution hat die Ständescheidung beseitigt, aber die Bodensperre hat sie bestehen lassen, und das ist der Grund dafür, daß auch nach Aufhebung aller rechtlichen Privilegien und trotz des für die Marktwirtschaft konstitutiven Prinzips des »do ut des« in Gestalt von Grundrente und Kapitalprofit die alte Herrenrente weiterbesteht. Das politische Mittel der Güterbeschaffung, die Gewalt, wirkt weiter auch in einer Gesellschaft, [S. 20] die grundsätzlich auf dem ökonomischen Mittel der Güterbeschaffung, Arbeit und friedlichem Austausch, aufgebaut ist.

Wie geht das zu? Wenn Oppenheimer die Weiterexistenz des politischen Mittels nachweisen wollte, so mußte er die ökonomische Kategorie finden, die dem soziologischen Begriff der Gewalt entspricht. Er fand sie im Begriff des Monopols, genauer: des Klassenmonopols. Wenn der Zugang zum Boden gesperrt ist, so haben alle Bodenbesitzer den Landlosen gegenüber die Stellung eines Monopolisten bzw., wie wir heute sagen würden, Monopsonisten. Faßt man diesen Begriff wörtlich, so stimmt das natürlich nicht, da ja auch die Bodenbesitzer untereinander konkurrieren; um diesen Punkt ging seinerzeit das Streitgespräch mit Schumpeter. Nimmt man aber den Begriff der Dringlichkeit des Austauschbedürfnisses zu Hilfe, so ist evident, daß die Bodenbesitzer eine Vorzugsposition haben, die es ihnen erlaubt, ihre Kontrahenten, die landlosen Arbeiter, auszubeuten.

Mit dieser Argumentation war nun zwar die Grundrente erklärt, nicht aber der Kapitalprofit. Man kann den Boden sperren, er ist unvermehrbar. Produzierte Produktionsmittel aber sind beliebig vermehrbare Güter, und es ist nicht einzusehen, wie sie zur Quelle eines dauernden Renteneinkommens werden könnten. Allein, die Erfahrung der Zeit, in der Oppenheimer lebte und schrieb, schien auch hier eine einleuchtende Erklärung zu liefern. Es war die Zeit der großen Binnenwanderungen aus den Gebieten des Großgrundbesitzes im deutschen Osten in die Industriezentren des Westens; es war die Zeit, in der v. d. Goltz (1893) einen gesetzmäßigen Zusammenhang der Auswanderung mit dem Umfang des Großgrundbesitzes feststellte. Oppenheimer hat auf dieses Gesetz den allergrößten Wert gelegt. Die industrielle Reservearmee rekrutierte sich also aus denen, die dem sozialen Druck in den Gebieten des Großgrundbesitzes auswichen; dorthin rückte der Grenzkuli nach, und er war es, der letztlich das Lohnniveau auch im industriellen Bereich bestimmte. Der Druck auf den industriellen Arbeitsmarkt aber verschaffte nun auch dem Eigentümer produzierter Produktionsmittel eine Monopolstellung. Grundrente und Kapitalprofit flossen aus der gleichen Quelle, sie waren unbezahlte Arbeit, Mehrwert. Primär aber war und blieb das Bodenmonopol. Marx scheiterte, so meint Oppenheimer, an seiner industriezentrischen Betrachtung; [S. 21] nur eine agrozentrische führt zur Aufdeckung des Krankheitskeims, der die reine Ökonomie der Marktwirtschaft zur politischen Ökonomie des Kapitalismus macht. Die Therapie ergibt sich fast von selbst. Die Beseitigung des Großgrundeigentums würde dem allgemeinen Klassenmonopol den Boden entziehen, die industrielle Reservearmee verschwände, und die Bahn wäre frei für eine auf Arbeit und Austausch allein gegründete Gesellschaft der Freien und Gleichen.

