Arbeitslosigkeit

Zu dem neuen Buch von J. M. Keynes [1]

Erstveröffentlichung in: Zeitschrift für Schweizerische Statistik und Volkswirtschaft, 73. Jg., 1937, S. 428-450.


Inhalt

I. Zustimmung und Übereinstimmung   428     c) Der Marktpreis der Arbeit   443
II. Das Problem   430     d) Die eingestandenen Postulate   444
III. Das uneingestandene Postulat (Der       V. Der Kapitalismus als Sozialkrankheit    
  Kapitalismus und die Statik)   435     a) Die systemfremde Störung   446
IV. Der Arbeitslohn   438     b) Die Wirtschaftskrisen und der    
  a) Die Ausgangslage   440     Imperialismus   448
  b) Der Mittelwert der Arbeit   442          

[S. 428] I. Zustimmung und Übereinstimmung

Der Fachmann nimmt ein Buch von John Maynard Keynes mit achtungsvoller Erwartung zur Hand; er weiss, dass er es mit einem originellen Denker und furchtlosen Wahrheitssucher zu tun hat, zwei Eigenschaften, die sich nicht immer und sehr selten vereint finden. Dies Buch bestätigt die vorgefasste Meinung. Auch den unbekehrbaren Gegner sollte der Freimut erfreuen, mit dem frühere Irrtümer bekannt werden, und die Zivilcourage, mit der hier die geheiligtesten Dogmen der herrschenden Universitätsökonomie angegriffen werden. Um so mehr ist der Referent erfreut, der seit fast einem halben Jahrhundert im gleichen Kampfe steht und der auf ganz anderem Wege zu ähnlichen letzten Schlüssen gelangt ist, nämlich zu der Voraussage, dass dem Kapitalismus, den auch er als zum Tode verurteilt betrachtet, nicht die «totale» Staatswirtschaft des Kommunismus folgen wird, sondern das, was seine Schüler neuerdings als die «sozialistische Marktwirtschaft» bezeichnen. «Die autoritären Staatssysteme von heute scheinen das Problem der Arbeitslosigkeit auf Kosten der Leistungsfähigkeit und der Freiheit zu lösen. Es ist sicher, dass die Welt die Arbeitslosigkeit, die, von kurzen Zeiträumen der Belebung abgesehen - nach meiner Ansicht unvermeidlich - mit dem heutigen kapitalistischen Individualismus verbunden ist, nicht viel länger dulden wird. Durch eine richtige Analyse des Problems sollte es aber möglich sein, die Krankheit zu heilen und gleichzeitig Leistungsfähigkeit und Freiheit zu bewahren.» (S.321.)

In der Tat: was uns heute fehlt, ist die richtige Theorie. Es sind «die tiefen Meinungsverschiedenheiten zwischen Berufsgenossen der Wirtschaftslehre zur [S. 429] Entscheidung zu bringen, die zurzeit den praktischen Einfluss der wirtschaftlichen Theorie fast zerstört haben und dies weiterhin tun werden, bis sie gelöst worden sind.» (S.V) Was aber ist die Folge: «Wahnsinnige in hoher Stellung, die Stimmen in der Luft hören, zapfen ihren wilden Irrsinn aus dem, was irgendein akademischer Schreiber ein paar Jahre vorher verfasste.» (S.323.) Seit Beginn meiner wissenschaftlichen Laufbahn wiederhole ich unermüdlich den Satz, dass «nichts so praktisch ist wie die Theorie», und kein Land ihrer so dringend bedarf wie Deutschland, das sich, wie K. mit Recht sagt, «im Gegensatz zu seiner Gewohnheit in den meisten Wissenschaften, während eines ganzen Jahrhunderts damit begnügt hat, ohne eine vorherrschende und allgemein anerkannte formelle Theorie der Wirtschaft auszukommen», was K. richtig dem Einfluss der historischen Schule zuschreibt (S.VIII). Diesem Einfluss ist es wohl auch zuzuschreiben, dass K. von meinen eigenen Arbeiten nie etwas vernommen hat; sie sind mit vorläufig grossem Erfolge totgeschwiegen worden.

