Käufer und Verkäufer
Ein Beitrag zur wirtschaftlichen Kollektivpsychologie

Erstveröffentlichung in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, hrsg. von Gustav Schmoller, 24. Jg., H. 3, Leipzig 1900, S. 123 - 168.

Die Abschrift wurde an die heute geltende Rechtschreibregelung für Begriffe angepaßt, also an die Stelle von "Princip" und "ergiebt" wurde "Prinzip" und "ergibt" gesetzt. Wegen der altdeutschen Schrift der Vorlage, mußte der Text vollständig abgetippt werden. Trotz aller Sorgfalt können Übertragungsfehler deswegen nicht ausgeschlossen werden.
Bitte zitieren Sie im Zweifelsfalle von der
Originalvorlage.

[S. 123] Adam Smith hat die wirtschaftliche Handlung bekanntlich aus dem einen Motiv des wirtschaftlichen Eigennutzes abgeleitet und den Versuch gemacht, das wirtschaftliche Leben als das Ergebnis dieser einzigen Kraft zu begreifen. Dieser Versuch wird - ob mit Recht oder Unrecht, bleibe vorläufig dahingestellt - heute von der Mehrheit der Forscher als gescheitert betrachtet. Es ist namentlich Adolf Wagner, der in seiner "Grundlegung" das größte Gewicht auf andere, das rein wirtschaftlich-eigennützige kreuzende, Motive der wirtschaftlichen Handlung gelegt hat.

Uns will scheinen, als sei jedoch das verwerfende Urteil über die Smithsche Psychologie der Wirtschaft mindestens verfrüht, denn ihr Gedankeninhalt ist noch durchaus nicht ausgeschöpft. Eine tiefer, als bis jetzt geschehen, eindringende Deduktion aus dem einen Prinzip oder Motiv des wirtschaftlichen Selbstinteresses ergibt neue, [S. 124] {SCAN} interessante und für die Beurteilung einiger bisher unverständlicher Erscheinungen ausschlaggebende Resultate. Im folgenden sei der Versuch gemacht, eine solche deduktive Untersuchung darzustellen, bei der also ausdrücklich der Mensch als "abstraktes wirtschaftendes Individuum" angenommen wird, das ausschließlich von wirtschaftlichen Interessen, d. h. vom Eigennutz geleitet wird. Die methodologische Berechtigung einer derartigen Abstraktion von der empirischen Wirklichkeit braucht nicht einmal dann verteidigt zu werden, wenn sie zu augenscheinlich irrationellen Ergebnissen führt; sie braucht es um so weniger, wenn es sich herausstellen wird, daß sie zu Ergebnissen führt, die mit der Wirklichkeit außerordentlich weit übereinstimmt [1].

In einer reifen, freien Tauschgesellschaft ist jeder Mensch, der am Marktverkehr teilnimmt, d. h. der den größten Teil seines Arbeitsproduktes auf den Markt gibt und den größten Teil seines Lebensbedarfs von dem Markte bezieht, also jeder, mit Ausnahme des reinen Naturalwirts, Käufer und Verkäufer in gleicher Person und nichts anderes! Daß die Gesellschaft, der er angehört, nicht nur eine Wirtschaftsgesellschaft, sondern auch eine Rechts-, Friedens-, Unterstützungs- und Verwandtschaftsgesellschaft ist, davon wollen wir verabredetermaßen hier gänzlich absehen.

Für unsere Betrachtung ist also der Mensch nichts anderes, als, je nach seiner augenblicklichen Position, Warenkäufer oder Warenverkäufer, und das einzige Motiv, das ihn bei seinen Handlungen leitet, ist für unsere Betrachtung das wirtschaftliche Selbstinteresse.

Diese Auffassung lag bisher schon zwei der wichtigsten wirtschafts-theoretischen Gedanken zu Grunde. Der eine geht aus von dem Gegensatz des einzelnen Käufers gegen den einzelnen Verkäufer und der Gesamtheit der Käufer gegen die Gesamtheit der Verkäufer, geht von der Tatsache aus, daß der Käufer möglichst billig zu kaufen und der Verkäufer möglichst teuer zu verkaufen sucht, und [S. 125] {SCAN} zeigt, wie dieser Gegensatz das bewegende Rad der gesamten Marktwirtschaft ist; denn das zufällige Verhältnis von Angebot und wirksamer Nachfrage auf irgend einem Markte bestimmt den zufälligen Preis irgend einer Ware; aber dieser zufällige Preis bestimmt nun das zukünftige Verhältnis von Angebot und wirksamer Nachfrage auf den zeitlich folgenden Märkten, weil aus denjenigen produktiven Berufen, deren Produkte einen geringeren als den durchschnittlichen Gewinnsatz abgeworfen haben, Arbeitskräfte und Kapitalien ausgestoßen werden, während auf der anderen Seite in diejenigen Berufe, deren Produkte einen mehr als durchschnittlichen Gewinnsatz abgeworfen haben, Arbeitskräfte und Kapitalien angesaugt werden. So sinkt dort das Angebot bei gleich gebliebener Nachfrage, also steigt der Preis; hier aber steigt das Angebot bei gleich bleibender Nachfrage, und der Preis sinkt. So streben alle Warenpreise unter dem Einfluß dieses regulierenden Mechanismus einen Gleichgewichtspunkt zu, in dem für gleiche Arbeitsleistung ein gleicher Gewinnsatz erzielt wird, in dem alle Waren ihren "natürlichen Preis" haben, in dem der Preis einer Ware mit ihrem "Wert" zusammenfällt. Auf diese Weise paßt sich automatisch das Gesamtangebot eines Wirtschaftskreises der Gesamtnachfrage an, und es werden immer die wichtigsten Bedürfnisse am ersten und ausgiebigsten befriedigt, aus dem einfachen Grunde, weil die Nachfrage nach diesen Befriedigungsmitteln, solange sie das wirksame Angebot übersteigt, einen Preissatz aufrecht erhält, der überdurchschnittlichen Gewinn gewährleistet und deshalb Arbeitskräfte und Kapitalien in diesen Zweig der Volkswirtschaft hineinzieht.

Wenn dieser Prozeß sich als ein im wesentlichen mechanisch ablaufender darstellt und häufig auch als ein solcher dargestellt worden ist, so darf man doch nie dabei vergessen, daß es sich um einen Komplex menschlicher Einzelhandlungen handelt; daß jede einzelne Handlung psychologisch motiviert ist; und daß das Motiv, das hier als allein wirksam gedacht ist, das Selbstinteresse, der wirtschaftliche Eigennutz, ist. Nach dieser Richtung hin hat uns nun die Schule der Grenznutzen-Theoretiker einen wesentlichen Fortschritt beschert. Sie wendet ihren Blick weniger dem großen automatischen Betrieb der Marktwirtschaft, als den psychologischen Motivationen eines einzelnen wirtschaftenden Subjektes zu. Während die großen Theoretiker, die jenen Gesamtprozeß zuerst begriffen und geschildert haben, die Tatsache, daß Menschen tauschen, einfach als gegeben hinnahmen, haben Gossen, Walras, Menger, Jevons und [S. 126] {SCAN} ihre Schüler sich gerade die Frage gestellt: "Warum tauschen Menschen?" und auf das glücklichste beantwortet:

Indem jeder der beiden Tauschenden ein Gut fortgibt, das für ihn einen geringeren, für den anderen aber einen größeren "Grenznutzen" enthält, gewinnen beide: denn jeder erhält einen bedeutend höheren Gebrauchswert, als er hingibt, wenngleich auf einem genügend ausgebildeten und durchschnittlich versorgten Markte beide ganz den gleichen Tauschwert einander in die Hand geben.

Hier ist das letzte Motiv, das den Menschen zum Austausch von Waren gegen Waren bestimmt, in überzeugendster Weise aufgedeckt, und damit die Kraft gefunden, die jenen erstgeschilderten Mechanismus der Marktwirtschaft in Bewegung setzt und in Bewegung erhält, vergleichbar einer Wasserkraft, die durch Vermittlung einer Turbine den kompliziertesten Fabrikationsbetrieb mit elektrischer Kraft versorgt; und wenn auch alle anderen Folgerungen der Grenznutzentheorie, die aus dieser Grundauffassung gezogen werden, sich als falsch herausstellen sollten, so würde doch die Entdeckung, warum Menschen tauschen, diese Zurückführung der Kräfte der gesamten Volkswirtschaft auf psychologische Motive der Einzelwirtschaft, ihr eine unvergängliche Stelle auf der Ehrentafel der national-ökonomischen Wissenschaft sichern.

Diese beiden wichtigsten Deduktionen der gesamten Wirtschaftswissenschaft haben, wie gesagt, zunächst das Gemeinsame, daß sie beide von der Abstraktion eines wirtschaftenden Menschen ausgehen, der lediglich durch das wirtschaftliche Selbstinteresse geleitet wird; und sie haben ferner das Gemeinsame, daß sie stets nur den Gegensatz von einem Käufer gegen einen Verkäufer oder von einer Summe von Käufern gegen eine Summe von Verkäufern untersuchen.

Noch niemand aber hat versucht, soweit wir zu sehen imstande sind, die Untersuchung nach einer ganz anderen Richtung hin weiter zu führen. In welchem psychologischen Verhältnis steht - nicht Käufer gegen Verkäufer und vice versa - sondern der einzelne Käufer zur Gesamtheit der Käufer, und der einzelne Verkäufer zur Gesamtheit der Verkäufer? Eine nach dieser Richtung hin geführte Untersuchung muß, das scheint a priori klar, den Schlüssel zu manchem interessanten Problem der wirtschaftlichen Kollektivpsychologie liefern.

(Um Mißverständnisse auszuschließen, sei hier bemerkt, daß, wenn wir hier von einer "Gesamtheit" der Käufer resp. Verkäufer sprechen, wir selbstverständlich nur die Käufer resp. Verkäufer einer Art von [S. 127] {SCAN} Waren im Auge haben; denn die Gesamtheit der Verkäufer schlechthin ist ja natürlich mit der Gesamtheit der Käufer identisch.)

Es ist klar, daß sich das wirtschaftliche Selbstinteresse sowohl der Käufer als auch der Verkäufer und zwar sowohl des einzelnen als auch der Gesamtheit, nur um eine Erscheinung dreht, nämlich um den Preis der nachgefragten oder angebotenen Ware auf dem gemeinsamen Markte. Der Käufer wünscht immer einen möglichst niederen, der Verkäufer immer einen möglichst hohen Preis zu erzielen.

In welcher Weise kann dieser Wunsch zum Motiv werden, das wirtschaftliche Handlungen auslöst?

Des Käufers Interesse wird befriedigt, wenn entweder das Angebt seiner begehrten Ware steigt, oder die Nachfrage nach dieser Ware fällt. Auf das Angebot hat er als Käufer keinen unmittelbaren Einfluß, wohl aber auf die Nachfrage! Und des Verkäufers Interesse wird befriedigt, wenn entweder das Angebot seiner Ware sinkt, oder die Nachfrage nach dieser Ware steigt. Auf die Nachfrage hat er als Verkäufer keinen unmittelbaren Einfluß, wohl aber auf das Angebot!

Oder mit anderen Worten: Das Bestreben der Gesamtheit der Käufer geht auf jedem Markte dahin, daß die wirksame Gesamtnachfrage - und das Interesse der Verkäufer geht dahin, daß das wirksame Gesamtangebot nach Möglichkeit zurückgehalten wird.

Geradezu vital wird dies Interesse aber für die Käufer, wenn der jeweilige Marktpreis einer für sie wichtigen Ware stark über seine "natürliche" Höhe steigt - und für die Verkäufer, wenn ihr Produkt stark unter seinen "natürlichen Preis" sinkt. Im ersten Falle ist der Komfort - und unter Umständen sogar die Existenz der Käufer bedroht. Im letzteren Falle ist unter allen Umständen die Existenz der Verkäufer bedroht. (Diesen Unterschied werden wir unten noch ausführlich behandeln.) Wir werden also die Motive und das Verhalten der Käufer am genauesten unter den Verhältnissen steigenden - und das der Verkäufer unter den Verhältnissen fallenden Preises ihrer Ware beobachten können. Und wir werden uns auch auf das Studium dieser beiden extremen Fälle beschränken dürfen, da eine einfache elementare Betrachtung zeigt, daß Motivation und Verhalten in allen anderen Fällen diesen Grenzfällen vollkommen entsprechen müssen.

Steigt der Preis einer Ware, so hat die Gesamtheit ihrer Käufer nur das eine Interesse, ihren Preis zu drücken.

Sinkt aber der Preis einer Ware, so hat die Gesamtheit ihrer [S. 128] {SCAN} Verkäufer nur das eine Interesse, diesen Preis zu treiben. Die entscheidende Frage ist nun diejenige, wie sich bei voller freier Konkurrenz und ohne bindende Verabredung untereinander die einzelnen wirtschaftenden Individuen verhalten werden, und in wie weit die Handlungen des einzelnen Käufers resp. des einzelnen Verkäufers mit dem Interesse der Gesamtheit übereinstimmen werden? -

Betrachten wir zunächst das Verhältnis der Käufer zueinander! Soll ein Preisdruck auf irgend eine Ware von seiten der Konsumenten ausgeübt werden, so haben diese als Gesamtheit nur ein einziges Mittel dazu, nämlich Verminderung der Nachfrage. Sie müssen also Verminderung der Gesamtnachfrage wünschen, und diese kann in wirksamer Weise nur durch eine Verminderung sämtlicher einzelner Nachfragen erzielt werden. Und genau zu dieser Handlungsweise treibt den einzelnen Käufer sein Selbstinteresse, die wirksame Nachfrage nach einer Ware, deren Preis höher als sein Grenznutzen ist, einzuschränken. So wird also der einzelne Käufer dazu geführt, so zu handeln, wie es im Interesse der Gesamtheit der Käufer geboten ist.

Betrachten wir nun auf der anderen Seite die Verkäuferschaft! Ihr Interesse ist unter allen Umständen, den Preis ihrer Ware zu erhöhen. Dazu haben sie als Produzenten nur ein einziges Mittel: die Verminderung des Angebots. Es liegt also im Interesse der Gesamtheit der Verkäufer einer Ware, daß das Gesamtangebot vermindert werde. Das würde am einfachsten geschehen, wenn sich bei einem unter den durchschnittlichen Gewinnsatz sinkenden Preise auch das Einzelangebot entsprechend zusammenzöge.

Hat nun der einzelne Produzent dasselbe Interesse, bei sinkendem Preise sein individuelles Angebot einzuschränken, wie es der einzelne Käufer hat bei steigendem Preise, seine individuelle Nachfrage einzuschränken?

Wenn man die heutige, wie man sie gern nennt, "kapitalistische" Wirtschaft ins Auge faßt, so hat der einzelne Verkäufer augenscheinlich das starke Motiv, gerade den entgegengesetzten Weg einzuschlagen, nämlich sein individuelles Angebot zu vermehren, statt es zu verringern.

Denn sein Interesse zielt auf einen möglichst hohen Gesamtprofit aus seinem Geschäfte. Dieser Gesamtprofit ist ein Multiplikand aus zwei Faktoren. Der eine Faktor ist der auf die Wareneinheit (z. b. eine Tonne Eisen, ein Meter Tuch) entfallende Einzelprofit; der andere Faktor ist die Zahl der abgesetzten Wareneinheiten. [S. 129] {SCAN} Beide Faktoren sind variabel, und es ist erforderlich, sich den Einfluß klar zu machen, den ihre Variation auf das Resultat, nämlich den Gesamtprofit, ausübt.