Dies ist der Kern der Oppenheimerschen Theorie. Er nennt sie die Theorie des liberalen Sozialismus und kennzeichnet damit selbst ihren pragmatischen Charakter. Sie ist die Basis seiner Utopie, aber die Utopie von heute ist für ihn die Wirklichkeit von morgen. Sein ganzes Werk dient dem Nachweis, daß man die Mängel des Kapitalismus nicht dem System der Konkurrenz zuschreiben dürfe, und nirgends kann man mehr über die Triebkräfte der Marktwirtschaft und das Funktionieren der Selbststeuerung lernen als bei ihm. Man braucht sich daher nicht zu wundern, daß Oppenheimer heute gern zum Propheten der sozialen Marktwirtschaft gemacht wird. Aber man trifft damit nur die halbe Wahrheit, und mit demselben Recht können sich die Kritiker der sozialen Marktwirtschaft auf ihn berufen. Die Freibürgerschaft der Zukunft war für ihn eine Marktwirtschaft, in der der statische Profit, d. h. das reine Besitzeinkommen, verschwunden ist und nur noch dynamische Profite, Schumpetersche Fortschrittsprämien, existieren; sie war zugleich eine Wirtschaft ohne konjunkturelle Störungen. Unsere Gegenwart zeigt ein anderes Bild; wenn das Idealbild der Zukunftsgesellschaft jemals Wirklichkeit werden sollte, so liegt sie in weiter Ferne.

Jedoch, man sollte Oppenheimer nicht nach seiner Utopie beurteilen, so wichtig sie ihm selbst war. Das v. d. Goltzsche Gesetz, auf dem sie basiert, ist nicht mehr als die Erfahrung einer Epoche und eines Landes; es taugt für die Diagnose dieser Epoche und dieses Landes, aber nicht für eine allgemeine Theorie. Wächst die Industrie schnell, so wird auch ein ständig fließendes Angebot von Arbeitskräften aus der Landwirtschaft von der Nachfrageseite her aufgesogen; und wenn die steigende Produktivität den Reallohn des Industriearbeiters über das Niveau des bäuerlichen Einkommens hinaus hebt, bietet die innere Kolonisation ohnehin keinen Reiz mehr. Das gilt für die fortgeschrittenen Industriestaaten. [S. 22] Anders steht es in den Entwicklungsländern, wo eine Beschäftigungsmöglichkeit in der Industrie fehlt und wo die Aufteilung der Latifundien dem Landhunger der Bauern entgegenkommt und ihr Interesse an der Steigerung des Ertrags hebt. Aber auch hier ist die Landreform, schon wegen der starken Bevölkerungsvermehrung, kein Allheilmittel; ohne Industrie geht es nicht, und die wichtigste Aufgabe besteht darin, überhaupt erst einmal die geistigen, politischen und institutionellen Voraussetzungen der Industrialisierung zu schaffen, die die fortgeschrittenen Industriestaaten in einer langen Geschichte entwickelt haben.