Die Übereinstimmung ist in vielen Einzelheiten vorhanden, schon in der Kritik vieler Vertreter der «orthodoxen» Schule mit ihrer «pseudomathematischen Methode» (S.232), mit «dem Dunst ihrer sophistischen Erörterungen, in welchen nichts klar und alles möglich ist» (S.247). «Ein grosser Teil jüngster, «mathematischer» Wirtschaftslehren ist ein blosses Gebräu, so ungenau wie die anfänglichen Voraussetzungen, auf denen sie beruhen und welche dem Autor erlauben, die Verwicklungen und gegenseitigen Abhängigkeiten der wirklichen Welt in einem Wust anmassender und nutzloser Symbole aus dem Gesicht zu verlieren.» (S.252.) So grob bin ich nur selten geworden, habe aber trotzdem das ganze Strafrégime auf mich herabgezogen, wie es jeden Ketzer traf, z. B. den wackeren Hobson, von dem K. erzählt (S.308 ff.). In der Tat: Ricardo hat eine Religion geschaffen, eine Priesterschaft als heilige Inquisition (S.28), die alle Häretik ausrottete.

Aber nicht nur im Negativen, auch im Positiven findet sich vieles, was mit meinen eigenen Grundanschauungen übereinstimmt. Ich glaube z.B., dass ich den Forderungen an ein Lehrbuch nachgekommen bin, die K. (S.247/48) erhebt: ich habe die Personalwirtschaft, «die Theorie von der individuellen Industrie oder Firma», selbständig vor der der Marktwirtschaft, der «Theorie der Produktion und der Beschäftigung als Ganzes» behandelt und in der letzteren «die Theorie des stabilen Gleichgewichts» (Statik) von «der des sich verschiebenden Gleichgewichts» (komparative Statik) streng geschieden. Auch meine Grundauffassung von der Krise steht der von K. sehr nahe, wonach ihre Erklärung primär «ein plötzlicher Zusammenbruch der Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals ist» (S.267). Und K. kann in meinem Lehrbuch unter der Überschrift «Das ökonomische Erstaunen» recht wichtige Folgerungen aus dem von ihm billigend zitierten Satze Hobsons finden, «dass im normalen Zustand moderner industrieller Gemeinwesen der Verbrauch die Erzeugung, und nicht die Erzeugung den Verbrauch begrenzt».

Ich sende das alles voraus, weil ich dem Leser und womöglich auch dem von mir sehr geschätzten Verfasser den Eindruck zu machen wünsche, dass ich im Geiste echt wissenschaftlicher Kritik vorgehen werde, die des Autors Lehre [S. 430] in ihrer stärksten Rüstung darstellt und aus ihren Fundamenten angreift, ohne jemals «die Fenster von aussen einzuschlagen». Das Ziel ist die Wahrheit und durch die Wahrheit womöglich Verständigung.

II. Das Problem

Das Problem, das K. sich zur Lösung stellt, ist das der unfreiwilligen Arbeitslosigkeit, d.h. derjenigen, die vorhanden ist, «wenn im Falle einer geringen Preissteigerung von Lohngütern im Verhältnis zum Geldlohn sowohl das gesamte Angebot von Arbeit, die bereit wäre, zum laufenden Geldlohn zu arbeiten, als auch die gesamte Nachfrage nach Beschäftigung zu diesem Lohne grösser ist als die bestehende Beschäftigungsmenge» (S.13). Es handelt sich also weder um die unvermeidliche kinetische, die sogenannte «Reibungsarbeitslosigkeit», die auf mangelhafter Organisation der Gesellschaft oder auf unrichtiger Voraussicht der Unternehmer usw. beruht, noch um die «freiwillige» Arbeitslosigkeit derjenigen Arbeiter, die sich weigern, für weniger als einen bestimmten Lohn zu arbeiten, sondern um die ungeheure Tatsache der heutigen Zeit, dass Kapital und Arbeit brach liegen, weil sie nicht zueinander kommen können, während nach den Befriedigungsmitteln, die sie gemeinsam hervorbringen könnten, der dringendste Bedarf - leider nicht die wirksame Nachfrage - besteht. Dieser Komplex ist es, «den die Welt nicht länger dulden wird».

Die von Ricardo stammende Theorie kann diese Tatsache nicht erklären, weder die ältere noch die jüngere. Jene bekannte sich bis auf John Stuart Mills letzte Periode zur Lohnfondstheorie: der Lohn ist der Quotient des Bruches, in dessen Zähler das gesellschaftliche Kapital zur Gänze (S. Smith) oder zu einem qualifizierten Teil als «zirkulierendes» Kapital (Ricardo) oder als «variables» Kapital (Marx), in dessen Nenner das gesamte Arbeitsangebot steht. Zu diesem Lohne finden also alle Arbeitswilligen Beschäftigung.