Der günstigste Fall ist der, wenn sowohl der Einzelprofit als auch die Zahl der abgesetzten Wareneinheiten wachsen. Ein solcher Fall tritt z. B. ein, wenn ein Bezirk eine reiche Ernte bei schlechter Welternte einheimst. Dann wächst der Gesamtprofit des Landwirts außerordentlich stark. - Im Gegensatz dazu tritt der ungünstigste Fall ein, wenn sowohl der Einzelprofit als die Zahl der abgesetzten Einheiten sinkt, z. B. wenn eine schlechte lokale Ernte mit hoher Welternte und niederen Preisen zusammentrifft. Wenn aber einer der beiden Faktoren sinkt, während der andere steigt, kann das Resultat, der Gesamtprofit, sowohl steigen als auch sinken, je nachdem der eine oder der andere Faktor überwiegt.

Der günstigste, ebenso wie der ungünstigste Fall der Variation beider Faktoren in einem Sinne sind meist Ausnahmeerscheinungen und jedenfalls so gut wie stets dem wirtschaftlichen Willen der Produzenten entzogen. Wir haben darum absichtlich Beispiele aus der Landwirtschaft gewählt, wo es sich um Folgen aus Naturtatsachen handelt. In der Industrie handelt es sich hier regelmäßig um "vorübergehende Erscheinungen", die nicht dem regelmäßigen Bilde angehören. So z. B. stellt das berühmte A. Smithsche Beispiel von dem plötzlichen Eintritt einer Landestrauer mit ihrer sofort folgenden starken Preissteigerung schwarzer Kleidungsstoffe ein Beispiel für den günstigsten, das Aussterben der Panzerschmiede ein solches für den ungünstigsten Fall dar. Hier hebt oder begräbt den Produzenten die seinem Willen entzogene Welle der Konjunktur.

Im regelmäßigen wirtschaftlichen Leben aber der Industrie wird der Produzent fortwährend vor die Frage gestellt, auf welche Weise er die beiden Faktoren bewußt variieren soll, um seinen Gesamtprofit in günstigen Zeiten zu steigern und in ungünstigen mindestens zu bewahren. Wird es für ihn vorteilhafter sein, von wenigen Waren einen hohen Einzelprofit oder von mehr Waren einen niederen Einzelprofit einzuziehen? Soll er seine Produktion, sein Einzelangebot, ausdehnen oder einschränken? Das ist der Gegenstand seiner "Spekulation".

Beide Wege werden bekanntlich beschritten. Wir haben eben jetzt in der Beschränkung der Kohlenförderung, der Roheisenproduktion etc. ein großartiges Beispiel für die erste Methode erlebt, die den Gesamtprofit durch Verminderung des Absatzes und hohe [S. 130] {SCAN} Preise an der Wareneinheit hebt. Aber diese Methode ist nur in den verhältnismäßig noch seltenen Fällen anwendbar, wo der Einzelproduzent sicher ist, daß die Verminderung seines Individualangebots auch eine entsprechende Verminderung des Gesamtangebots herbeiführt, also nur da, wo ein Einzelunternehmer ein faktisches oder rechtliches Monopol besitzt, (wie z. B. der Bernstein-Becker es hatte); oder da, wo die große Mehrzahl der Unternehmer einer Branche durch bindende Verträge zusammengeschlossen sind, also in Trusts, Syndikaten u. dergl.

In allen anderen Fällen aber, d. h. unter den normalen Bedingungen eines Marktes, wie wir ihn um uns vor Augen haben, ist es wahrscheinlich, daß in 99 von 100 Fällen der Verkäufer den zweiten Weg einschlagen wird, in der Hoffnung, seinen Gesamtprofit durch vermehrtes Angebot und durch Verkauf von mehr Wareneinheiten bei verringertem Gewinnsatz an der einzelnen Ware auf der Höhe zu halten. Denn da, wo ein Zweig der Warenerzeugung nicht durch bindende Verabredung seitens der Mehrzahl sämtlicher Produzenten unter einen Willen gebracht ist, da kann der einzelne Produzent nur sehr selten darauf rechnen, daß die Verminderung seines individuellen Angebots auch eine Verminderung des Gesamtangebots bewirken wird. Er kann ziemlich sicher sein, daß seine Konkurrenten ganz im Gegenteil dann erst recht ihre Produktion ausdehnen werden, um ihren Gesamtprofit auf der Höhe zu halten; und daß er dann als Strafe für seine Vorsicht in der Lage sein wird, sich mit einem geringeren Einzelgewinnsatz als vorher an einer verminderten Warenmenge zu begnügen, so daß sein Gesamtprofit auf das empfindlichste von zwei Seiten her zusammenschrumpft. Dieser Eventualität kann er sich nicht aussetzen; und so wird in jedem Zweig der Produktion, der nicht syndiziert ist, oder in dem nicht ein einzelner Produzent den Markt fast monopolistisch beherrscht, die Folge einer Erniedrigung des Preises gerade die sein, daß jeder einzelne Produzent seine Erzeugung und sein Angebot vermehrt und den Preis seiner Ware noch tiefer wirft.

Während wir also sahen, daß das privat-wirtschaftliche Interesse des einzelnen Käufers ihn zu einer Handlungsweise führt, die mit dem Kollektivinteresse sämtlicher Käufer derselben Ware auf das glücklichste harmoniert, sehen wir, daß gerade umgekehrt das Privatinteresse des einzelnen Verkäufers ihn zu einer Handlungsweise führt, die mit dem Kollektivinteresse der Gesamtheit der Verkäufer derselben Ware in der denkbar [S. 131] {SCAN} stärksten Weise kollidiert. Wir haben also die vollste Harmonie zwischen sämtlichen Käufern und die vollste Disharmonie zwischen sämtlichen Verkäufern.

Hier liegt der Schlüssel für die Psychologie und damit für die Handlungsweise rein wirtschaftlicher Vereinigungen, d. h. der Genossenschaften. Alle Genossenschaften von Käufern, d. h. alle Vereinigungen solcher wirtschaftenden Subjekte, die Waren vom Markte nehmen, um sie im inneren Kreise letzter Konsumenten zu verteilen, haben jederzeit das glücklichste Gedeihen aufgewiesen. Es sind dies die wirklich als letzte Konsumenten organisierten Verbände des Konsumvereins, der Kreditgenossenschaft, der Rohstoff-, Werk- und Baugenossenschaft. Dagegen sind die wirtschaftlichen Verbände von Verkäufern niemals zu Erfolg und Blüte gelangt, d. h. Genossenschaften solcher wirtschaftenden Subjekte, die Waren im inneren Kreise herstellen, um sie durch Verkauf auf den Markt zu bringen. Dazu gehören vor allem und unter allen Umständen industrielle Produktiv- und Magazingenossenschaften und ferner diejenigen Formen des Konsumvereins und der Kreditgenossenschaft, die nicht als letzte Konsumenten organisiert sind, sondern die von einem inneren Ringe von Wiederverkäufern zu ihrem ausschließlichen oder vorwiegenden Nutzen exploitiert werden. In jenen, den Käufergenossenschaften, herrscht der von den Fanatikern der Kooperation sogenannte "genossenschaftliche Geist", d. h. sie bleiben jederzeit jedem Zutrittslustigen offen, und ihre Anteile gewinnen niemals Spekulationswert. In diesen aber, in den Verkäufergenossenschaften, fehlt der genossenschaftliche Geist durchaus; sie gehen meist an ihrem inneren Widerspruch zu Grunde; und in den seltenen Fällen, in denen sie gedeihen, hören sie auf, Genossenschaften zu sein: sie unterliegen ohne Ausnahme dem von mir so genannten "Gesetz der Transformation", wonach sie sich gegen Zutrittslustige sperren; statt neue Mitglieder zu gleichen Rechten aufzunehmen, abhängige Arbeitskräfte exploitieren; und wonach ihre Anteile Spekulationswert erhalten.

Im meiner "Siedlungsgenossenschaft", Berlin 1896, habe ich diese Dinge auf das eingehendste behandelt und muß wegen weiterer Details auf dieses Werk verweisen.

Uns will es nun zweifellos erscheinen, daß diese durchaus verschiedene Entwicklung der beiden genossenschaftlichen Arten darauf beruht, daß die erste Abart, als eine Vereinigung von Käufern, auf einer vollständigen Interessensolidarität jedes einzelnen Mitgliedes mit der Gesamtheit sich aufbaut; während die zweite Abart, als eine [S. 132] {SCAN} Vereinigung von Verkäufern, durch den tiefen Interessengegensatz der einzelnen Verkäufer zu der Gesamtheit auseinandergespellt wird. Und so wäre der berühmte genossenschaftliche Geist nicht etwa die Ursache, sondern lediglich die Folge einer (prästabilierten) Harmonie; während umgekehrt sein Mangel nicht auf eine moralische Minderwertigkeit der beteiligten wirtschaftenden Subjekte, sondern darauf zurückzuführen ist, daß ihre Interessen einander zuwiderlaufen.

Wenn die geschilderten Bedingungen innerhalb der wirtschaftlichen Genossenschaft ganz ausnahmslos das Schicksal der einzelnen Vereinigung bedingt haben, so ist doch der psychologische Gegensatz und das aus ihm folgende gegensätzliche Verhalten der Käufer resp. Verkäufer nicht etwa auf die Genossenschaft beschränkt; er tritt hier nur, entsprechend der Reinheit der Bedingungen, in besonderer Schärfe und Klarheit hervor: die reinen Wirtschaftsgenossenschaften sind sozusagen reine Experimente, an denen der Unterschied der psychologischen Motivierung und der daraus folgenden Handlungsweise studiert werden kann.

Aber, wie wir ja unseren leitenden Gedanken nicht aus einer Betrachtung der Genossenschaft, sondern aus einer ganz allgemeinen Betrachtung abstrakt gedachter wirtschaftlicher Subjekte gewonnen haben, so gelten die gewonnenen Leitsätze auch für jede auch nicht durch ein besonderes Organisationsband verbundene, zufällig gegebene Menge von Käufern resp. Verkäufern derselben Ware. Und so lassen sich daraus für die Massenpsychologie der Tauschwirtschaftsgesellschaft und für den auf ihr beruhenden Mechanismus der kollektiven Handlung wichtige Folgerungen ableiten.

Aus der von uns abgeleiteten Notwendigkeit, daß jeder einzelne Verkäufer bestrebt sein muß, bei sinkendem Preise seine Produktion zu vermehren, um trotz vermindertem Einzelprofit an der Wareneinheit seinen Gesamtprofit auf der Höhe zu halten, läßt sich z. B. soweit wir zu sehen vermögen, zum ersten Mal vom Standpunkt der "Naturlehre", der Lehre vom wirtschaftlichen Eigennutz, das Verständnis für das Zustandekommen von Krisen gewinnen. Adam Smith und seine unmittelbaren Schüler nahmen an, daß, wie bei steigendem Preise einer Ware das Angebot sich vermehre durch Vergrößerung der Produktion, so es bei sinkendem Preise sich vermindere durch Verkleinerung der Produktion. So richtig der erste Satz ist, so falsch ist, wie wir zeigten, für alle nicht syndizierten Produktionszweige der zweite Satz: gerade bei sinkendem Preise treibt der wirtschaftliche Eigennutz den Produzenten der "kapitalistischen Gesellschaft", [S. 133] {SCAN} seine Erzeugnisse zu vermehren und dadurch den Markt immer mehr zu überfüllen. Es entsteht eine zuerst partielle, dann sich immer mehr ausbreitende Überfüllung des Marktes, die schließlich zum Krach, zur Krise, führt. Ich habe in meinem "Großgrundeigentum und sociale Frage", Berlin 1898, S. 153 ff., diesen Mechanismus der Krisenentstehung bis in die Einzelheiten abzuleiten mich bemüht und muß mich hier auf diese Andeutungen beschränken.

Wenn man den psychologischen Gegensatz zwischen der Stellung des einzelnen Käufers zu der Gesamtheit der Käufer auf der einen Seite, und der Stellung des einzelnen Verkäufers zu der Gesamtheit der Verkäufer auf der anderen Seite: wenn man den psychologischen Gegensatz auf seine letzte Wurzel zurückverfolgt, so findet man also, daß er durch ihr verschiedenes Verhältnis zum Profit verursacht wird.

Er ist nämlich zwar richtig, daß der Käufer das Interesse und das Streben hat, den Profit möglichst zu verringern, den er dem Verkäufer bewilligen muß; und daß der Verkäufer das Interesse und das Streben hat, den Profit möglichst zu vermehren, den er dem Käufer abdringen möchte: aber es ist nichtsdestoweniger richtig, daß trotzdem der Profit, den jener vermindern und dieser vermehren will, zwei sehr verschiedene Dinge sind.

Dem Käufer nämlich (d. h. dem letzten Konsumenten, nicht etwa dem Wiederverkäufer, der Produzent ist) liegt nur daran, den Profit an derjenigen Menge von Wareneinheiten, die er für seine Privatwirtschaft braucht, möglichst herabzudrücken. Damit ist sein Vorteil erschöpft. Er kann nicht mehr Waren vom Markte nehmen, als das Verhältnis seiner Bedürfnisse zu seiner Kaufkraft bedingt; und beides ist individuell aufs engste begrenzt.

Dem Verkäufer aber liegt am Gesamtprofit, d. h. es liegt ihm nicht nur daran, die auf die Wareneinheit entfallende Rate des Profits zu erhöhen: damit ist sein Vorteil nicht erschöpft. Sondern er will auch so viel wie möglich von diesen Profitraten für sich gewinnen. Er strebt danach, so viel Einheiten seiner Ware zu verkaufen, als die gesamten Käufer aufnehmen können. Das ist zwar auch eine Begrenzung, aber keine individuelle, sondern eine gesellschaftliche, ist für den einzelnen praktisch unbegrenzt.

[S. 134] {SCAN} Wenn es selbstverständlich ist, daß schon durch diesen hier aufgedecken Gegensatz zwischen der psychologischen Stellung des einzelnen Käufers zur Gesamtheit der Käufer auf der einen Seite, und der Stellung des einzelnen Verkäufers zur Gesamtheit der Verkäufer auf der anderen Seite das Verhalten dort ein ganz anderes sein muß als hier: so wird das noch verschärft durch einen zweiten, bisher ebensowenig beachteten Gegensatz der Motivierung. Ich zitiere in folgendem einen Absatz aus meinem ersten Werke [2]:

"Des Käufers Interesse ist mit dem Preise einer sehr großen Anzahl von Warenarten verknüpft, die er zur Befriedigung seiner verschiedenen Bedürfnisse eintauschen muß.

Des Verkäufers Interesse ist mir dem Preise nur einer einzigen Warenart verknüpft, derjenigen, welche er herstellt, um sie gegen die Befriedigungsmittel seiner Bedürfnisse zu vertauschen.

Weil des Käufers Interesse mit sehr vielen verschiedenen Waren verknüpft ist, ist es mit dem Preise der einzelnen Ware nur sehr lose verknüpft. Ja, brauchte der Käufer gleiche Wertmengen von allen Warenarten, so würde ihm der Preis der einzelnen Ware sehr gleichgültig sein; denn ein Steigen des Preises der einen Ware, weil die Nachfrage das Angebot übersteigt, kann nur möglich sein, weil in einer anderen Ware das Angebot überwiegt, also dort der Preis sinkt. - Da aber der einzelne Käufer (Konsument) nicht von allen Warenarten und nicht gleiche Wertmengen braucht, so kann ihn ein starkes Sinken der Preise für seine hauptsächlichen Befriedigungsmittel in einen höheren Komfort, das Steigen derselben Preise in einen niedrigeren Komfort versetzen. Sinkt der Preis für unentbehrliche Befriedigungsmittel, so wird er sekundäre Bedürfnisse befriedigen, steigt der Preis, so wird er sekundäre unbefriedigt lassen. Steigt Wolle im Preise, so wird er sich in Leinwand oder Baumwolle kleiden, steigt Korn im Preise, so wird er sich mit Kartoffeln sättigen. So kann er entbehren, vielleicht hart entbehren, wenn er gewohnte Bedürfnisse gar nicht oder nur mit ungewohnten Mitteln befriedigen kann; aber er beherrscht, so weit seine Kaufkraft reicht, den ganzen Warenmarkt, und seine Existenz ist unter gewöhnlichen Umständen nicht bedroht, so lange es noch ein Ersatzmittel für die ihm durch die Preissteigerung unzugänglich gewordenen Befriedigungsmittel gibt.