Wenn Diagnose und Utopie Oppenheimers zeitgebunden sind und wenn gerade der Teil seiner Theorie, auf den er besonderen Wert legte, die Lehre von der Bodensperre als der alleinigen Basis des Klassenmonopols, der Kritik nicht standhält, so bleibt dennoch genug, was ihn über seine Zeitgenossen hinaushebt und auch in unserer Gegenwart noch weiterwirkt. Dazu gehört in erster Linie der methodische Gedanke, der schon im Titel seines nationalökonomischen Lehrbuchs seinen Ausdruck findet: die Unterscheidung von »reiner« und »politischer« Ökonomie. Sie läuft auf den Versuch hinaus, im Prozeß der entfalteten Marktwirtschaft das Geflecht derjenigen Beziehungen, die sich mit sachlicher Notwendigkeit aus der Arbeitsteilung ergeben, von den Auswirkungen gesellschaftlicher Machtpositionen zu trennen. In der neoklassischen Theorie verkörpert sich Macht lediglich in den monopolistischen Marktformen; die aus der Geschichte ererbte fundamentale Scheidung von Besitz und Nichtbesitz existiert in ihren Modellen nicht. Bei Marx andererseits stand sie im Zentrum, und er bemühte sich auch nachzuweisen, daß sich das »Kapitalverhältnis« immer wieder reproduziere: steigen die Löhne, so reagieren die Unternehmer mit dem Übergang zu kapitalintensiveren Methoden, und durch die Freisetzung von Arbeitern füllt sich die Reservearmee wieder auf. Aber dieser Beweis ist so wenig überzeugend wie die allgemeine Konsequenz, die er daraus zog, die Konsequenz, daß die Scheidung der Besitzklassen ein inhärenter Bestandteil der Marktwirtschaft sei und nur mit ihr verschwände. Indem Oppenheimer reine und politische Ökonomie gedanklich trennt, macht er den Weg für die Diskussion einer Marktwirtschaft frei, in der zwar natürlich nicht die Differenzierung des individuellen [S. 23] Besitzstandes, wohl aber die Scheidung der Besitzklassen aufgehoben ist. In der Konstruktion dieses Modells liegt der entscheidende wissenschaftliche Fortschritt, den Oppenheimer gebracht hat, nicht in der Antwort auf die Frage, wie man eine solche Ordnung schaffen könnte. Sie ist komplizierter, als er meinte. Auch wenn das Großgrundeigentum beseitigt, die Arbeitskraft knapp geworden und der Reallohn gestiegen ist, bleibt die im Eigentum an den Produktionsmitteln verkörperte Machtposition bestehen. Sie bleibt es so lange, als die Konsumgewohnheiten sich nicht ändern und die Akkumulation nach wie vor im wesentlichen aus dem Profit erfolgt. Wenn die Einkommens- und Vermögenspolitik der Gegenwart auf eine gleichmäßigere Vermögensverteilung hinzielt, so folgt sie de facto Oppenheimers Spuren - genau so wie die heutige Distributionstheorie in ihren makroökonomischen Modellen.

Ich muß darauf verzichten, die vielen Einzelerkenntnisse aufzuzählen, die Oppenheimer bei seiner theoretischen Arbeit gewonnen hat; ich erwähne nur die Unterscheidung von friedlichem Wettbewerb und feindlichem Wettkampf, auf die er bei seinen genossenschaftlichen Untersuchungen gestoßen ist und die uns heute bei der Charakterisierung der polypolistischen und der oligopolistischen Konkurrenz wieder begegnet. Eines Wortes aber bedarf es noch zu seinen historischen Bemühungen. Wenn der Laie die Geschichte benutzt, um eine These zu beweisen oder wenigstens zu illustrieren, die er durch Nachdenken gefunden hat, so kann er bei den Fachvertretern kaum auf große Gegenliebe rechnen. Trotzdem hat Oppenheimer sich ausgezeichnet mit dem allzu früh verstorbenen Fedor Schneider verstanden, und trotzdem bleibt es richtig, daß er mit der These von der Bodensperre auf ein Faktum hingewiesen hat, das für die sozialgeschichtliche Forschung grundlegend ist. Wenn wir von der allerneuesten Entwicklung absehen, so gibt es keinen Produktionsfaktor, der auch nur annähernd die Bedeutung besäße wie der Boden, und keine Institution, die so wichtig wäre wie das Bodenrecht. Oppenheimer zeichnet die mannigfachen Wandlungen nach, die das Eigentum am Boden in den europäischen Ländern erfahren hat, aber mit nicht geringerem Interesse widmet er sich dem zweiten Grundzug der Entwicklung, der Entstehung und der Entfaltung des Handels und der Städte. Die Blüte einer sozial ausgeglichenen [S. 24] Marktwirtschaft in Stadt und Land gerade in den Jahrhunderten, in denen die Ostkolonisation den Druck auf die Bauern minderte, bestätigte ihm die Fruchtbarkeit der agrozentrischen Betrachtung. Besonders stolz, und mit Recht, war er, als es ihm gelang, den Umbruch in der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des späten Mittelalters neu zu datieren. Die Historische Schule hatte den Verfall der mittelalterlichen Marktwirtschaft in die Mitte des 16. Jahrhunderts verlegt, beeindruckt von dem Glanz und vom Reichtum der Städte in den beiden vorangegangenen Jahrhunderten. Oppenheimer wies nach, daß der entscheidende Wendepunkt um 1370 lag, also 180 Jahre früher, und die neuere Forschung, zuerst und vor allem Friedrich Lütge, bestätigt seine Datierung. Sie begründet sie freilich anders, aber das letzte Wort darüber ist noch nicht gesprochen, und man kann nur hoffen, daß das Problem nicht ad acta gelegt wird.