Diese Theorie hat völlig aufgegeben werden müssen. Die jüngere klassische Schule hat sie zu ersetzen versucht durch eine andere, zuerst wohl von Marshall entwickelte. Sie «stützt sich auf zwei sozusagen diskussionslos angenommene Grundpostulate, nämlich 1. der Lohn ist gleich dem Grenzerzeugnis der Arbeit, und 2. der Nutzen des Lohnes ist, wenn eine gegebene Arbeitsmenge beschäftigt wird, gleich dem Grenznachteil dieser Beschäftigungsmenge» (S.5). «Das erste liefert uns die Nachfragetabelle der Arbeit, das zweite die Angebotstabelle, und die Menge der Beschäftigung wird an dem Punkte fixiert, an welchem der Nutzen des Grenzerzeugnisses dem Nachteil der Grenzbeschäftigung die Waage hält.» (S.6.)

Auch nach dieser Theorie kann es keine unfreiwillige Arbeitslosigkeit geben. Es wird angenommen, dass sich auf dem Arbeitsmarkt Angebot und Nachfrage gerade so ins Gleichgewicht setzen wie auf dem Warenmarkt, d.h. dass sowohl die Arbeitgeber wie die Arbeiter den aus den Verhältnissen sich ergebenden Lohnsatz akzeptieren, wie dort Käufer und Verkäufer den Marktpreis. Folglich muss hier wie dort alle angebotene Ware (Arbeit) gleich der nachgefragten Ware (Arbeit) sein. Das gilt freilich nur von der «Statik»: in der «Kinetik» ist Reibungsarbeitslosigkeit [S. 431] in gewissem Umfange ebenso möglich wie Unverkäuflichkeit von Ware und natürlich auch freiwillige Arbeitslosigkeit: aber alle klassische Theorie ist, wie Schumpeter sagt, «essentiell statisch» und abstrahiert mit Recht von kinetischen «Störungen», die wohl praktisch, aber niemals theoretisch Probleme darstellen. Sie ist unzweifelhaft die «Theorie der Vollbeschäftigung» (S.13).

Nun gibt es aber tatsächlich diese ungeheure unfreiwillige Arbeitslosigkeit, die nicht nur theoretisch, sondern noch mehr praktisch das brennende Problem unserer Zeit darstellt. Und so kommt K. zu dem zwingenden Schluss: «Wir müssen das zweite Postulat der klassischen Doktrin aufgeben und das Verhältnis einer Wirtschaftsordnung ausarbeiten, in der unfreiwillige Arbeitslosigkeit im strengen Sinne des Wortes möglich ist.» Das ist das Problem!

Es kann offenbar durch eine statische Betrachtung unmittelbar nicht gelöst werden. Denn diese beruht ja gerade darauf, dass überall die Gleichgewichtszustände oder besser: ihr Inbegriff, der Gleichgewichtszustand aufgesucht wird, auf dessen Erreichung die antagonistischen Kräfte der Wirtschaft, Angebot und Nachfrage, tendieren, ohne sie resp. ihn jemals völlig erreichen zu können. Und vom Standpunkt dieser Auffassung aus müssten alle Abweichungen als kinetische «Störungen» des Gleichgewichts erscheinen, die vernachlässigt werden dürfen, weil eben sie das Getriebe in Bewegung setzen, das dem Gleichgewicht immer erneut zustrebt. Aber die unfreiwillige Arbeitslosigkeit kann als Folge solcher harmlosen «Störung» nicht verstanden werden. Folglich muss sie nicht-statisch erklärt werden. «Die Tatsache, dass die Voraussetzungen des statischen Zustandes der heutigen wirtschaftlichen Theorie zugrunde liegen, trägt in diese ein grosses Element der Unwirklichkeit hinein.»