[S. 135] {SCAN} Des Verkäufers Interesse ist ein ganz verschiedenes. Es ist mit dem Preise einer einzigen Ware und darum unlösbar verknüpft. Steigt dieser Preis, so gleicht kein Sinken eines anderen Warenpreises seinen Vorteil aus, denn er ist mit den anderen Preisen durch sein Interesse als Verkäufer nicht verknüpft. Im Gegenteil, dieser Preissturz der anderen Waren kommt ihm in doppelter Beziehung zugute, als Verkäufer, weil dadurch die allgemeine Kaufkraft für seine eigene Ware größer wird, und als Käufer, weil er sein Bedürfnis nach jenen anderen Waren billiger decken kann.

Fällt aber der Preis seiner eigenen Ware, so ist nicht sein Komfort, sondern seine Existenz in Frage. Für ihn gibt es kein Ersatzmittel. Er beherrscht den Warenmarkt einzig und allein mit seinem Produkt, das seine Kaufkraft bedingt."

Aus diesem Gegensatz, so scheint es uns, ist einzig und allein der ungeheure Unterschied zu verstehen, der bei Konkurrenz der Käufer resp. der Verkäufer auf dem Markt obwaltet.

Der Wettbewerb der Käufer ist unter normalen Verhältnissen ein leidenschaftsloser, sozusagen freundschaftlicher. Man teilt sich gegenseitig billige, günstige Bezugsquellen mit, man freut sich, wenn der andere ebenso vorteilhaft einkauft, wie man selbst eingekauft hat.

Aber auf dem Verkäufermarkt der kapitalistischen Gesellschaft besteht, wie wir wissen, fortwährend, mit Ausnahme bereits syndizierter Zweige, der wütendste Konkurrenzkampf, dem kein Mittel zu schlecht ist, der mit allen Mitteln der Reklame, der Fälschung, der Unterbietung à tout prix geführt wird. Die Ursache für dieses vollkommen verschiedene Verhalten liegt darin, daß es sich bei den Käufern unter normalen Verhältnissen immer nur um ein winziges Mehr oder Minder an Komfort handelt, während es sich bei den Verkäufern geradezu um die Existenz handelt.

Wie das die Unterschiede der psychologischen Motivierung, das wirtschaftliche Verhalten, bestimmt, erkennt man sofort, wenn man das Verhältnis der Käufer zueinander auf einem Markt betrachtet, der durch irgend welche Verhältnisse so ungenügend beschickt wurde, daß auch ihre Existenz mit dem Preise einer Wahre unlösbar verknüpft ist, d. h. bei einer Hungersnot. Sobald der Preis der Lebensmittel eine Höhe erreicht, die die Existenz der Käufer bedroht, so ändert sich das Aussehen des Marktes durchaus. An Stelle des leidenschaftslosen Einkaufes tritt der leidenschaftliche Wettkampf um das Unentbehrliche: das Angebot, die Ware.

[S. 136] {SCAN} Und weil die Verkäufer in der "kapitalistischen Gesellschaft" schon unter gewöhnlichen Umständen sich in derselben Lage befinden, daß ihre Existenz von der Preisbildung einer einzigen Ware abhängt, deswegen herrscht unter ihnen auch unter gewöhnlichen Umständen nicht der leidenschaftslose Verkauf, sondern der leidenschaftliche Wettkampf um das Unentbehrliche: die Nachfrage, die Kundschaft.

Es handelt sich, wie man erkennt, hier um zwei so grundverschiedene, weil grundverschieden motivierte, Dinge, daß es wünschenswert erscheint, die beiden Arten der "Konkurrenz" terminologisch auseinander zu halten. Es dürfte sich vielleicht empfehlen, für die leidenschaftslose "brüderliche" Art der Konkurrenz unter den Käufern auf normal beschicktem Markte den Terminus: friedlicher Wettbewerb, einzuführen, während man für die Konkurrenz der Käufer bei Hungersnöten und der Verkäufer unter den gewöhnlichen Umständen einer kapitalistischen Wirtschaft den Terminus: feindlicher Wettkampf, brauchen könnte. Eine solche terminologische Scheidung würde namentlich gegen die Marxsche Wirtschaftstheorie, die mit dem Begriff "Konkurrenz" fortwährend Doppelspiele treibt, von höchstem Werte sein können.

II.

Der geschilderte tiefgreifende Gegensatz zwischen dem Verhältnis der Käufer einer Ware zu einander und dem Verhältnis der Verkäufer einer Ware zueinander verletzt sozusagen das symmetrische Gefühl des Beobachters. Es erscheint unbegreiflich, daß die wirtschaftlichen Handlungen der Menschen, und zwar derselben Menschen in den beiden korrespondierenden Phasen ihrer tauschwirtschaftlichen Gesamttätigkeit "von Natur aus" so grundverschieden motiviert sein sollten. Und so fühlt man sich durch ein Bedürfnis logischer Symmetrie gedrungen, zu untersuchen, ob denn die Notwendigkeit für die Verkäufer, ihr Angebot bei sinkendem Preise zu vermehren und dadurch ihr eigenes Geschäft mindestens zeitweise zu verschlechtern und kritischen Störungen auszusetzen; - und ob denn der feindliche Wettbewerb unter ihnen notwendige Erscheinungen jeder auf Warentausch beruhenden Gesellschaft, - oder ob sie Folgen einer Störung sind?

Betrachten wir zunächst die Vermehrung des Angebots bei sinkenden Preisen, die nach unserer Meinung zu den Industrie- und Handelskrisen die erste Veranlassung gibt!

[S. 137] {SCAN} Wir sind heute so sehr gewöhnt, daß unter den normalen Verhältnissen unserer Wirtschaftsordnung jede Ausdehnung der Produktion ohne weiteres möglich ist, zu der das nötige Kapital zur Verfügung steht, daß wir kaum noch an den zweiten Faktor denken, der fast regelmäßig ebenfalls dazu nötig ist, nämlich an die Vermehrung der ans Werk gestellten Arbeitskräfte. Es erscheint uns fast als ein Naturgesetz, daß auf dem Arbeitsmarkt immer genügende Hände angeboten sind, um jede Ausdehnung der Produktion zu bewerkstelligen, für die das Kapital hinreicht. Und die beiden heute um die Herrschaft kämpfenden Wirtschaftstheorien sind auch tatsächlich der Ansicht, daß die stets aufs neue erfolgende Rekrutierung der "Reservearmee" eine naturgesetzliche Erscheinung ist. Die Universitätsökonomie sieht darin die Folge eines wirklichen, im eigentlichen Sinne so zu bezeichnenden, Naturgesetzes, des Bevölkerungsgesetzes nach Malthus, während die Marxsche Wirtschaftsauffassung darin lediglich ein historisches Gesetz der kapitalistischen Warenproduktion erblickt. Während nach jener Auffassung die überschwellende Geburtenziffer jederzeit mehr Hände auf den Markt wirft, als die Industrie aufzunehmen fähig ist, ist es nach dieser Auffassung die verderbliche Eigenschaft der Maschine, "Arbeiter frei zu setzen" und dadurch die Cadres der Reservearmee stets neu zu füllen.

Ob eine dieser beiden Theorien richtig ist, wollen wir zunächst nicht untersuchen. Aber wir wollen von unserem Recht abstrakter Deduktion weiteren Gebrauch machen, indem wir uns eine Gesellschaft vorstellen, die ein solches überschüssiges Angebot von Arbeitskräften nicht kennt. (Um jeden Einwand der Zwecklosigkeit solcher Untersuchung von vornherein auszuschließen, wollen wir vorgreifend bemerken, daß nach der übereinstimmenden Feststellung sämtlicher Wirtschaftshistoriker das mittelalterliche Deutschland vom 11. bis 14. Jahrhundert tatsächlich ohne überschüssige Arbeitskräfte und "Reservearmee" gewesen ist, und daß wir auch einige moderne Beispiele für eine derartige von der Regel abweichende Ordnung der Wirtschaft beibringen können.)

Carey [3] hat für die Gesellschaft mit einem regelmäßigen Überangebot von Händen, wie wir sie um uns beobachten, und andererseits [S. 138] {SCAN} für die von uns vorgestellte, in der ein solches Überangebot regelmäßig fehlt, eine sehr charakteristische Bezeichnung gefunden. Er sagt, wir seien so sehr an Verhältnisse gewöhnt, "in denen immer zwei Arbeiter einem Meister nachlaufen", daß wir uns gar keine Gesellschaft mehr vorstellen könnten, "in der immer zwei Meister einem Arbeiter nachliefen". Versuchen wir, die in dieser fremdartigen Vorstellung liegenden Schwierigkeiten unsererseits zu überwinden und uns eine solche Gesellschaft der zweiten Art in ihrem Mechanismus vorzustellen!

Wenn, wie in der heutigen, nennen wir sie "kapitalistischen Gesellschaft", jederzeit zwei Arbeiter einem Meister nachlaufen, um Arbeit zu erhalten, so werden sie sich unterbieten: denn sie sind Verkäufer einer Ware, und die Konkurrenz der Verkäufer zeigt sich im Unterbieten. Dabei wird der Preis ihrer Ware: Arbeitskraft naturnotwendigerweise gedrückt werden bis auf ein gewisses Minimum, das ja nicht das physiologische Minimum an primären Befriedigungsmitteln zu sein braucht, sondern das nur zusammenzufallen braucht mit einem gewissen Mindestmaß von Befriedigungsmitteln, die zur "anständigen Lebenshaltung" der betreffenden Klasse gerechnet werden. Unter Umständen aber, namentlich bei übertriebener Überfüllung des Arbeitsmarktes mit beschäftigungslosen Händen oder bei noch gänzlich fehlender Fühlung der Arbeiter untereinander, oder namentlich bei massenhaftem Zustrom einer Klasse mit wesentlich niedrigerer Lebenshaltung als die bisher den Markt versorgende, kann der Lohn noch unter das soziale Minimum auf das physiologische Minimum und selbst darunter gedrückt werden, was sich dann in einer vermehrten Sterblichkeitsrate zeigen wird. Wenn aber, wie in unserer vorgestellten Wirtschaft, "stets zwei Meister einem Arbeiter nachlaufen", so überbieten sie sich; denn sie sind Käufer einer Ware, und die Konkurrenz von Käufern zeigt sich im Überbieten; daher wird der Preis der Ware Arbeitskraft getrieben werden bis nahe an ein Maximum, bei dem dem Arbeitgeber kein Vorteil mehr bleiben würde, so daß für ihn das Motiv zum Kaufen verschwände. Dieses Maximum näher zu bestimmen, wird unsere erste Aufgabe sein.

Der Vorteil der Kooperation mehrerer Arbeiter an einem Werke liegt in verschiedenen Dingen. Erstens wird durch das meistens mögliche Zusammenarbeiten in derselben Werkstätte an Produktionskosten gespart, da die Baukosten und die Kosten der Heizung und Beleuchtung, Versicherung und Amortisation eines großen Werkgebäudes [S. 139] {SCAN} unvergleichlich billiger zu stehen kommen, als die vielen kleinen Gebäude. Ferner wird durch die Kooperation eine innere Arbeitsteilung in der Werkstätte möglich, welche die bekannte steigernde Folge auf die Produktivität hat, weil die einzelnen Teilarbeiter in der Herstellung ihres spezifischen Produkts außerordentlich geschickter werden, weil sie sich besonders angepaßter Werkzeuge und Maschinen bedienen können, weil schließlich der Übergang von einer Beschäftigung zur anderen mit seinem zeitraubenden Wechsel des Werkzeuges, vielleicht des Arbeitsplatzes, und der noch viel zeitraubenderen Anpassung der Gehirn- und Muskelakkommodation an die neue Tätigkeit fortfällt. Diese Vorteile sind jeder kooperativen Arbeit mehrerer vereinigter Werkleute eigen.

Trotzdem arbeitet die eine Werkstatt unter sonst gleichen Bedingungen ergiebiger als die andere, wenn die Leitung eine besonders qualifizierte ist. Es läßt sich durch geeignete Auswahl in Rohstoffen und Werkzeugen, durch geschickte Disposition der vorhandenen Arbeitskräfte und durch besondere Tüchtigkeit im Absatz der Produkte soviel Reibung ersparen, daß der tüchtigere Werkleiter seinen Konkurrenten in weitem Abstande voranzugehen imstande ist. Die Vorteile, die der Unternehmer auf diese Weise zu erringen vermag, stellen augenscheinlich nichts anderes dar, als den Lohn einer hochqualifizierten Arbeitskraft und entsprechen durchaus den Honoraren besonders befähigter oder beliebter Gelehrten und Künstler. Die übrigen Vorteile der Kooperation aber, die in ihr selber liegen, sind Folgen nicht persönlicher, sondern rein gesellschaftlicher Bedingungen. Solange jederzeit "zwei Arbeiter einem Meister nachlaufen", wie jetzt, so daß der Lohn um das Minimum oszilliert, wird der Unternehmer regelmäßig in der Lage sein, den größten Teil der rein gesellschaftlichen Vorteile der Kooperation für sich mit Beschlag zu belegen. In unserer vorgestellten andersartigen Gesellschaft jedoch, wo stets zwei Meister einem Arbeiter nachlaufen, und der Lohn um ein Maximum oszilliert, werden die Arbeiter regelmäßig in der Lage sein, diese gesellschaftlichen Vorteile für sich mit Beschlag zu belegen. Je nach der zufälligen Lage von Angebot und Nachfrage in dem betreffenden Zweige der Produktion wird der Unternehmer das eine Mal etwas mehr als seinen "Arbeitslohn", das andere Mal etwas weniger erhalten; und die Arbeiter werden einmal etwas mehr und einmal etwas weniger als die gesamten gesellschaftlichen Vorteile der Arbeitsteilung für sich in Anspruch nehmen können: aber der "natürliche Preis", um den der Unternehmergewinn dieser Gesellschaft schwankt, [S. 140] {SCAN} wird lediglich die Entlohnung einer hochqualifizierten Arbeit sein müssen.

Um diesen wunderbar klingenden Gedankengang mit der heute geltenden Anschauung in Berührung zu bringen, wollen wir folgende Auseinandersetzung von Böhm-Bawerk zitieren: "Vom Gesamtertrag zieht man in der Praxis zunächst die "Kosten" ab. Das sind, wenn man genauer zusieht, in Wahrheit nicht die sämtlichen Kosten - denn auch die angewendete Bodennutzung oder Unternehmertätigkeit gehören als Güter von Wert unter die Kosten -, sondern eben die Aufwände für die ersetzlichen Produktivmittel von gegebenem Substitutionswert, für Lohnarbeit, Rohstoffe, Werkzeugabnutzung usw.; und den Rest schreibt man als Reinertrag - oder den nicht vertretbaren Gliedern zu: der Bauer seinem Boden, der Bergwerksbesitzer seinem Bergwerk, der Fabrikant seiner Fabrik, der Kaufmann seiner Unternehmertätigkeit [4]."

Der Arbeitslohn hat in einer Gesellschaft, in der stets zwei Arbeiter einem Meister nachlaufen, "gegebenen Substitutionswert": aber er hat ihn nicht in unserer vorgestellten Gesellschaft, in der jederzeit zwei Meister einem Arbeiter nachlaufen. Im Gegenteil muß hier bei fortschreitender Volkswirtschaft der Arbeitslohn ganz regelmäßig mit der Produktivität wachsen [5]. Das heißt mit anderen Worten: der Unternehmer kann hier wohl für seine Arbeitsleistung ein wesentlich höheres Einkommen haben als irgend einer seiner Angestellten, aber dieses Einkommen ist im Durchschnitt reiner Arbeitslohn und enthält kein Teilchen "Profit".