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Wir beschließen damit die Betrachtung des Werkes von Franz Oppenheimer. Auch wer ihn nicht gekannt hat, gewinnt daraus das Bild einer faszinierenden Persönlichkeit. Er verband ein enzyklopädisches Wissen mit der Konzentration auf die großen Fragen, die ihn und seine Zeit bewegten. Saint-Simon und Comte gehörten ebenso zu seinen geistigen Vätern wie die Klassiker und Marx, und mit der Ideenwelt Proudhons wie mit der praktischen Philosophie Leonard Nelsons verband ihn eine Gesinnung, die ihn erst zufrieden sein ließ, wenn science et conscience, Wissen und Gewissen, Kausalerklärung und Selbstbesinnung zusammenfielen. Wir werden ihm vielleicht nicht zustimmen, wenn er diese Kongruenz als den stärksten Beweis der Wahrheit ansieht, aber sie erklärt das Ethos seines Forschens. Was ihn antrieb, war ja nicht die Erkenntnis um ihrer selbst willen. "Nichts ist so praktisch wie die Theorie", war seine Devise, und sie wollte mehr besagen, als daß bei der Grundlagenforschung immer irgendetwas auch für die praktische Anwendung herauskomme. Hingegeben an eine Idee hat er Theorie getrieben, und so sehr es ihm auch im einzelnen gelungen ist, die, wie er sich ausdrückte, »persönliche Gleichung« auszuschalten, die jeder Forscher mit sich bringt: im ganzen ist sie gerade bei ihm unverkennbar. [S. 25] Was diese seine persönliche Gleichung ausmachte, waren freilich nicht die Interessen eines Standes oder einer Klasse oder einer Nation. Es war die Gesinnung eines Humanisten in jeder Auslegung dieses Wortes, und es war die Ideenwelt des 18. Jahrhunderts. Wie seine liberale Grundhaltung ins 18. Jahrhundert zurückreicht, so verbindet ihn mit diesem Zeitalter auch ein unversieglicher Optimismus. Der Mensch ist gut, nur die äußeren Umstände, die Geschichte, der auf Gewalt gegründete Staat, haben ihn schlecht gemacht. Ändert man nur die Institutionen, so wird es an der Harmonie nicht fehlen. Hier liegt die Wurzel des Utopisten Oppenheimer, dem die Abgründe der menschlichen Seele fremd sind und der selbst unter der Naziherrschaft den Glauben an die Menschheit nicht verlor.

Dem geistigen entsprach das persönliche Wesen Oppenheimers. Wiewohl unermüdlich am Schreibtisch, war Oppenheimer alles andere als der Gelehrtentyp seiner Zeit und alles andere als das Zerrbild, das die Zeitungen heute vom deutschen Ordinarius zeichnen. Die Diskussion in seinen Seminaren war die Diskussion unter Gleichgestellten; nur das Rauchen behielt er sich, damit die Luft nicht zu dick werde, allein vor. Er nahm nichts übel, und nach der Arbeit war er ein fröhlicher Gesellschafter. Seine Erholung suchte er in den Bergen, er war ein leidenschaftlicher Hochtourist. Wiederum mit dem 18. Jahrhundert verband ihn die äußere und innere Haltung des Kavaliers: der persönliche Mut, der ihn als Student das Rapier, als Schriftsteller und Forscher eine scharfe Feder führen ließ; die Verbeugung vor der Leistung des Anderen, mit der er den soeben promovierten Studenten als Kollegen begrüßte; der Charme im Umgang mit Freunden und Gegnern. Nimmt man alles zusammen, so steht das Bild eines Mannes vor uns, dem die Jugend begeistert folgte und der jedem unvergeßlich bleibt, der mit ihm in Berührung kam. Wenn je Werk und Persönlichkeit eine Einheit bilden, so ist sie bei Franz Oppenheimer vollkommen.