Das ist es, was K. unternimmt, das Gesetz des Ablaufs und besonders der Arbeitslosigkeit aus der Kinetik selbst zu entwickeln. Wir müssen sagen, dass damit unserer Meinung nach etwas schlechthin Unmögliches versucht wird. Es geht nicht ganz ohne Statik, die immer herangezogen werden muss, um gewisse bestimmende Daten der Rechnung zu liefern. Um an einem nahe verwandten Beispiel zu orientieren, so will auch Böhm-Bawerk das Gesetz der Preise aus der Kinetik gewinnen. Er vergleicht die Bewegung dem «wüsten Durcheinander der Brandung an zerklüfteter Küste» und fügt hinzu: «So ist das Material beschaffen, mit dem der Preistheoretiker rechnen muss [2].» Er behauptet, der Physiker sei dennoch imstande, das scheinbare Durcheinander in jedem ihn interessierenden Falle aus dem Grundphänomen der Wellenbewegung zu errechnen. Vielleicht! Aber gewiss nicht, wenn er nicht über einige Daten aus der Statik verfügt, nämlich die Kenntnis des Normal-Null-Niveaus des Meeres an dieser Stelle und der Phasen des Mondes, die Ebbe und Flut bedingen.

Dennoch wäre die Schwierigkeit der Aufgabe ungeheuer - und wäre doch winzig gegenüber der Aufgabe, die sich K. hier stellt. Denn dort handelt es sich nur um einige wenige Faktoren der Rechnung: Winddruck, Gestalt der Felsenküste, Wellenanlauf und Rücklauf, Elastizität des Gesteins und der Wasserteilchen: [S. 432] lauter Gegenstände, mit denen die von aussen her beobachtende mathematische Mechanik irgendwie durch rein kausale Erklärung fertig werden kann. In der Ökonomik spielen aber, wie K. glücklich betont, psychologische Antriebe und Hemmungen eine überwiegende, vielleicht sogar die einzige Rolle, und der Faktoren sind viel mehr: Daten, die in erster Annäherung wohl als «gegeben» angesehen werden dürfen, aber in Wirklichkeit nicht unveränderlich sind, und eine ganze Reihe von «unabhä.ngig» und «abhängig variablen» Grössen (S.205). All das wirkt vor- und rückwärts aufeinander, ist gleichzeitig in funktionalem, nicht aber kausalem Zusammenhang [3]: Preise und Löhne, Ersparnis und Investition, Geldmenge und Zinsfuss, verfügbare Arbeitsmenge und technische Ausrüstung, der «Hang zum Verbrauch», der «zur Liquidität» und der zur Investition und so weiter und so weiter, und wirkt nach psychologischen Gesetzen, wobei das unberechenbare «Vertrauen» seine entscheidende Rolle spielt (S.125).

Die Lösung, zu der K. schliesslich kommt, oder vielleicht: die Lösung, die ihm als die einzig mögliche von vornherein erschien und die er, als sein Thema probandum, zu beweisen sucht, ist im Umriss die folgende (S. 23):

Bei wachsender Beschäftigung und zunehmendem Realeinkommen wächst der Verbrauch - so ist die Psychologie der Bevölkerung - um weniger als das Realeinkommen. Um das Gleichgewicht herzustellen, müsste infolgedessen der ganze überschüssige Einkommensbetrag auf Investition neuen Kapitals verwendet werden. Das aber geschieht nicht oder doch nur ausnahmsweise. Ein beträchtlicher Teil des Überschusses wird, statt ihn zu investieren, gespart, also sowohl dem Verbrauch wie der Investition entzogen. Das aber bedeutet ein Absinken der Beschäftigung unter den Zustand der «Vollbeschäftigung», d.h. des Gleichgewichts, also unfreiwillige Arbeitslosigkeit. «Diese Analyse gibt uns eine Erklärung für das Paradox der Armut mitten im Überfluss» und vor allem dafür, dass diese Sinnwidrigkeit die Völker um so schwerer trifft, je reicher sie sind, d.h. je höher ihre Produktion oder, was das gleiche sagt, ihr Realeinkommen ist (S.26).