(Um diese für unsere Gewohnheit höchst fremdartige Auffassung nicht als rein zwecklose Gedankenspielerei betrachten zu lassen, wollen wir wieder vorgreifend bemerken, daß in jener Zeit des deutschen Mittelalters, in der, wie wir sagten, auf dem Arbeitsmarkt stets die Nachfrage das Angebot überstieg, tatsächlich von einem "Lohn" oder "Profit" in unserem modernen Sinne keine Rede war. Wo überhaupt damals die volkswirtschaftliche Arbeitsteilung über die Berufsteilung selbständiger Meister zur Kooperation vereinter Werkleute an einer Arbeit vorgeschritten war, arbeiteten Meister und voll ausgebildete [S. 141] {SCAN} Gesellen fast stets nicht im Verhältnis von Unternehmer und Angestelltem, sondern im Verhältnis kapitalistischer Gesellschafter, "auf den halben oder dritten Pfennig". Näheres darüber siehe in meinem "Großgrundeigentum und sociale Frage".)

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Betrachten wir nun wieder das Verhältnis eines Verkäufers in solcher andersartigen Gesellschaft zu der Gesamtheit der Verkäufer.

Prinzipiell ist das allgemeine Verhältnis dasselbe wie in der kapitalistischen Gesellschaft, denn sowohl die Gesamtheit der Verkäufer einer Ware, als auch jeder einzelne, haben auch in der, wie wir sie nennen wollen, "reinen Wirtschaft", gerade wie in der kapitalistischen, das Interesse, den Preis zu treiben, und namentlich dann, wenn er unter den "natürlichen Preis" fällt. Das einzige wirksame Mittel zu diesem Zweck ist auch hier die Verminderung des Angebots.

Wir sahen aber, daß der einzelne Verkäufer der kapitalistischen Gesellschaft in allen nicht syndizierten Zweigen fast regelmäßig das stärkste Interesse haben wird, seine individuelle Produktion zu steigern, und daß gerade dadurch das Gesamtangebot des betreffenden Zweiges in einer verderblichen Weise über die Nachfrage hinausgeht. Es fragt sich nun, wie der Verkäufer der reinen Gesellschaft in diesem Falle handeln wird, oder besser, zu welchem Verhalten ihn sein Vorteil veranlassen wird?

Das genügende Kapital zur Erweiterung des Betriebes vorausgesetzt, wird der Unternehmer, um sein Angebot vermehren zu können, auch hier in 99 von 100 Fällen vermehrter Hände bedürfen. Diese Hände soll er aber nach der Voraussetzung nicht auf dem Markte mieten können, der stets mit der Ware Arbeitskraft [überfüllt[6]] ist, sondern auf einem Markte, auf dem nach unserer Voraussetzung schon unter gewöhnlichen Umständen ein Unterangebot besteht. Wenn er also überhaupt genügende Arbeitskräfte erhalten kann, so ist das nur möglich, wenn er sie anderen Unternehmern durch höheres Lohnangebot abspenstig macht. Es entsteht nun die Frage, ob eine solche Verhaltensweise für ihn vorteilhaft oder unvorteilhaft sein wird? Denn daraus ergibt sich nach unserer ferneren Voraussetzung einer allein durch den wirtschaftlichen Eigennutz motivierten Handlungsweise der Entschluß, den er fassen wird.

Wir haben zu zeigen uns bemüht, daß in der reinen Gesellschaft der "Unternehmergewinn" um den Arbeitslohn qualifizierter Leitung [S. 142] {SCAN} als seinen natürlichen Preis oszilliert. Bei sehr gutem Geschäftsgange der betreffenden Branche konnte er, wie wir uns überzeugten, etwas über diesem Satze stehen; bei ungünstigem Geschäftsgange aber, d.h. eben bei sinkendem Preise, war der Unternehmer schon bei der bisherigen Ausdehnung der Produktion gezwungen gewesen, seinen Arbeitern einen Teil seines Arbeitslohnes zu opfern. Wenn er jetzt den Entschluß faßt, unter solchen Umständen neue Arbeiter zu noch höheren Löhnen einzustellen, um dadurch ein noch größeres Überangebot seiner Ware zu erzeugen und ihren Preis noch tiefer zu drücken, so verkleinert er sein eigenes Arbeitseinkommen von beiden Seiten her: durch Produktion unter höheren Erzeugungskosten und durch Verkauf zu geringerem Preise. Ein solches Verhalten würde also aufs allerdeutlichste zu seinem Nachteil ausschlagen.

Erinnern wir uns, aus welchen Gründen der Unternehmer der kapitalistischen Gesellschaft einen Vorteil darin finden konnte, bei sinkendem Preise sein Angebot zu vermehren. Wir sahen ihn an jeder verkauften Wareneinheit einen eigentlichen "Profit" beziehen, und machten uns klar, daß die Summe des "Gesamtprofites" auch bei sinkendem Preise dadurch auf der Höhe gehalten und sogar noch gesteigert werden kann, daß der Unternehmer einen verminderten Einzelprofit von entsprechend mehr abgesetzten Wareneinheiten einzieht.

Wir hatten damals den "Verkäufer" schlechthin im Auge, d.h. den eigentlichen Erzeuger so gut wie den "Wiederverkäufer"; und wir betrachteten den Gesamtprofit in dem Augenblicke seiner Realisierung in der Sphäre der Zirkulation.

Wir haben jetzt unser Augenmerk auf den Moment der Entstehung des Gesamtprofites in der Sphäre der Produktion zu richten. Hier muß der Gesamtprofit entstanden sein, ehe er realisiert werden kann. Auf unseren Fall angewendet, muß die vermehrte Menge an Wareneinheiten erst erzeugt sein, ehe sie zu einem geringeren Preise verkauft werden kann. Eine vermehrte Menge an Erzeugnissen kann unter sonst gleichen Umständen nur durch eine Einstellung neuer Arbeitskräfte erreicht werden.

Vom Standpunkte der Erzeugung aus stellt sich also dem Produzenten im engeren Sinne die Frage, wie er sich bei sinkendem Preise zu verhalten habe, in etwas anderer Form, aber mit demselben praktischen Inhalt. Die beiden variablen Faktoren, deren Multiplikation seinen "Gesamtprofit" ergibt, sind unter diesen Gesichtswinkel 1. der an jedem seiner Arbeiter zu erzielende Einzelprofit und 2. die Summe seiner Arbeiter.

[S. 143] {SCAN} Daß wir hier keine logische Volte schlagen, läßt sich mit einer einfachen Betrachtung zeigen. Die "Wareneinheit" unserer obigen Betrachtung war eine unbenannte Größe a, für die wir jede beliebige konkrete Größe einzusetzen berechtigt waren. Wir wählten oben eine Maß- oder Gewichtsgröße (Tonne Eisen, Meter Tuch): aber nichts kann uns hindern, auch das durchschnittliche Produkt eines in der Fabrik beschäftigten Arbeiters als "Wareneinheit" zu bezeichnen. Dann zeigt sich sofort, daß hier tatsächlich dieselbe Sache nur von zwei verschiedenen Gesichtspunkten aus gesehen worden ist, einmal von dem der Zirkulation, und einmal von dem der Produktion. Denn jetzt bezeichnet der "Einzelprofit" beide Male dieselbe Größe.

Dem "kapitalistischen Unternehmer" stellte sich also als Objekt seiner "Spekulation" die Frage: soll er Arbeiter entlassen, um den Gesamtprofit durch Verkauf von weniger Einheiten zu hohem Preise möglichst hoch zu halten? Oder soll er neue Arbeiter einstellen, um den Gesamtprofit durch Verkauf von mehr Einheiten zu niederem Preise möglichst hoch zu halten?

Davon kann bei dem Unternehmer der "reinen Wirtschaft" keine Rede sein: denn er bezieht ja durchschnittlich überhaupt keinen Profit, sondern nur Arbeitslohn. Er ist nicht, wie der Verkäufer der kapitalistischen Gesellschaft, am "Gesamtprofit" interessiert.

So fehlt also dem Verkäufer der reinen Gesellschaft durchaus das Motiv, bei sinkendem Preise sein individuelles Angebot noch zu vermehren: im Gegenteil wird ihm ein solches Verhalten erstens zumeist materiell unmöglich gemacht dadurch, daß die nötigen Arbeitskräfte für eine Erweiterung des Betriebes gar nicht vorhanden sind, und zweitens psychologisch, da er davon nur Nachteile, niemals aber einen Vorteil haben würde. Er wird also bei sinkendem Preise sein individuelles Angebot vermindern und damit genau das tun, was die Gesamtheit der Verkäufer derselben Ware in solchem Falle wünschen muß, gerade so wie jeder einzelne Käufer einer Ware schon in der kapitalistischen Gesellschaft seine individuelle Nachfrage bei steigendem Preise vermindert und damit gerade das tut, was die Gesamtheit wünschen muß.

Es besteht also genau dieselbe Solidarität der Interessen zwischen dem einzelnen Verkäufer einer Ware und der Gesamtheit der Verkäufer in der reinen [S. 144] {SCAN} Gesellschaft, wie wir sie bei den Käufern schon in der kapitalistischen Gesellschaft nachgewiesen haben.

Wenn diese Solidarität besteht, so muß sie sich auch im gegenseitigen Verhalten äußern. Es muß der "genossenschaftliche Geist", den wir als typische Charaktereigenschaft der Käufergenossenschaften und auch aller ganz zufälligen Käuferaggregate kennen lernten, dann in der reinen Wirtschaft auch bei den Verkäufergenossenschaften und zufälligen Verkäuferaggregaten vorhanden sein, und es muß dann auch hier statt des feindlichen Wettkampfes der friedliche Wettbewerb herrschen.

(Auch hier sei vorgreifend bemerkt, daß diese psychologischen Postulate sich bei der Betrachtung der geschichtlich nachweisbaren reinen Wirtschaftsgesellschaften tatsächlich vorfinden.)

Wir sahen oben, daß der feindliche Wettkampf zwischen den Verkäufern der kapitalistischen Gesellschaft doppelt bedingt war, sozusagen durch Angriffslust und Abwehrnot. So lange jeder Unternehmer in der Lage ist, seine Produktion durch Heranziehung immer neuer Arbeitskräfte, deren Lohn um ein Minimum schwankt, zu vergrößern, hat er natürlicherweise die Tendenz, sein Geschäft zum Alleinbeherrscher des betreffenden Warenzweiges zu machen, um dann als Monopolist den Preis diktieren zu können. Zu dem Zweck greift er seine Mitbewerber feindlich an mit allen Mitteln, die das Gesetz und die in diesem Punkte recht laxe bürgerliche Moral erlauben. Seine Hauptwaffe in diesem Kampf ist die Unterbietung.

Weil aber jeder halbwegs mit Kapital und Leitung versehene Unternehmer der betreffenden Branche genau dasselbe Bestreben und dieselbe theoretische Möglichkeit hat, es in die Praxis umzusetzen: deswegen ist dieser Angriffskrieg aller gegen alle gleichzeitig ein Verteidigungskampf, ein Existenzkampf. Die Verzerrung der Wirtschaft zwingt sie sämtlich, wie jene Drachensöhne der Argonautensage, zu kämpfen, bis nur einer übrig geblieben - oder sich zu vereinigen.

Mit der Möglichkeit, auf dem dauernd zu schwach besetzten Arbeitsmarkte die nötige Zahl von Arbeitern zu gewinnen, fällt dieses Streben, den Konkurrenten zu vernichten, naturgemäß fort. Kein einzelner Unternehmer kann jemals hoffen, einen großen Warenzweig mit seiner individuellen Erzeugung monopolistisch beherrschen zu können. Und wie die mechanische Möglichkeit, so entfällt hier auch das psychologische Motiv. Denn, wo mit der Einstellung neuer Arbeiter kein "Profit" verbunden ist, wird niemand das Streben danach haben.

[S. 145] {SCAN} Jedoch ist hier noch ein Einwand möglich. Wir haben oben gezeigt, daß ein genialer Stratege der Arbeit und des Absatzes, wenn nicht seinen "Profit", so doch seinen "Arbeitslohn" durch besonders geschickte Dispositionen vermehren kann. Je größer der Betrieb, um so mehr wird er natürlich sein Genie entfalten können. Ist hier nicht ein Motiv gegeben, um ihn zur Einstellung neuer Arbeiter zu veranlassen?

Gewiß ist es das - bei steigender Konjunktur und steigenden Preisen! Aber bei sinkenden Preisen wird selbst ein genialer Disponent kaum auf den Gedanken kommen, daß er durch Ersparung von Reibung mehr gewinnen als durch vermehrten Absatz bei niedrigen Preisen und erhöhten Herstellungskosten gewinnen kann. Er hat also niemals ein Interesse an der Verdrängung seines Mitbewerbers, der für die Versorgung des Marktes gerade so nötig ist, wie er selbst, und der bei seinem etwaigen Ausscheiden sofort durch einen anderen selbständigen Unternehmer ersetzt werden müßte: sondern er hat einzig und allein das Interesse, einen höheren Arbeitslohn zu gewinnen als jeder seiner Konkurrenten. Er wird sich also bestreben, durch möglichstes Geschick im Einkauf der Rohstoffe, durch möglichste technische Vollkommenheit der Werkzeuge, durch geschickteste Disposition der vereinigten Arbeitskräfte seine Produktionskosten möglichst tief zu halten; und auf der anderen Seite durch besondere, den Wünschen der Kundschaft abgelauschte Formengebung die zahlungsfähigsten Käufer zu sich heranzuziehen, um dadurch einen höheren Preis für seine individuelle Erzeugung zu erlangen; aber nichts kann ihm ferner liegen als der Vernichtungskampf gegen seine Konkurrenten. Und darum herrscht in der reinen Gesellschaft auch zwischen den Verkäufern statt des feindlichen Wettkampfes der friedliche Wettbewerb, und statt der Kunst des Krieges, die mit allen Mitteln der Reklame und eigener opfervoller Unterbietung den industriellen Todfeind zu vernichten strebt, die unwiderstehliche Tendenz zu immer höherer technischer Ausbildung des Arbeitsprozesses und zu immer höherer künstlerischer Vollendung des Produkts.

Wir haben ober gesagt, daß das gesamte Verhalten der wirtschaftenden Subjekte in jener mehrfach herangezogenen glücklichen Periode des deutschen Mittelalters durchaus der Deduktion der reinen Wirtschaft entspricht. Wenn wir uns hier auch auf die in diesem Punkte durchaus übereinstimmenden, und wie es scheint, wirklich keinem Zweifel mehr zu unterwerfenden Untersuchungsergebnisse gerade derjenigen Forscher stützen, deren theoretische Auffassung in allem [S. 146] {SCAN} übrigen der von uns hier vertretenen aufs schärfste entgegenläuft, so möchten wir doch den immerhin bedenklichen geschichtlichen Beweis durch eine gar nicht anzuzweifelnde Tatsache der täglichen Beobachtung unterstützen. Daß es schon heute Verhältnisse gibt, unter denen auch der Verkäufer in der kapitalistischen Gesellschaft den übrigen Verkäufern derselben Ware mit der Psychologie des Käufers gegenübersteht, das beweist das Verhalten des Bauern zu seinen Standesgenossen.

Der selbstwirtschaftende Bauer verhält sich in allen Dingen psychologisch wie der Käufer; denn er ist erstens nicht am Preise einer einzigen Ware interessiert, sondern am Preise sehr vieler Waren, die er herstellt, tierischer und pflanzlicher Produkte verschiedener Art; und von dem Preise dieser Waren hängt nicht seine Existenz ab, sondern lediglich ein Mehr oder Minder an Komfort, genau wie bei dem Käufer. Ist der Preis nur eines seiner Erzeugnisse unter dem natürlichen Preis, so verzehrt er mehr davon selbst und bringt mehr von den höher rentierenden Erzeugnissen zum Verkauf auf den Markt; bleibt der Preis dauernd unter dem Rentabilitätsniveau, so schränkt er die Erzeugung dieser Ware nach Möglichkeit ein und legt den Schwerpunkt seiner Verkaufswirtschaft auf die höher rentierenden Produkte; d. h. er hat geradeso "Ersatzmittel", wie wir sie dem Käufer zu Gebote stehen sahen. Sinken alle seine Erzeugnisse gleichmäßig und dauernd im Preise, so kann er auf dem Markte nur ein geringeres Quantum von Komfort dafür eintauschen: aber seine Existenz ist nicht bedroht. Auch hier verhält er sich also genau wie der Käufer auf einem regelmäßig beschickten Markt.