Bisher nahm die Theorie allgemein an, dass alles, was nicht verbraucht wird, ohne weiteres der Investition zufliesst. K. bestreitet das und kommt derart zu einer interessanten neuen Erklärung der Krisen: durch Unterkapitalisation, womit die Reihe der möglich erscheinenden Krisentheorien erschöpft scheint. Bisher hatten wir solche aus Überproduktion und Unterproduktion, Überkonsumption und Unterkonsumption und durch Überkapitalisation, zu denen auch Aftalions Theorie der «Longue Durée» gerechnet werden kann, die ich (Theorie S.1020) als «eine Art von Friktions-Überkapitalisationstheorie» bezeichnet habe. Wir wollen nicht fragen, ob Ks. Argumente uns als genügend stark erscheinen, um jene ältere Theorie zu widerlegen. Die Annahme war, wie gesagt, dass Ersparnisse aus dem Roheinkommen und Reineinkommen gar nicht anders als durch sofortige Investition angelegt werden können, abgesehen von der Hortung baren Geldes, das aber vernachlässigt werden darf, da es im grossen Massstabe nur vorkommt, wo die Staaten die Währungen verderben lassen oder wo [S. 433] solche Massnahmen (Abwertung etc.) gefürchtet werden. Wenn ein Unternehmer aus Abschreibungen Reservefonds oder sonstige Rücklagen macht, so kann er sie entweder im eigenen Betriebe weiter arbeiten lassen oder bankmässig kurzfristig anlegen. Im ersten Falle wird nichts berührt als die Bilanz: ein Teil der Aktiva ist auf die Seite der Passiva übernommen worden, das Gewinnkonto wird geringer. Aber die real verfügbare Summe von Kapital wird dadurch nicht verändert, die Fonds «arbeiten mit». Wenn das Geld bankmässig angelegt wird, so wird es ein anderer Unternehmer borgen, um es zur Investition, oder ein Konsument, z. B. der Staat, um es zum Verbrauch zu benützen [4]. Wie könnte die Bank für kurzfristige Anlagen Zinsen zahlen, wenn sie nicht für längerfristige höhere Zinsen vereinnahmte??

K. denkt hier offenbar an die ungeheuren Mengen flüssigen Kapitals, die sich in der letzten Zeit vielfach bei den Banken angehäuft haben, und zwar in solcher Menge, dass die Banken oft gar keine Zinsen mehr bezahlten. Aber die Frage ist, ob diese merkwürdige Erscheinung nicht viel mehr als die Folge denn als die Ursache oder als eine der Ursachen der Krise und damit der Arbeitslosigkeit aufgefasst werden muss, und das ist eines der Probleme, die sich durch eine rein kinetische Betrachtung schlechthin nicht lösen lassen. Uns will scheinen, als wenn K. diese Frage nicht mit der sonst überall anzuerkennenden Gründlichkeit erörtert hätte.

Aber wir wollen diesen Punkt so wenig wie irgendeinen anderen der Beweisführung urgieren. Das verbietet der ganze Charakter des Buches. Es enthält weitverzweigte Ausführungen, wie das für eine ausgesprochen kinetische Analyse der komplizierten Gesamtwirtschaft unvermeidlich ist, die grundsätzlich auf das methodische Hilfsmittel der statischen Betrachtung verzichtet, Ausführungen, die schon aus diesem Grunde ausserordentlich schwierig sind und eine grosse Zahl von neuen Unterscheidungen mit neuen Termini mit sich führen, die in ihrer strengen Definition festzuhalten keine leichte Aufgabe ist. Da es sich ferner nicht um eine kausale, d.h. gradlinig fortschreitende, sondern funktionale, d.h. vor- und rückwärts gehende Analyse handelt, wird der Zusammenhang nur sehr schwer erfassbar. Das Buch ist, wie das Vorwort angibt, nur für die innere Diskussion von Fachmännern geschrieben. Der Stand der theoretischen Durchbildung muss in England sehr viel höher sein als bei uns, wenn es dort viele Fachmänner gibt, die das gewichtige Buch ohne grosse Anstrengung auch nur verstehen, geschweige denn die komplizierte Beweisführung kritisch behandeln können. Für Nichtfachleute scheint es mir, entgegen der Hoffnung des Verfassers, gänzlich unzugänglich zu sein. Und das wird sogar für die meisten Theoretiker der Ökonomik gelten müssen, die nicht wie K. selbst in der Marshallschule und ihrer sozusagen Geheimsprache, Priestersprache, erzogen worden sind. Um der Beweisführung mit einigem Erfolge kritisch begegnen zu können, müsste man das ganze gewichtige Buch fast Satz für Satz zitieren, um dann jedem Satze den Kommentar und, wo geboten, die Kritik folgen zu lassen. Dies [S. 434] ist schon technisch unmöglich. Zum Glück gibt es eine andere Art immanenter Kritik; sie besteht darin, die Grundaxiome oder - Postulate zu untersuchen und, wenn sie als unrichtig befunden werden, die für richtig gehaltenen ihnen entgegenzustellen, um dann aus diesen das Problem anders und - einfacher zu lösen. Das ist der Weg, den wir wählen.

Zuvor noch eine Andeutung, wie Keynes sich die Behebung des Übels vorstellt. Wir sagten schon, dass er einen Mittelweg sucht zwischen der «totalen» Staatswirtschaft, wie sie fast vollkommen die Sowjets und in Annäherung die europäischen Diktaturen betreiben, einerseits, und dem radikalen «laissez faire» andererseits. Er sucht diesen Weg ähnlich wie Silvio Gesell in einer Manipulation der Geldmenge und dadurch des Zinsfusses, durch eine Politik des «Schwundgeldes», die aber natürlich nicht nur das Sachgeld, sondern auch das Bargeld, das «Kreditgeld» betreffen soll (S.302), um auch dem Gelde, wie allen anderen Waren, die von Natur im Werte schrumpfen, seine Durchhaltekosten aufzuerlegen (S.189). K. hält Gesell, im Gegensatz zu dem den Lesern dieser Zeitschrift bekannten Standpunkt des Referenten [5] für einen Theoretiker von nicht geringem Rang (S.300): wohlverständlich für jeden Autor, der seine Lieblingsidee bei einem Vorgänger, und noch dazu unvollkommen, also einem Vorläufer, entdeckt. Er deutet einmal an (S.172), dass ihm eine Bankpolitik als sehr nützlich erscheine, die nicht nur kurzfristige, sondern auch längerfristige Schulden zu bestimmten Sätzen ein- und verkauft: gewiss eine Politik, die nur mit Staatshilfe betrieben werden kann, um Illiquidität und ihre verheerenden Folgen zu vermeiden; und die ausserdem nur unter sehr beträchtlichen Sicherungen betrieben werden kann, die vielleicht so schwer tragbar sein möchten, dass die Massnahme den erwarteten allgemeinen Zweck nicht erreichen würde. Es liegt nicht in der Absicht des Verfassers, eine bestimmte, genau ausgearbeitete Politik zu empfehlen. Was er sich denkt (S.275), ist eine «sozial geleitete Investitionsrate, die sich eine fortschreitende Abnahme in der Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals (das ist ungefähr die Profitrate, die von einer Investition erwartet wird) (S.114) zum Ziele setzt» und daneben «alle Arten der Politik, die den Hang zum Verbrauch vermehren». Er hält es für möglich, innerhalb einer einzigen Generation den reinen Zins (statischen Profit) auf Null zu bringen, also nur Unternehmerlohn und Risikoprämie übrig zu lassen. Das ist der sozialistische Zug der Lehre (der mir persönlich ausserordentlich sympathisch ist), «Kapitalgüter so reichlich zu machen, dass die Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals Null ist, mag der vernünftigste Weg sein, um allmählich die verschiedenen anstössigen Formen des Kapitalismus los zu werden. Denn ein wenig Überlegung wird zeigen, was für gewaltige gesellschaftliche Änderungen sich aus einem allmählichen Verschwinden eines Verdienstsatzes aus aufgehäuftem Reichtum ergeben würden.» (S.184/85.) Henry George hat diese Überlegung in dem wundervollen letzten Kapitel seines «Progress and Poverty» zu Ende geführt, und ich selbst desgleichen in dem Schlusskapitel meines: «Weder Kapitalismus noch Kommunismus».

[S. 435] III. Das uneingestandene Postulat

(Der Kapitalismus und die Statik)

Alle klassische Theorie, die ältere wie die jüngere, geht von einem Satze aus, der ihr als ein keines Beweises bedürftiges Axiom, als selbstverständlich erscheint, nämlich von der Annahme, dass die kapitalistische Wirtschaft nach dem Gesetze der Konkurrenz verläuft. Alle echte Wissenschaft beginnt bekanntlich erst dann, wenn das «Selbstverständliche» zum Problem wird. Die Physik z. B. begann, als zum ersten Male gefragt wurde, warum der Apfel zur Erde fällt. Mehr noch: das Selbstverständliche kann falsch gedeutet werden. Millionen von Jahren haben die Menschen gesehen, es war ihnen also «evident», dass die Sonne sich um die Erde dreht.