Nun liegt hier der Einwand nahe, daß des Bauern Existenz doch am Preise seiner Wage hänge, insofern er gezwungen ist, seine Hypotheken, Zinsen und Steuern durch Verkauf seiner Erzeugnisse auf dem Markt aufzubringen. Das ist zweifellos richtig. Aber ebenso zweifellos gehört die Verschuldung eines Bauernbesitzes an sich nicht zu seinen charakteristischen Kennzeichen! Und wenn ein verschuldeter Bauer bei einem Preissturz seiner Produkte zu Grunde geht, so geht er nicht durch den Preissturz zu Grunde, sondern durch seine Verschuldung. Zweitens aber ist die hohe Verschuldung vieler Bauerngüter, wie wir sie um uns sehen, eine direkte Folge des rein accessorischen Vorhandenseins von massenhaftem Großgrundeigentum. Das ist durchaus keine neue Weisheit, sondern mindestens seit Adam Smith eine gesicherte Erkenntnis der Volkswirtschaftswissenschaft. Er hat mit aller Klarheit ausgesprochen, daß bei Beschränkung des [S. 147] {SCAN} Landangebots durch gebundenen Großgrundbesitz das noch verfügbare Land einen übertriebenen monopolistischen Preis erhält [7]. Und wenn er seiner Zeit nur an die rechtlich gebundenen Fideikomisse denken konnte, so folgt genau dieselbe übertriebene Wertsteigerung und ruinöse Verschuldung von Bauernland aus der faktischen Gebundenheit unseres gesamten Großgrundbesitzes durch die "goldenen Klammern" unserer Hypothekengesetzgebung.

Als zweites Motiv in der Psychologie des kapitalistischen Verkäufers erkannten wir das notgedrungene Bestreben, sein individuelles Angebot soweit zu vermehren, bis es die Kaufkraft des gesamten Marktes befriedigen kann. Das nannten wir "zwar eine Begrenzung, aber eine gesellschaftliche und ungeheuer weite, für den einzelnen praktisch unbegrenzt". Im Gegensatz dazu sahen wir, "daß des Käufers Interesse nur insofern mit dem jeweiligen Preise einer Ware verknüpft ist, als es das Verhältnis seiner Bedürfnisse zu seiner Kaufkraft bedingt. Beides ist individuell eng begrenzt".

Und ebenso eng begrenzt ist nun das Interesse des Landwirts, auch insofern er Verkäufer ist; denn selbst die Erzeugung des größten Latifundiums der bekannten Welt ist ein Tropfen im Meer der gesamten Produktion der landwirtschaftlichen Erzeugung. Der Landwirt kann niemals daran denken, den ganzen Markt mit seinen Erzeugnissen monopolistisch zu beherrschen, so lange es sich um die großen Weltmarktsprodukte, Getreide und Fleisch, handelt. Jeder seiner "Konkurrenten" ist für die Versorgung des Marktes genau so nötig, wie er selbst; er hätte nicht den geringsten Vorteil davon, ihn durch Unterbietung aus dem Markte zu werfen, selbst wenn er es vermöchte; denn es würde sofort an irgend einer Stelle des Weltproduktionskreises ein neuer Mann in die Lücke springen müssen, um den Markt genügend zu versorgen. Er gleicht also in dieser Beziehung nicht nur dem Käufer der kapitalistischen Gesellschaft, sondern auch dem von uns deduktiv erschlossenen Verkäufer der reinen Wirtschaft in seiner psychologischen Motivation; denn wie dieser nicht auf den Gedanken kommen könnte, seine Produktion bis zur monopolistischen Beherrschung des Marktes auszudehnen, weil es in der reinen Wirtschaft dazu an der nötigen Quantität von Händen mangelt, so kann der landwirtschaftliche Verkäufer schon in der kapitalistischen Wirtschaft gar nicht daran denken, seine Produktion bis [S. 148] {SCAN} zur monopolistischen Beherrschung des Marktes zu spannen, weil ihm dazu die nötige Quantität von Land fehlt.

Dazu kommt, daß der Preis der Nahrungsmittel bekanntlich durch einen ganz anderen Mechanismus bestimmt wird als der der Industriewaren. Wird dieser auf die Dauer durch die technischen Verhältnisse des bestausgestatteten Betriebes bedingt, der die ungünstiger gelegenen unterbieten kann, geschieht also die Preisfestsetzung wesentlich durch das Angebot: so geschieht die Preisbestimmung der landwirtschaftlichen Produkte derart, daß dem letzten Landwirt in der größten Entfernung resp. auf dem schlechtesten Boden, dessen Erzeugung für die Versorgung des Marktes gerade noch erforderlich ist, d.h. daß dem "Grenzbauern" seine Produktionskosten samt den Transportkosten im Preise vergütet werden müssen. Hier geschieht die Preisfestsetzung also wesentlich durch die Nachfrage. Es ist also hier auch von Unterbietung keine Rede. Auch diese Betrachtung zeigt, wie nahe die psychologische Motivation des landwirtschaftlichen Verkäufers der des Käufers im allgemeinen kommt.

Jedenfalls ergibt sich aus diesen Betrachtungen, daß auch zwischen den Landwirten, die dieselbe Ware zu Markte bringen, nicht jener feindliche Wettkampf herrschen kann, wie zwischen den industriellen Verkäufern, sondern derselbe friedliche Wettbewerb, der zwischen den Käufern auch der kapitalistischen Wirtschaft jederzeit besteht. Und diese Rechnung wird durch die Wirklichkeit wieder auf das glänzendste bestätigt. Das staunenerregende Wachstum aller genossenschaftlichen Einrichtungen auf dem platten Lande, und zwar nicht nur derjenigen der Käufer, die auch in der Industrie gedeihen (Konsum- und Kreditgenossenschaften), sondern auch derjenigen der Verkäufer (Absatz- und Produktivgenossenschaften), die in der Industrie niemals recht Boden fassen können, ist eine Tatsache; und der Gegensatz zwischen Stadt und Land, der sich hier ausspricht, läßt sich wohl kaum anders erklären, als aus der hier aufgedeckten Verschiedenheit der psychologischen Motivation der industriellen Produzenten einerseits und der landwirtschaftlichen Produzenten andererseits.

Ebenso läßt sich nur aus diesen Erörterungen die eigentümliche und bisher nicht recht gewürdigte Tatsache ersehen, daß die landwirtschaftliche Arbeiterproduktivgenossenschaft jederzeit ein auffallendes Gedeihen gezeigt hat, während die industrielle Arbeiterproduktivgenossenschaft niemals als solche zur Blüte gelangt ist, sondern entweder zu Grunde ging oder sich nach dem von mir aufgestellten "Gesetz der Transformation" in eine simple Unternehmersozietät [S. 149] {SCAN} verwandelte, die Arbeiter exploitierte. Soweit die bisherigen Erfahrungen reichen, unterliegt die landwirtschaftliche Arbeiterproduktivgenossenschaft jenem Gesetz der Transformation nicht, und es ist aus diesem Grunde anzunehmen, daß sie berufen ist, bei der Emanzipation der Arbeiter eine bedeutende Rolle zu spielen.

Mit dieser Exkursion glauben wir bewiesen zu haben, daß es nur die äußeren Umstände sind, welche den wirtschaftenden Menschen, auch insofern er Waren herstellt und verkauft, zu der einen oder anderen Handlungsweise motiviert. Man kann Verkäufer sein und dennoch der Motivation folgen, die sonst die Handlungen des Käufers bedingt; man kann aber auch unter gewissen Umständen Käufer sein und dennoch der Motivation folgen, die sonst die Handlungen des Verkäufers bedingt. Wir erinnern hier noch einmal an unser Beispiel von dem Verhalten der Käufer von Lebensmitteln bei einer Hungersnot.

Wenn man diese verschiedenen, jedermann bekannten, Tatsachen zusammenhält, so werden die übrigen Ergebnisse unserer deduktiven Rechnung und unserer Deutung gewisser Tatsachen der älteren und neueren Wirtschaftsgeschichte erhöhten Kredit beanspruchen dürfen.

Wir wiederholen also das Resultat unserer Rechnung als These: Überall da, wo eine Gesellschaft so geordnet ist, daß "stets zwei Meister einem Arbeiter nachlaufen und sich überbieten" und der Lohn um ein Maximum oszilliert, sind auch die Verkäufer industrieller Erzeugnisse durch die Umstände so motiviert, daß ihre Handlungen auf der Linie der höchsten wirtschaftlichen Solidarität verlaufen, und zwischen ihnen statt des feindlichen Wettkampfes der friedliche Wettbewerb herrscht; und da dasselbe schon in der kapitalistischen Gesellschaft, in der "stets zwei Arbeiter einem Meister nachlaufen und sich unterbieten", und der Lohn um ein Minimum oszilliert, zwischen den Käufern aller Waren und sogar den Verkäufern landwirtschaftlicher Produkte besteht - und da wir verabredetermaßen von allen anderen als den rein wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Mitgliedern einer entwickelten Tauschgesellschaft absehen wollten: so können wir jetzt aussprechen, daß in der "reinen Gesellschaft" in allen wirtschaftlichen Dingen die vollste Harmonie aller Interessen herrschen muß.

Wenn es also möglich ist, eine Gesellschaft zu schaffen, in der jederzeit zwei Meister einem Arbeiter nachlaufen, so ist der soziale [S. 150] {SCAN} Frieden psychologisch nicht nur möglich, sondern notwendig. Eine Störung kann nie eintreten, wenigstens nicht aus wirtschaftlichen Beziehungen von Mensch zu Mensch.

III.

Es erhebt sich nun die Frage, ob eine solche Gesellschaft möglich ist; und diese Frage stellt sich in schärferer Form wieder so, ob die gegenwärtig zu konstatierende Überfüllung des Arbeitsmarktes, die den Lohn um ein Minimum oszillieren läßt, die es bewirkt, daß stets zwei Arbeiter einem Meister nachlaufen und sich unterbieten, die dem Unternehmer auch bei sinkendem Preise die materielle Möglichkeit und das psychologische Motiv gibt, seine Produktion zu vermehren: ob diese Überfüllung des Arbeitsmarktes eine notwendige, sozusagen immanente Begleiterscheinung jeder entwickelten Warentauschgesellschaft oder lediglich die Folge einer Störung ist, die zu beseitigen möglich ist? Dieser Untersuchung müssen wir uns jetzt zuwenden.

Wir haben schon oben die beiden Theorien kurz gestreift, mit welchen die gegenwärtig herrschenden Hauptrichtungen der Nationalökonomie die Tatsache erklären, daß in unserer kapitalistischen Gesellschaft stets ein überwiegendes Arbeitsangebot vorhanden ist: den Malthusianismus der herrschenden Universitätswissenschaft und die sozialistische Auffassung von der Freisetzung des Arbeiters durch die Maschine.

Es ist hier nicht der Ort, die Einwände gegen den Malthusianismus in extenso herzusetzen. Verfasser hat kürzlich im Akademischen Verlage für soziale Wissenschaft, Bern-Leipzig, eine Monographie über "Das Übervölkerungsgesetz des T. R. Malthus und der neueren Nationalökonomie. Darstellung und Kritik" erscheinen lassen, in der er den Nachweis unternommen hat, daß die eigentliche Malthussche Theorie von der modernen Nationalökonomie vollkommen preisgegeben ist, und daß die Vertreter der neueren Anschauungen nur durch grobe Mißverständnisse zweier doppeldeutiger Worte veranlaßt werden, sich für Anhänger des schottischen Reverend zu halten, nämlich der Worte "Übervölkerung" und "Tendenz". Jene bedeutet bei Malthus eine absolute, bei einigen neueren Nationalökonomen eine relative Übervölkerung; die "Tendenz" bedeutet bei Malthus eine fortwährend erfolgende, in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wirkende, unvermeidbare Lebensvernichtung durch Mangel an [S. 151] {SCAN} Subsistenzmitteln, während die neuere Nationalökonomie das Wort in der Bedeutung einer unbestimmten Zukunftsdrohung auffaßt. Entsprechend dem Gewicht, das die neueren Nationalökonomen auf die eine oder die andere "quaternio terminorum" legen, bekennen sie sich mehr zu der einen Abart des von mir so genannten "prophetischen Malthusianismus", die für die nächste Zeit eine relative Übervölkerung voraussagt, oder mehr zu der anderen, die für eine fernere Zukunft eine absolute Übervölkerung voraussagt. Alle drei Theorien, die auf ganz verschiedenen Schlüssen aufbauen, ganz verschiedene Folgerungen ziehen und ganz verschiedene praktische Maßnahmen erfordern würden, spielen fortwährend durcheinander, stützen sich gegenseitig durch Scheinbeweise, und bilden einen wahren Rattenkönig von Trugschlüssen. Die Beweise für diese Behauptung müssen wir an Ort und Stelle nachzuprüfen bitten. Hier können wir nur, gestützt auf unsere an jener Stelle gegebene Auseinandersetzung, behaupten, daß das Bevölkerungsgesetz weder für präkapitalistische Stufen, noch für die kapitalistische Wirtschaft selbst das Vorhandensein einer Überfüllung des Arbeitsmarktes mit Händen zu erklären imstande ist. Die eigentliche Malthussche Theorie zwar könnte wohl die dauernde Überfüllung des Arbeitsmarktes zur Not ableiten, ist jedoch, wie gesagt, völlig aufgegeben: aber aus den beiden neueren Theorien läßt sich die dauernde Überfüllung des Arbeitsmarktes schlechterdings nicht ableiten; denn beide sind weder Vergangenheits- noch Gegenwartserklärungen, sondern enthalten lediglich Befürchtungen für eine nähere oder fernere Zukunft, während doch die Überfüllung des Arbeitsmarktes Tatsache der Vergangenheit und Gegenwart ist.

Die Marxsche Theorie der Reservearmee hat einen wesentlich anderen Inhalt. Sie leugnet, daß die Überfüllung des Arbeitsmarktes ein Naturgesetz ist, wie der eigentliche Malthusianismus es behauptet, und erklärt sie für die Folge eines sozialen Gesetzes, in dieser Beziehung dem neueren Malthusianismus erster Abart geistesverwandt. Nach Marx hat jede Stufe der Produktion ihr eigenes Bevölkerungsgesetz, und dasjenige der kapitalistischen Wirtschaft ist die dauernde Überfüllung des Arbeitsmarktes und zwar durch den Mechanismus, daß "die Maschine den Arbeiter freisetze".

Aus dieser Auffassung ergibt sich für Marx bekanntlich jener circulus vitiosus, der das Verdammungsurteil über die kapitalistische Gesellschaft erzwingt: die Maschine setzt den Arbeiter frei; - der freigesetzte Arbeiter fliegt in die Reservearmee; - die Reservearmee [S. 152] {SCAN} drückt auf den Lohn der noch beschäftigten Arbeiter: folglich schafft die Maschine, das heißt das Kapital, das Arbeiterelend selbst; und je mehr die Maschinerie die Handarbeit verdrängt, um so größer muß die Reservearmee werden, um so tiefer muß die Lebenshaltung der Arbeiterschaft sinken. Hier kann nur die vollständige Befreiung der Produktionsmittel aus der privatkapitalistischen Aneignung Heilung bringen: das heißt Rettung ist nur möglich in der kollektivistischen Wirtschaft.

Diese Schlußreihe klingt außerordentlich plausibel und entspricht auch dem äußeren Augenschein. Gerade die auffälligsten Erscheinungen der kapitalistischen Ära, namentlich die furchtbare Not der Handweber, sind geeignet, die Auffassung zu bestätigen, daß die Maschine die Arbeiter freisetze. Und in der Tat scheint diese Freisetzung in einigen wenigen Zweigen der Produktion, vor allem in der Textilindustrie, auch vorgekommen zu sein.

Aber es ist ein großer Irrtum, ein irreleitender Analogieschluß, solche Einzelerscheinungen zu verallgemeinern. Im Gegenteil ist die Tatsache zweifellos, und wird durch jede statistische Vergleichung irgendwelcher zeitlich auseinanderliegenden Perioden in irgend einem großindustriell entwickelten Volke zur Evidenz erhärtet, daß im großen und ganzen der Industrie die Freisetzung der Arbeiter durch die Maschine eine reine Fabel ist. Überall ist die Zahl der industriellen Arbeiter unvergleichlich stärker gewachsen, als die Kopfzahl des Volkes, dem sie angehören. Das heißt mit anderen Worten, daß die Industrie nicht nur nicht, absolut berechnet, Arbeiter freigesetzt hat: denn dann hätte die absolute Zahl der Arbeiter sinken müssen; daß sie nicht nur nicht, relativ berechnet, Arbeiter freigesetzt hat: denn dann hätte die Kopfzahl der industriellen Arbeiter in einem schwächeren Maße zunehmen müssen, als die Kopfzahl des Volkes, dem sie angehören. Sondern es geht auch daraus hervor, daß die Industrie ihre sämtlichen alten Arbeitsstellen offen gehalten, dem Gesamtnachwuchs der Industriearbeiterschaft neue Arbeitsstellen eröffnet und darüber hinaus eine ungeheure Zahl von weiteren Arbeitsstellen anderen Bevölkerungsklassen eröffnet hat. Wenn z.B. zwischen den beiden Berufszählungen Deutschlands 1882 und 1895 die Kopfzahl der Bevölkerung nur um 14,48 % [8], diejenige der Industriearbeiterschaft aber um 45,4 % [9] [S. 153] {SCAN} zugenommen hat, so ist es lächerlich, die Behauptung aufrecht erhalten zu wollen, daß "die Industrie Arbeiter freisetze".

Wenn das in einzelnen Zweigen geschieht, dann ist es möglich, daß in diesen Branchen die Lebenshaltung der Arbeiterschaft empfindlich sinkt, wenn technische oder psychologische Gründe sie hindern, einen anderen lohnenden Beruf zu ergreifen. Es ist aber unter keinen Umständen verständlich, wie in solchen Zweigen, deren Arbeiterzahl sich fortdauernd stärker als die Bevölkerungszahl vermehrt hat, der Standard of life nicht hätte äußerst stark steigen sollen, wenn nicht ein neuer, von Marx übersehener oder wenigstens nicht gehörig gewürdigter Faktor hinzugekommen wäre.

Denn wohlgemerkt: Marx schob den Druck auf Lohn und Lebenshaltung der Arbeiterschaft lediglich darauf, daß ein durch das freisetzende Kapital selbst verursachtes Überangebot von Händen jederzeit auf dem Arbeitsmarkte vorhanden sei. Nun ist jenes Überangebot tatsächlich vorhanden, aber es kann nicht nach dem Marxschen Schema erklärt werden, weil die Annahme, daß die Maschine Arbeiter freisetze, sich als irrig erwiesen hat; folglich muß diese Überfüllung des Arbeitsmarktes, diese immer andauernde Schöpfung einer latenten oder manifesten Reservearmee durch einen anderen Faktor bewirkt worden sein.

Julius Wolf hat in seinem Werk "Socialismus und kapitalistische Wirtschaftsordnung", Stuttgart 1892, S.257ff., meines Wissens zum erstenmal, nachgewiesen, auf einer wie ungeheuerlichen statistischen Grundlage die Marxsche Behauptung beruht, daß die Maschine die Arbeiter freisetze. Er zeigt, daß Marx von den Hunderten von Ziffern der englischen Gewerbezählungen von 1851 und 1861 nur etwa ein Dutzend Zweige herausgesucht hat, in deren Mehrzahl sich tatsächlich eine Verminderung der Arbeiterzahl ergeben hatte, und alle entgegengesetzten Daten bis auf ein oder zwei verschweigt. Trotzdem ergibt eine Addition selbst dieser ausgesuchten Daten nicht eine Verminderung, sondern eine Vermehrung der durch sie gezählten Arbeiter. Wolf stand hier unmittelbar an der Schwelle der letzten entscheidenden Erkenntnis und hätte sie sicher überschritten, wenn sein kritisches Auge nicht durch das malthusianische Dogma geblendet gewesen wäre, das sich ihm hier als Erklärungsgrund unterschiebt.

Nach dem Gesagten können wir die beiden vorhandenen Erklärungen für die dauernde Überfüllung des Arbeitsmarktes nur als verfehlt betrachten, und es stellt sich uns die ernste Aufgabe, unsererseits [S. 154] {SCAN} eine Erklärung für die, wie wir sahen, die ganze Wirtschaft und die ganze wirtschaftliche Psychologie verzerrende Erscheinung zu geben, daß jederzeit "zwei Arbeiter einem Meister nachlaufen und sich unterbieten".

Einen Fingerzeig in der Richtung, in der unsere Forschung zu suchen haben wird, wird uns naturgemäß die Herkunft jener Arbeitermassen geben, die nicht nur alle von der Großindustrie über die Generationskraft der Industriebevölkerung hinaus geschaffenen neuen Stellen besetzen, sondern auch noch jederzeit ein überschüssiges Angebot von Händen dem Kapital zur Verfügung halten. Ein derartiges massenhaftes Reservoir von Arbeitskräften kann in jedem Lande, das ist a priori klar, nur eine einzige Klasse liefern, nämlich die Landarbeiterbevölkerung. Und in der Tat sehen wir, daß in den industriell entwickelten Ländern die Landarbeiterbevölkerung trotz relativ stärkerer Geburtenüberschüsse sich sogar vermindert, das heißt mit anderen Worten, daß die Landwirtschaft in diesen Ländern noch nicht imstande ist, die Zahl ihrer Arbeitsstellen auf der Höhe zu halten, geschweige denn ihrem Nachwuchs entsprechenden Platz zu schaffen.

Jene Freisetzung von Arbeitern, welche die Reservearmee überfüllt, welche es bewirkt, daß stets zwei Arbeiter einem Meister nachlaufen und sich unterbieten, welche es bewirkt, daß die Unternehmer, weil am Gesamtprofit interessiert, auch noch bei sinkendem Preise ihre Produktion auszudehnen vorteilhaft finden, und statt im friedlichen Wettbewerb im feindlichen Wettkampf ihren Konkurrenten gegenüberstehen: diese Freisetzung von Arbeitern findet also klarer Weise nicht in den Städten, sondern auf dem Lande statt.

Liegt hier ein Naturgesetz vor? Ist die Aufnahmefähigkeit des landwirtschaftlichen Grund und Bodens für neue Arbeitsstellen durch immanente unveränderliche Eigenschaften der Landwirtschaft bedingt, oder liegt es an veränderlichen Verhältnissen? Konstante oder Variable?

In jeder Wirtschaft wird eine gewisse Abwanderung von Landarbeitern in die Städte Platz greifen müssen. Denn, indem die Kultur wächst, indem die fortschreitende volkswirtschaftliche Arbeitsteilung den Landwirt von der großen Zahl seiner Nebenberufe entlastet und seine Zeit und Kraft ganz für seinen landwirtschaftlichen Hauptberuf verfügbar macht; indem sie ihm bessere Werkzeuge, vorteilhaftere Kulturmethoden etc. etc. zur Verfügung stellt, muß der Rohertrag des Ackerstückes bedeutend wachsen, so bedeutend, daß dem [S. 155] {SCAN} Landwirt, selbst nach Vorwegnahme einer reichlicheren und besseren Ernährung für sich und seine Familie, ein größerer Überschuß an Nahrungsmitteln verbleibt als vorher. Dieser Überschuß kommt in der Tauschwirtschaft als Nachfrage nach gewerblichen Waren auf den städtischen Markt, senkt den Warenpreis des Getreides und treibt den Getreidepreis der Ware, so daß die Gewerbe eine vorteilhafte Unterkunft für einen Teil des ländlichen Nachwuchses darstellen. Darum ist in jedem Wirtschaftskreise mit stark fortschreitender Kultur eine relative Vermehrung der städtischen Bevölkerung durch Abwanderung vom Lande eine ökonomische Notwendigkeit.

Aber hier handelt es sich nicht um das Quale, sondern um das Quantum der Abwanderung. Wir haben gesehen, daß die Zahl der von der Großindustrie neu geschaffenen Arbeitsstellen außerordentlich viel größer ist, als die Zahl der von der Industriebevölkerung neu ins Leben gestellten Arbeitskräfte. Eine mäßige Abwanderung vom Lande würde also immer noch nicht den Zustand der Überfüllung des städtischen Arbeitsmarktes herbeiführen können, den wir als springenden Punkt der kapitalistischen Wirtschaft erkannt haben. Nur eine außerordentlich starke Abwanderung vom Lande, die nahezu oder völlig den ganzen ländlichen Nachwuchs in die Städte wirft, kann, wie die Statistik zeigt, den ungünstigen Marktkurs der Arbeit erklären; und es fragt sich nur, ob eine derartig starke Abwanderung ebenso naturgesetzlich ist, wie irgend eine Abwanderung überhaupt.

Die Theorie sagt das Gegenteil. Sie zeigt, daß mit dem Wachstum der Städte unter ungestörten Verhältnissen eine immer dichtere Besiedelung des anliegenden platten Landes mit selbständigen Landwirten geradezu nötig ist; denn nach dem von Johann Heinrich von Thünen aufgefundenen Gesetz der landwirtschaftlichen Zonenbildung wird unter dem Einfluß, den ein steigender städtischer Marktpreis für Nahrungsmittel ausübt, die Intensität der Landwirtschaft eine immer höhere: und höhere Intensität bedeutet eine Vermehrung der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte oder, was dasselbe ist, der landwirtschaftlichen Bevölkerung auf der gleichen Grundfläche. Unter ungestörten Verhältnissen wird also immer ein Teil des ländlichen Nachwuchses auf der väterlichen Scholle Platz finden, und die Abwanderung in die Städte wird um so vieles geringer sein.

Eine Bestätigung dieser theoretischen Auffassung gibt jedes Bauernland, dessen Gesamtbevölkerung wächst. Wir sehen in Südwestdeutschland, [S. 156] {SCAN} in den Rheinlanden, in der Schweiz eine außerordentliche Verdichtung der landwirtschaftlichen Bevölkerung.

Dagegen ist jene maßlose Abwanderung, die den gesamten Nachwuchs der ländlichen Bevölkerung von der Scholle fegt, ausschließlich in jenen Bezirken zu finden, in denen das Großgrundeigentum dominiert. Und zwar herrscht hier ein statistisches Verhältnis von bewundernswertester Konstanz. Je stärker der Prozentsatz des vom Großgrundbesitz eingenommenen Landes in einem Reiche, Staate, einer Provinz, einem Kreise ist, um so viel stärker ist auch die Wanderbewegung der Bevölkerung [10]. Ich habe, natürlich nicht um ein streng mathematisches Verhältnis auszudrücken, sondern lediglich, um eine Tendenz zu veranschaulichen, die Formel aufgestellt: "Die Wanderbewegung wächst proportional dem Quadrat des Großgrundbesitzes."

Wenn wir diesen eigentümlichen Einfluß der agrarischen Eigentumsverteilung auf die Wanderbewegung verstehen wollen, so müssen wir uns die oben angeführten theoretischen Sätze ins Gedächtnis zurückrufen. Wir sahen, daß die Verdichtung der landwirtschaftlichen Bevölkerung das Schlußresultat eines verwickelten Prozesses war: zuerst ruft der Landwirt durch Angebot seiner zunehmenden Überschüsse an Nahrungsmitteln in den Städten eine wachsende Industrie ins Leben; und dann intensiviert der mit der Marktgröße steigende Nahrungsmittelpreis die Landwirtschaft und verdichtet ihre Bevölkerung.

Dieser segensreiche Prozeß kann sich dort, wo das Großgrundeigentum dominiert, nicht durchsetzen. Denn die steigenden Erträge der landwirtschaftlichen Kultur kommen hier nicht in die Hände der Masse, die eine starke Nachfrage nach sekundären Befriedigungsmitteln damit ausübt, wie das in Bauernbezirken der Fall ist: sondern der Gesamtzuwachs des Überschusses oder wenigstens ein außerordentlich großer Teil desselben kommt in die Hände weniger großer Besitzer, die damit eine Nachfrage nach hochwertigen Luxusprodukten ausüben. Solche Luxusprodukte können aber nur in größeren Städten hergestellt werden, wo die Kooperation einer größeren Masse von Gewerbetreibenden und der Zustrom seltener Rohstoffe allein möglich ist; aus dem klaren Grunde, weil Luxusproduktion nur von der Nachfrage eines weit gedehnten Marktes erhalten werden kann. Infolgedessen [S. 157] {SCAN} bleiben in Ländern mit vorherrschendem Großgrundeigentum die kleinen Städte winzig, weil die kaufkräftige Nachfrage der umwohnenden Landbevölkerung gar nicht oder nur sehr wenig wächst, und es schwellen nur die großen Hauptstädte gewaltig an. Infolgedessen steigt auch in den kleinen Industriezentren der Lebensmittelpreis nicht, und es bleibt darum außer in der nächsten Umgebung der Großstädte der Antrieb zur Intensivierung der Landwirtschaft und damit die Möglichkeit zur Verdichtung der Bevölkerung aus; da die großen Städte fast regelmäßig in der Lage sind, ihren Bedarf an Nahrungsmitteln aus irgend welchen überseeischen Landschaften zu befriedigen.

Aus diesen Gründen, zu denen noch andere sekundäre Ursachen kommen, denen wir an dieser Stelle nicht nachgehen können, ist das platte Land überall da, wo das Großgrundeigentum dominiert, unfähig, seinem Nachwuchs vermehrte Arbeitsgelegenheit zu schaffen, so daß er sich gezwungen sieht, in die Industriebezirke massenhaft abzuwandern.

(Diese Tatsache läßt sich auch durch eine einfache logische Deduktion aus dem von uns hier als allein maßgebend angenommenen Motiv des wirtschaftlichen Eigennutzes, oder wie ich es genannt habe, aus dem "Gesetz der Strömung", ableiten. Vergleiche dazu meine Theorie des einseitig wachsenden Druckes, "Großgrundeigentum und soziale Frage", S. 103 ff.)

Wir kommen daher zu dem Schluß, daß die Überfüllung des Arbeitsmarktes mit ihrer Verzerrung der gesamten Wirtschaft nur zu erklären ist aus der übermäßigen Abwanderung der Landbevölkerung; und daß diese nur da erscheint, wo ein massenhaftes Großgrundeigentum in dem betreffenden Wirtschaftskreis besteht. Um einem häufigen Scheinargument sofort den Boden zu entziehen, sei an dieser Stelle ausdrücklich bemerkt, daß der Wirtschaftskreis, dem augenblicklich unsere Beobachtungen im wesentlichen gelten, ganz Westeuropa inkl. Polen und alle zivilisierten Teile der übrigen Kontinente umfaßt. Wenn also z.B. in der Schweiz ober Frankreich nur ein geringeres Großgrundeigentum herrscht und trotzdem daselbst die soziale Disharmonie und die Überfüllung des Arbeitsmarktes besteht, so ist das durchaus kein Argument gegen unsere Auffassung.