Was ist das Grundgesetz der Konkurrenz? Zwei antagonistische Kräfte wirken auf den Preis der Güter und der Arbeit und durch diese auf Entschluss und Verhalten der Produzenten von Waren und Diensten derart, dass steigende Gewinne sie zur Ausdehnung, sinkende Gewinne zur Einschränkung ihrer Produktion veranlassen. (Unter «Produktion» verstehe ich nicht die Erzeugung, sondern das Zu-Markte-Bringen.) Auf diese Weise wird jeder Ausschlag nach der einen Seite zur Ursache einer Bewegung nach der anderen Seite mit der - nie ganz erreichten - Tendenz, zu einem Preisstande für Waren und Dienste zu führen, der allen Produzenten gleicher Qualifikation in gleicher Zeit das gleiche Einkommen abwirft. Adam Smith sagt [6]: «Die Gesamtheit der Vor- und Nachteile der verschiedenen Beschäftigungen von Arbeit und Kapital müssen in derselben Gegend entweder völlig gleich sein, oder doch beständig auf Gleichheit tendieren.» Das ist die ganze Theorie der Konkurrenz in nuce, und das ist das uneingestandene Postulat der klassischen Schule, von dem auch K. als von einer «Selbstverständlichkeit» ausgeht.

Es ist in der Tat evident und die tiefste Grundlage aller Theorie, die jeden ihrer Sätze, die wenigen richtigen und die vielen falschen, die schon und die noch nicht widerlegten, aus diesem Axiom als einer ihrer Prämissen deduziert hat; es bleibt nichts, aber auch durchaus nichts von ihr übrig, wenn sie diese Lehre aufgibt.

Aber die Frage ist, ob das Axiom auch für die kapitalistische Wirtschaftsordnung Geltung hat. Das ist nicht so a priori gewiss. Denn jedes Gesetz, mit einziger Ausnahme des moralischen, das kategorisch ist, ist «hypothetisch», d.h. gilt nur, wenn seine Bedingungen gegeben sind. Da der Verlauf der kapitalistischen Wirtschaft nicht nach der Berechnung sich vollzogen hat, indem er z.B. unfreiwillige Arbeitslosigkeit mit sich führte, ist dem Problem nicht auszuweichen, ob im Kapitalismus die Bedingungen gegeben sind, die vorhanden sein müssen, um das Spiel der Konkurrenz im Gegeneinander von Angebot und Nachfrage sich voll auswirken zu lassen. Da jenes Grundgesetz unzweifelhaft besteht (trotz allen heute verschollenen Einwänden der «historischen» Schule), [S. 436] müssen irgendwo Hemmungen wirken, Einflüsse systemfremder Kräfte, von aussen her stammende Störungen. Um ein oft gebrauchtes Beispiel anzuführen, muss der Ökonomist gleich dem praktischen Artilleristen die Kräfte aufsuchen, die es verhindern, dass das Geschoss in der Parabel fliegt, und die Grösse dieser Kräfte feststellen, um die wirkliche Geschossbahn berechnen und - das Ziel treffen zu können.

Wenn man das Getriebe der Konkurrenz im Kapitalismus untersucht, so findet man, dass es in einer bedeutsamen Hinsicht von der theoretischen Grundannahme abweicht: die industriellen Unternehmer verhalten sich programmwidrig. Sie dehnen die Produktion aus, wenn ihre Gewinne steigen, aber auch eine Zeitlang, wenn sie fallen!

Sie tun es nicht aus mangelnder Voraussicht und ebensowenig aus Starrköpfigkeit, sondern unter einem unwiderstehlichen Zwang, in Gehorsam gegen das wirtschaftliche Prinzip des kleinsten Mittels. Wenn sie nämlich bei fallenden Gewinnen einschränken, sind sie so gut wie sicher, dass ihre Konkurrenten ihren Betriebsumfang aufrecht erhalten, ja, wahrscheinlich sogar noch vergrössern werden; und dann sind sie doppelt geschädigt und in letzter Linie vom wirtschaftlichen Ruin bedroht: sie werden weniger Ware zu herabgesetzten Preisen verkaufen, ihr Gesamtgewinn wird von beiden Seiten her einschrumpfen. Wenn sie sich also nicht mit ihren Konkurrenten zu gemeinsamer Produktions- und Preispolitik verbünden, d.h. ein Monopol ihres Marktes schaffen können, so bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, als ihre Produktion zu steigern und zu versuchen, sie zu dem geringeren Preise abzusetzen. Das ist ihr einziges Mittel, den Gesamtgewinn auf seiner Höhe zu halten, vielleicht sogar noch zu vermehren, wobei noch die Chance winkt, die schwächeren Gegner durch Unterbietung aus dem Markte zu werfen und dadurch für sich allein das heiss erstrebte Monopol zu erlangen. Dann wird der Konsument die Kriegskosten zu bezahlen haben.