Ich behaupte also in einfacher logischer Conversio, daß in jedem wirtschaftlichen Kreise, in dem ein nennenswertes Großgrundeigentum nicht besteht, das heißt, in dem der wachsende Ertrag des Grund und Bodens fast ausschließlich seinen Bebauern, und nicht [S. 158] {SCAN} als unearned increment, als "Zuwachsrente", einem juristischen Titulareigentümer zufällt: daß überall da das Angebot von Händen auf dem Markt geringer sein muß, als die Nachfrage; daß infolgedessen der Lohn nicht um ein Minimum, sondern um ein Maximum oszilliert; daß infolgedessen die Unternehmer bei sinkenden Preisen nur das Interesse haben können, ihr Angebot zu vermindern, statt es zu vermehren; daß infolgedessen zwischen den Verkäufern dieselbe Solidarität der Interessen herrschen muß, wie zwischen den Käufern schon in der kapitalistischen Gesellschaft; daß hier statt des feindlichen Wettkampfes der friedliche Wettbewerb herrschen muß; und daß schließlich die gesamte Wirtschaft beherrscht sein muß von dem "genossenschaftlichen Geist", der sich in der Beherrschung aller wesentlichen Zweige der Wirtschaft durch Genossenschaften äußert.

Ich habe für diese Auffassung eine ganze Anzahl von Belegen aus der neueren Wirtschaftsgeschichte beibringen können: eine Gutswirtschaft: Rahaline in Irland [11]; mehrere Städtekreise: Riverside [12] und Vineland [13] in den Vereinigten Staaten; und einen ganzen Staat der Union: Utha [14].

Ich habe mich auch bemüht nachzuweisen, daß die gesamte deutsche Volkswirtschaft von ca. 1000 - 1370 nach Christi Geburt eine solche "andersartige Wirtschaft" gewesen ist, in der stets zwei Meister einem Arbeiter nachlaufen und sich überbieten, und daß hier die materielle Ordnung und das psychologische Verhalten der wirtschaftenden Menschen zueinander vollkommen und bis ins letzte Detail der Deduktion der reinen Wirtschaft entsprochen hat. Ich glaube, daß keine bisherige Erklärung die Entstehung, den Charakter und den Verfall dieser für unsere Begriffe höchst sonderbaren, herrlichen Zeit so ausreichend zum Verständnis hat bringen können, wie die von mir gegebene. Ich muß für die Beweise im einzelnen auf mein "Großgrundeigentum und soziale Frage" verweisen. Nur den stärksten meiner Beweise möchte ich als Illustration hierhersetzen:

"Als ich das moderne Genossenschaftswesen untersuchte, hatte ich keinerlei Kenntnisse von den Wirtschaftsverhältnissen des Mittelalters. Ganz allein auf die Fachliteratur von Owen und Buchez an bis B. Webb-Potter fußend, hatte ich bereits den grundlegenden [S. 159] {SCAN} Unterschied zwischen den in ihren Interessen solidarischen Käufergenossenschaften und den in ihren Interessen disharmonischen Verkäufergenossenschaften entdeckt; und hatte gefunden, daß der ‘genossenschaftliche Geist’ sich ebenso regelmäßig in der ersten Organisation vorfindet, wie er in der zweiten regelmäßig mangelt.

Erst als diese Ergebnisse gewonnen und im ersten Entwurfe festgelegt waren, kam mir Gierkes ‘Genossenschaftsrecht’ in die Hand, aus dem ich die erste Kenntnis von der mir bisher völlig unbekannten Wirtschaftsentwicklung der deutschen Vorzeit erhielt. Vor allem mußte mich der bekannte Gegensatz in dem Charakter der Zunft interessieren, von deren Wesen ich bis dahin nur die ungenügenden Vorstellungen des gymnasialen Geschichtsunterrichts besaß, der Gegensatz zwischen der freien flüssigen Einung der ersten - und der starren, privilegienwütigen Korporation der zweiten Periode.

Die Ähnlichkeit mit den modernen Genossenschaftsformen war schlagend. Wer den Gegensatz einmal in der Hand hatte, erkannte sofort in der freien Genossenschaft der ersten Zunftperiode die vom ‘genossenschaftlichen Geiste’ beherrschte Käufergenossenschaft mit ihrem typischen Bestreben nach Angliederung möglichst aller Interessenten; - und erkannte ebenso in der erstarrten Korporation der zweiten Zunftperiode die dem ‘Gesetz der Transformation’ verfallene Verkäufergenossenschaft mit ihrem Verlust der echt genossenschaftlichen Organe und ihrem typischen Bestreben, sich gegen neue Mitglieder abzusperren.

Wie war dieser Umschlag aus der Käufergenossenschaft in die Verkäufergenossenschaft erklärlich?

Ich hatte mich bemüht, zu zeigen, daß da, wo das Monopol des Privateigentums an Grund und Boden (und ihr ökonomisches Ergebnis, die Zuwachsrente) durch irgend welche Maßnahmen auch nur zeitweilig beseitigt ist, für diese Zeit jede menschliche Gemeinschaft eine Käufergenossenschaft darstellt.

So bot mir die mittelalterliche Zunft die unschätzbare Möglichkeit, die Probe auf mein Exempel zu machen. Wenn meine Deduktion richtig war, mußte ich finden, daß bis Ende des 14. Jahrhunderts kein ‘Großgrundeigentum’ in dem Sinne existierte, daß es ‘Zuwachsrente’ bezog; daß von diesem Zeitpunkt an aber ‘Zuwachsrente’ an Großgrundeigentum fiel.

Hätte die Untersuchung der geschichtlichen Wirklichkeit ein anderes Bild ergeben, so wäre daraus hervorgegangen, daß meine Deduktion fehlerhaft gewesen war. Mindestens hätte sich dann ergeben, [S. 160] {SCAN} daß das ‘Großgrundeigentum’ nicht, wie ich annahm, der einzige Störenfried der Wirtschaft sei; die Untersuchung hätte in anderer Richtung fortgesetzt werden müssen.

Aber die Probe bestätigte das Exempel. Tatsächlich ist, wie oben ausführlich gezeigt, bis zum Schlusse des 14. Jahrhunderts in Deutschland keine ‘Zuwachsrente’ erhoben worden; tatsächlich entsteht um diese Zeit in Deutschland das moderne ‘Großgrundeigentum’.

Von diesen Tatsachen hatte ich damals keine Ahnung. - Man pflegt zu sagen, daß eine Wissenschaft erst dann so recht diesen stolzen Namen verdiene, wenn sie in der Lage ist, aus ihren Gesetzen unbekannte Tatsachen abzuleiten, welche dann die Induktion bestätigt. Die Astronomie rechnet zu ihren größten Triumphen, daß Leverrier seinen neuen Planeten zuerst berechnet hat, ehe das Teleskop den lichtschwachen Weltkörper an der durch die Berechnung genau angegebenen Stelle des Himmels nachweisen konnte. - Es gilt für einen der schlagendsten Beweise der Evolutionstheorie, daß sie als Gast einer madagassischen Blüte mit fußlangem Kelch einen Schmetterling mit fußlangem Saugrüssel ‘postulierte’ und dann wirklich fand; und die theoretische Chemie betrachtet es als einen ihrer stolzesten Siege, daß sie einige in den Mendelejeffschen Elementreihen klaffende Lücken zuerst theoretisch, durch Bestimmung der noch unbekannten Elemente Gallium, Scandium und Germanium, und dann erst praktisch durch ihre Entdeckung füllte. Si parva licet componere magnis, so glaube auch ich in der Entwicklungsgeschichte der Zunft einen nicht minder schlagenden Beweis für die Wahrheit meiner gesamten Theorie aufgefunden zu haben."

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Es wäre sehr wünschenswert, charakteristische Termini zu finden für die beiden verschiedenen Motivationen, kurze, scharf bezeichnende Ausdrücke, die den Unterschied und Gegensatz der psychologischen Motivation in den beiden von uns auseinandergelegten wirtschaftlichen Situation enthielten. Mir selbst ist es noch nicht gelungen, eine derartige Terminologie zu finden.

Es sei mir zu dieser Frage gestattet, folgenden Passus aus meinem "Großgrundeigentum und soziale Frage" zu zitieren:

"Der Entwicklungsgang meiner ‘Siedlungsgenossenschaft’ brachte es mit sich, daß ich die Ausdrücke ‘Käufer’ und ‘Verkäufer’ einführte und beibehielt. Sie sind nicht sehr glücklich gewählt, [S. 161] {SCAN} denn sie geben wohl den Wesensgegensatz wieder, welcher zwischen ‘Käufer’ und ‘Verkäufer’ in der ‘entarteten Gesellschaft’ besteht, aber sie enthalten nichts von dem gleichen Wesensgegensatz, welcher zwischen dem ‘Verkäufer’ der reinen und dem der pathologischen Ökonomie vorhanden ist. Aus diesem Grunde sind sie auch vielfach mißverstanden - und, soviel ich sehen kann, - nirgends ganz verstanden worden. Zwar war meine Definition der beiden Begriffe so scharf gefaßt, wie es mir nur möglich war; zwar habe ich in der späteren Entwicklung ausgeführt, daß der Bauer ‘Käufer’ [15], die landwirtschaftliche Produktivgenossenschaft [16] und die Siedlungsgenossenschaft [17] ‘Käufergenossenschaften’ seien, daß sogar die industriellen Produktivgenossenschaften innerhalb der Siedlung ebenfalls Genossenschaften von ‘Käufern’ seien [18]; daß es in ‘Vineland’ [19] und im ganzen Mittelalter [20] nur ‘Käufer’ gegeben habe, obgleich alle diese Wirtschaftssubjekte Waren zum Verkauf auf den Markt brachten. Denn sie alle waren nicht mit ihrer Existenz, sondern nur mit ihrem Komfort an die Preisbildung jeder einzelnen Ware geknüpft, sie alle erstrebten nicht Gesamtprofit, sondern die Profitrate an ihrer eigenen Arbeitsleistung. Meine Kritiker haben dennoch vielfach, soweit sie sich zu dieser Sache äußerten, ihren eigenen, durch Gewohnheit geheiligten Begriff von ‘Verkäufer’ meinem scharf begrenzten untergeschoben; und einer der Herren hat ihn sogar dem ‘Unternehmer’ gleichgesetzt, obgleich natürlich auch jede meiner ‘Käufergenossenschaften’, z.B. ein Konsumverein, Unternehmerin ist.

Um solche Mißverständnisse auszuschließen, muß ich die Terminologie ändern. Ich habe dafür in der ‘Siedlungsgenossenschaft’ [21] selbst die Ausdrücke ‘Selbstwirt’ und ‘Marktwirt’ gewählt; sie sind womöglich noch unglücklicher. Dagegen habe ich an anderer Stelle [22] die Termini ‘Käufer-Verkäufer’ und ‘kapitalistische Verkäufer’ gebraucht. Die Worte sagen ungefähr, was sie sagen sollen: das erste [S. 162] {SCAN} enthält die Identität der Interessen in der reinen Wirtschaft, das andere zeigt wenigstens an, daß nicht der ‘Verkäufer’ schlechthin gemeint ist, sondern eine spezifische Abart der kapitalistischen Ära.

Diese Ausdrücke haben immer noch den großen Nachteil, daß sie nicht schon an sich und ohne weitere Erklärung verständlich sind, und den größeren Nachteil, daß sie keine Andeutung von dem weltweiten Gegensatz geben, den sie darstellen sollen. Vielleicht ist ein Anderer glücklicher als ich und findet bessere Bezeichnungen für die neuen Begriffe. Bis dahin wird man mit den von mir gewählten Worten vorlieb nehmen müssen."

Um noch einmal das Gesagte im wesentlichen zusammenzufassen: so verstehe ich unter einer kapitalistischen Gesellschaft eine entwickelte Warentauschwirtschaft, in der wegen regelmäßiger Überfüllung des Marktes stets zwei Arbeiter einem Meister nachlaufen und sich unterbieten, so daß der Lohn um ein Minimum oszilliert, und die Arbeit lediglich als "Substitutionswert" im Kostenansatz erscheint. Eine solche Gesellschaft ist, soweit ich sehen kann, persönliche Freiheit und Freizügigkeit aller Staatsangehörigen vorausgesetzt, nur da möglich, wo ein starkes Großgrundeigentum in dem betreffenden Wirtschaftskreise vorhanden ist.

Unter reiner Wirtschaft verstehe ich eine entwickelte Warentauschgesellschaft, in der wegen regelmäßiger Unterversorgung des Marktes stets zwei Meister einem Arbeiter nachlaufen und sich überbieten, so daß der Lohn um ein Maximum oszilliert und keinen Substitutionswert hat, sondern wie Unternehmerprofit und Grundrente als Gewinn (der Arbeit) erscheint. Eine solche Wirtschaft besteht, meiner Behauptung nach, überall da, wo kein Großgrundeigentum von nennenswerter Bedeutung in dem betreffenden Wirtschaftskreise vorhanden ist, überall, wo keine "Zuwachsrente" erhoben wird.

In der Gesellschaft der zweiten Art besteht eine volle Solidarität der Interessen zwischen allen wirtschaftenden Menschen in allen wirtschaftlichen Beziehungen. Es treibt sie ihr Interesse als Käufer von Waren, genau so zu handeln, wie jeder andere Käufer und die Gesamtheit derselben es wünschen muß: nämlich bei steigenden Preisen ihre individuelle Nachfrage einzuschränken; - und es treibt sie ebenso als Verkäufer von Waren ihr Interesse zu genau derselben Handlungsweise, die jeder andere Verkäufer und die Gesamtheit wünschen muß: nämlich bei sinkenden Preisen ihr individuelles Angebot einzuschränken.

[S. 163] {SCAN} In der kapitalistischen Gesellschaft dagegen besteht diese Solidarität nur zwischen den letzten Konsumenten derselben Ware und zwischen den landwirtschaftlichen Produzenten, nicht aber zwischen den industriellen Produzenten. Die letzteren haben das stärkste Interesse daran, bei sinkenden Preisen ihr Angebot zu vermehren.

A. Es sind also "Käufer-Verkäufer"
  1. in der kapitalistischen Gesellschaft:
    a) sämtliche letzten Konsumenten,
    b) die Landwirte;
  2. in der reinen Gesellschaft:
    sämtliche wirtschaftenden Subjekte.

B. Es sind also "kapitalistische Verkäufer" nur die Produzenten (d.h. Erzeuger und Händler) von industriellen Erzeugnissen im weitesten Sinne in der kapitalistischen Gesellschaft.

Weil zwischen "Käufern-Verkäufern" die volle Solidarität aller Interessen herrscht, sind ihre wirtschaftlichen Vereinigungen regelmäßig von "genossenschaftlichem Geist" beherrscht und unterliegen nicht dem Gesetz der Transformation.

Solche wirtschaftlichen Vereinigungen von "Käufer-Verkäufern" sind:

1. in der kapitalistischen Wirtschaft:
  a) die Genossenschaften von Käufern (Konsumvereine, Kreditgenossenschaften, Baugenossenschaften in ihrer gewöhnlichen Form),
  b) Genossenschaften selbständiger landwirtschaftlicher Unternehmer und die landwirtschaftliche Arbeiterproduktivgenossenschaft;
2. in der reinen Gesellschaft:
  alle wirtschaftlichen Einungen (Markt und Zunft in ihrer Blütezeit).

Weil zwischen den kapitalistischen Verkäufern die denkbar größte Disharmonie der Interessen herrscht, findet sich in ihnen niemals der "genossenschaftliche Geist". Sie unterliegen regelmäßig dem Gesetz der Transformation, d.h. der Sperrung gegen neuen Zuzug und der parasitären Degeneration. Solche Vereinigungen sind

1. von eigentlichen Genossenschaften:
  sämtliche Genossenschaften von industriellen Verkäufern (Magazin- und Produktivgenossenschaften); ferner Konsumverein und Kreditgenossenschaft, wenn sie nicht zum Vorteil der letzten [S. 164]  {SCAN}  Konsumenten, sondern zum Vorteil eines inneren Ringes von Wiederverkäufern organisiert sind; Rohstoff- und Werkgenossenschaften nehmen eine Mittelstellung ein, weil sie Genossenschaften solcher wirtschaftenden Subjekte sind, die Waren durch Kauf aus dem Markte nehmen, um sie zu anderen Waren zu verarbeiten, die sie dann wieder zum Verkauf auf den Markt bringen. Hier siegt je nach der Organisation und der Leitung bald das Interesse der Käufer und bald das der Verkäufer. Jedenfalls scheint die Verkümmerung dieser Organisationen, die trotz aller Hilfsarbeit nicht in die Höhe kommen wollen, zum großen Teil auf dieser Zwitterstellung zu beruhen;
2. von historischen Organisationen:
  die Zunft vom 15. Jahrhundert ab, und eine große Anzahl ursprünglich auf der Grundlage der Brüderlichkeit, des Gemeineigentums etc. begründeter Gemeinden, wie z.B. viele christliche Gemeinden der ersten Jahrhunderte und der Reformationszeit (Mährische Brüder).

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Wir möchten diese Darstellung aus dem theoretischen Teile der theoretischen Nationalökonomie nicht verlassen, ohne wenigstens mit einigen Worten auf die Bedeutung hinzuweisen, die diese Theorie, wenn sie der Kritik gegenüber Stand halten sollte, auch für den zweiten Hauptteil der Soziologie gewinnen müßte.

Nationalökonomie und Geschichtswissenschaft sind heute so wenig mehr zu trennen, wie Chemie und Physik. Die beiden Wissenschaften sind zu einer höheren Einheit verschmolzen, die eine ist ohne die andere unlernbar und unlehrbar [23]. Beide zusammen bilden nach unserer Auffassung den Kern der werdenden Wissenschaft der Soziologie. Diese studiert Wesen und Entwicklung des großen Kollektivorganismus der gesellschaftlich verbundenen Menschen; und zwar studiert die Nationalökonomie ihr Objekt vorwiegend an Querschnitten, die Geschichtswissenschaft vorwiegend an Längsschnitten. Erst die Vereinigung beider zu einer Anschauung kann über die Entwicklungsgeschichte, Anatomie und Physiologie dieses gewaltigen Lebewesens vollen Aufschluß erbringen.

Diese Verschmelzung der beiden Wissenschaften zu einer Einheit, [S. 165] {SCAN} oder besser diese Überhöhung der beiden Wissenschaften durch eine übergeordnete Zentralwissenschaft vorbereitet und schließlich vollendet zu haben, ist das Verdienst der beiden prominentesten ökonomischen Grundanschauungen des verflossenen Jahrhunderts, der Marxschen "materialistischen Geschichtsauffassung" auf der einen, - und der historischen Nationalökonomie auf der anderen Seite. Beide haben den gleichen Anteil an diesem Ehrenkranze: ein neues Beispiel für die alte Erfahrung, daß nur aus dem Kampfe der Meinungen die Wahrheit herausspringt.

Den gemeinschaftlichen Bemühungen dieser beiden Gelehrtenschulen verdanken wir heute die nirgends mehr bestrittene Erkenntnis, daß für die geschichtliche Bewegung der Völker ihre nationalökonomische Lage der wichtigste Bestimmungsgrund ist. Ob andere Bestimmungsgründe als selbständige Faktoren dazutreten, ob namentlich das Gefühl der religiösen Bindung, ob wissenschaftliche oder künstlerische Überzeugungen, ob mächtige historische Persönlichkeiten primäre Faktoren der geschichtlichen Bewegung sind, oder nur "verursachte Ursachen", deren Kraft und Richtung in letzter Instanz doch wieder von der wirtschaftlichen Grundlage abhängt: das haben wir hier nicht zu untersuchen. Für uns genügt an dieser Stelle die Tatsache, daß heute wirklich unbestritten die Ökonomie als der mächtigste Bestimmungsfaktor des historischen Geschehens allgemein angenommen wird.

Und da muß es in die Augen springen, von wie gewaltiger Bedeutung für das Verständnis des historischen Mechanismus eine Theorie werden müßte, die das gegenseitige Verhalten der gesellschaftlich verbundenen Menschen in dem anerkanntermaßen wichtigsten Teil ihres gesamten Kollektivhandelns aus der Tiefe der Individualpsychologie heraus zu erklären vermag.

Von hier aus muß dann auch auf die politische Geschichte ein ganz neues Licht geworfen werden können. Denn, mögen noch so viel andere Bestimmungsgründe für die politisch geschichtliche Bewegung des Einzelnen und der Masse vorhanden sein, so treten doch anerkanntermaßen wirtschaftliche Motive mit besonders großer Kraft in das Parallelogramm der Triebkräfte ein; und dann ist es klar, daß die in der Diagonale der Kräfte verlaufende geschichtliche Handlung eine andere Richtung haben muß, wenn die gesellschaftlich verbundenen Massen im feindlichen Wettkampf gegeneinanderstehen, als wenn sie im friedlichen Wettbewerb zueinander stehen.

Nach unserer Auffassung stand z.B. die west-europäische Menschheit [S. 166] {SCAN} in jenen vier Jahrhunderten von ca. 1000 bis ca. 1400 zueinander im Zustande des friedlichen Wettbewerbes. Sollte das nicht ein Licht werfen auf mancherlei für unsere Begriffe seltsame historische Erscheinungen jener Zeit? Wir sehen, um mit dem Kleineren zu beginnen, die Städte und ihre stadtwirtschaftlichen Landbezirke in einer außerordentlich engen Freundschaftsbeziehung, die sich in der Institution des "Aus- und Pfahlbürgertums" besonders charakteristisch ausspricht. Wir sehen ferner auf einem etwas größeren, scheinbar schon rein der politischen Geschichte angehörenden, Gebiete, eine übermächtige Tendenz zur Verschweißung aller jener Stadtwirtschaften zu politischen Bündnissen. Wir halten es für unzweifelhaft, daß diese Tendenz sich nur deshalb in ihrer imponierenden Breite durchsetzen konnte, weil zwischen jenen Stadtwirtschaften damals noch keine Konkurrenz im Sinne des feindlichen Wettkampfes, sondern nur eine solche im Sinne des friedlichen Wettbewerbes bestand. Wir erblicken in dieser Tendenz zu genossenschaftlichem Zusammenschlusse auf immer höherer Staffel nur die Folge desselben psychologischen Grundgesetzes, das wir oben in ausführlicher Darstellung auf die Entstehung der Zünfte angewendet haben.

Charakteristisch dafür ist, daß derselbe Zeitpunkt, der die Zunft aus einer offenen Genossenschaft von "Käufer-Verkäufern" nach dem Gesetz der Transformation in eine gesperrte und parasitär degenerierte Sozietät von "kapitalistischen Verkäufern" umwandelte - daß dieser Zeitpunkt auch den genossenschaftlichen Geist innerhalb der Stadtwirtschaft und im weiteren Kreise der verbündeten Städte vernichtete. Die freund-nachbarliche Gleichstellung zwischen Bauer und Bürger zerfiel, der Bauer sank unmeßbar tief unter das soziale Niveau des Städters, das Aus- und Pfahlbürgertum verschwand. Und gleichzeitig zerbrachen die Städtebündnisse, mit Ausnahme der Hansa, die aber von diesem Augenblicke an einen wesentlich anderen Charakter annahm, einem ungeheuren Handelstrust verbündeter Kaufmanns-Aristokratien immer mehr und mehr ähnlich wurde.

Wir meinen, daß sich auf diese Weise ein vermehrtes Verständnis für die ganz großen Tatsachenmassen, die ganz großen Grundwellen der geschichtlichen Bewegung jener Zeit gewinnen läßt; und wir meinen, daß damit auch für gewisse Erscheinungen der Gegenwart und für gewisse Probleme der Zukunft ein Schlüssel gefunden ist, der wenigstens die äußere Pforte öffnet. Man versteht die politische Geschichte der Gegenwart nicht, wenn man die Kräfte nicht kennt, die die modernen Völker zum feindlichen Wettkampf gegeneinander [S. 167] {SCAN} hetzen. Man wird ohne dies z.B. niemals für Erscheinungen, wie die Annektion Cubas durch die Vereinigten Staaten oder die Bekämpfung Transvaals durch Großbritannien den richtigen Gesichtspunkt finden können; und ebensowenig ist die innere Geschichte ohne das Verständnis begreiflich, wie der ökonomische Gegensatz der einzelnen Klassen, Industrien etc. die verschiedenen Teile ein und desselben Volkes mit verschiedenen wirtschaftlichen Interessen erfüllt und deshalb verschiedene politische Handlungen motiviert: die Disharmonie der "kapitalistischen Verkäufer".

Aber wichtiger fast noch als dieses Verständnis der Gegenwart ist die aus der Theorie sich ergebende Prognose der Zukunft. Wenn es wahr ist, wie wir oben theoretisch abzuleiten und an zahlreichen Beispielen aus Vergangenheit und Gegenwart nachzuweisen uns bemüht haben, daß der Zustand des feindlichen Wettkampfes innerhalb desselben Volkes und zwischen den verschiedenen Völkern nicht eine immanente psychologische Notwendigkeit, sondern die Folge einer bestimmten abänderungsfähigen Organisation der Gesellschaft ist; daß nach geeigneter Abänderung der gesellschaftlichen Organisation statt des feindlichen Wettkampfes der friedliche Wettbewerb sowohl innerhalb der Völker als auch zwischen diesen zur Herrschaft geführt werden kann: dann ist die Idee von der "intranationalen" Harmonie der Interessen; - und dem "internationalen ewigen Frieden" nicht mehr ohne weiteres als phantastischer Utopismus eines verstiegenen Illusionärs zu brandmarken. Dann kann man solche Hoffnungen wenigstens nicht mehr mit dem Schlagwort von der "ewigen antisozialen Menschennatur" ohne weiteres zurückweisen, sondern sie wird in diesem Augenblick mindestens wissenschaftliches Problem.

Es stellt sich nämlich von unserer Erkenntnis aus die entscheidende Frage jetzt in ganz anderer Form. Bisher hat man die Frage nach der Möglichkeit eines harmonischen "gerechten Gemeinwesens" folgendermaßen gestellt: "Ist der empirische Mensch in seiner Masse fähig, ein Gemeinwesen der sozialen Gerechtigkeit zu schaffen und gerecht zu erhalten?" - - Diese Frage mußte der besonnene Historiker allerdings verneinen.

Jetzt aber stellt sich die Frage ganz anders. Jetzt fragen wir folgendermaßen: "Ist eine Organisation der Gesellschaft möglich, bei der die Menschen so gegliedert sind, daß ihnen jede antisoziale Handlung Schaden und jede soziale Handlung Vorteil bringt?" (anstatt wie heute umgekehrt). [S. 168] {SCAN} - - Und diese Frage in dieser Form glauben wir aus theoretischen und historischen Erwägungen unbedingt bejahen zu dürfen.

Man sieht, der Streitfall ist mit dieser Fragestellung dem Richterstuhl der Psychologie entzogen und vor das Forum der praktischen Organisationskunst gebracht; und wir haben ganz andere Beweise anzutreten und Erkenntnisgründe anzuziehen als bisher.

Hierin glaube ich neben der praktischen Brauchbarkeit den Hauptwert meiner Theorie erblicken zu dürfen. Sie scheint mir geeignet, die seit Jahrzehnten absolute Herrschaft des soziologischen Pessimismus mindestens in Frage zu stellen; sie scheint durch den schwarzen Nebel, der für die Augen des Philosophen über unserer Zukunft lastet, doch wenigstens einige Sonnenstrahlen blinken zu lassen.

Mit meiner Widerlegung des im tiefsten Kern pessimistischen Bevölkerungsprinzips von Malthus hoffe ich die erste tragende Säule des heutigen soziologischen Pessimismus untergraben zu haben. Mit dieser Grundlegung der kollektiven Psychologie hoffe ich die zweite Grundsäule des soziologischen Pessimismus, nämlich die Überzeugung von der unveränderlich antisozialen Menschennatur, in ihren Grundlagen erschüttert zu haben; die dritte Grundsäule, die Theorie der "zyklischen historischen Katastrophen", habe ich an anderer Stelle als einen unhaltbaren Analogieschluß nachgewiesen [24]. Weiter vermag ich für diese von mir bekämpfte Auffassung keine grundsätzlichen Stützen zu erblicken.

Es wäre der schönste Erfolg meines Werkes, wertvoller als alle wissenschaftliche Erkenntnis, wertvoller vielleicht sogar als alle von mir erhofften praktischen Verbesserungen der sozialen Verhältnisse, wenn es ihm gelingen sollte, an Stelle der dürren, resignierten Verzweiflung eines Menschenwinters den frischen Frühling einer neuen, starken und begründeten Hoffnung emporzuführen. Als Baustein zu einem optimistischen System der sozialen Wissenschaft mag auch dieser Beitrag gewertet werden.

Fußnoten
[1]
Die hier folgenden Ausführungen sind zum großen Teil in den beiden Werken des Verfassers "Die Siedlungsgenossenschaft", Berlin 1896, und "Großgrundeigentum und sociale Frage", Berlin 1898, enthalten. Da es jedoch der Gang der Untersuchung mit sich brachte, daß diese neuen Betrachtungen zur Kollektivpsychologie der Wirtschaft auseinandergerissen wurden, und ihnen vor allen Dingen die volle systematische Darstellung aus demselben Grunde nicht gegeben werden konnte; da ferner diese, wie mir scheint, außerordentlich wichtige Untersuchungsreihe als Teil größerer Werke der Kritik gegenüber nicht zu ihrem vollen Rechte gekommen ist, so halte ich es für wünschenswert, an dieser Stelle das Getrennte zusammenzustellen und systematisch zu ergänzen.
[2]
"Siedlungsgenossenschaft" Seite 127/128..
[3]
Nur der Ausdruck ist originell. Der Gedanke ist natürlich alt. Er findet sich in voller Klarheit schon bei A. Smith (Wealth of nations. Übers. von Loewenthal. Berlin 1879, I, S. 73). Vgl. Fr. I. Neumann, "Zur Geschichte der Lehre von der Gravitation der Löhne etc." Conrads Jahrb. 17 (N. F.) S. 155 ff. (Jena 1899.).
[4]
Böhm-Bawerk, Kapital und Kapitalismus. II. Band: Positive Theorie des Kapitals. Innsbruck 1889. S. 186.
[5]
"Hätte dieser Zustand der Dinge (vor dem ersten Auftauchen des Grunderwerbes und der Kapitalansammlung) angehalten, so würde der Arbeitslohn um all jene Steigerung in den erzeugenden Kräften der Arbeit zugenommen haben, zu welchen die Arbeitsteilung den Anlaß gab." (A. Smith a.a.O. I, S. 68.)
[6]
Im Original "überführt".
[7]
A. Smith a.a.O. I, S.432, 433.
[8]
Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 2. Aufl., Bd.II, S.598.
[9]
Ebenda, S.609 (berechnet nach Tabelle 2).
[10]
Vgl. dazu von der Goltz, Die ländliche Arbeiterklasse und der preußische Staat S. 141 ff. und meine "Siedlungsgenossenschaft" S. 220 ff.
[11]
Siedlungsgenossenschaft S. 405.
[12]
Berliner "Zukunft" VIII (1900) Nr. 31.
[13]
Siedlungsgenossenschaft S. 477.
[14]
Zeitschr. f. Soc. Wissenschaft, II, S. 190: "Die Utopie als Tatsache".
[15]
Siedlungsgenossenschaft S. 318.
[16]
Ebenda S. 368.
[17]
Ebenda S. 490 ff.
[18]
Ebenda S. 512 ff.
[19]
Ebenda S. 572.
[20]
Ebenda S. 198.
[21]
Fußnote auf S. 519.
[22]
Die Siedlungsgenossenschaft. Separatabzug aus "Neuland", 1897. Fontane & Co.
[23]
Vgl. dazu meinen Aufsatz: "Nationalökonomie, Soziologie, Anthropologie" in der Zeitschrift für Socialwissenschaft (1900) III, 486, 621.
[24]
Vgl. meinen Aufsatz: "Das sociale Wachstum", in Neue deutsche Rundschau 1899, S. 1123; und Zeitschrift f. Soc. Wissensch. II, S. 592 ff.