Das ist der Grund, warum die kapitalistische Konkurrenz den Charakter des verzweifelten Kampfes um die Existenz «bis aufs Messer» hat. Aber das gilt nur für die industriellen Unternehmer der kapitalistischen Aera. Nur zwischen ihnen besteht dieser «feindliche Wettkampf», wie ich ihn genannt habe. Sonst überall besteht der «friedliche Wettbewerb», der ein ganz anderes Verhalten zeigt, sogar zwischen den landwirtschaftlichen Unternehmern der kapitalistischen Ordnung. Das ist schon Adam Smith aufgefallen, der sich dabei auf einen sehr viel älteren Vorgänger, nämlich den alten Cato, beruft. Der Schotte setzt der immer wieder von ihm angeprangerten Sucht der industriellen Unternehmer, ihren Markt zu monopolisieren, das Verhalten der Landwirte entgegen: «Im Gegensatz dazu sind Pächter und ländliche Grundherren im allgemeinen eher dazu geneigt, die Kultivierung und Verbesserung der Wirtschaften ihrer Nachbarn zu fördern als zu verhindern. Sie haben keine Geheimnisse von der Art, wie sie der grössere Teil der Fabrikanten besitzen, sondern sie haben geradezu ihre Freude daran, jede neue Erfahrung, die sie als vorteilhaft befunden haben, ihren Nachbarn mitzuteilen und so weit wie möglich zu verbreiten.» (I, S.406.)

[S. 437] Nun gibt es zahlreiche Menschen, die gleichzeitig industrielle Unternehmer und Landwirte oder doch wenigstens Grundbesitzer sind. Sie handeln dort wie alle anderen Fabrikanten, hier wie alle anderen Landwirte. Man darf also diese auffällige Verschiedenheit des Verhaltens nicht darauf zurückführen, dass die Landwirtschaft einen spezifisch veredelnden, die Industrie aber einen spezifisch verderbenden Einfluss auf ihre Leute ausübt - was übrigens, logisch betrachtet, nichts als eine grobe petitio principii wäre.

Hier steht also ein wichtiges Problem vor uns auf: unter welchen Bedingungen herrscht der friedliche Wettbewerb, unter welchen der feindliche Wettkampf? Dieses Problem habe ich vor mehr als vierzig Jahren gestellt und völlig gelöst, ohne dass es seitdem in der theoretischen Literatur auch nur ein einziges Mal erwähnt worden wäre. (Meine «Siedlungsgenossenschaft», 1896, S.117ff.) Ich entdeckte den Gegensatz bei einer Untersuchung des Genossenschaftswesens: die Verbände der Käufer entwickeln sich polar verschieden von denen der Verkäufer, weil zwischen jenen aus klaren Gründen der friedliche Wettbewerb, zwischen diesen aber der feindliche Wettkampf herrscht. Das Interesse jedes Käufers nämlich zwingt ihn, sich so zu verhalten, wie es im Interesse aller Käufer liegt, das Interesse des einzelnen Verkäufers zwingt ihn zu einem Verhalten, das dem aller anderen Verkäufer entgegengesetzt ist. Die Käufer schränken bei steigenden Preisen ihren Konsum ein, die kapitalistischen Verkäufer dehnen ihre Produktion bei fallenden Preisen noch aus. Es stellte sich dann heraus, dass die Landwirte auch der kapitalistischen Aera psychologisch genau so gelagert sind wie die Käufer; und weiterhin, dass die gewerblichen Unternehmerverbände des hohen Mittelalters, die Zünfte und Innungen, sich wie Genossenschaften von Käufern verhielten, weil auch ihre psychologische Lagerung exakt die der Käufer war.

Die weitere Analyse ergab, dass diese Psychologie des feindlichen Wettkampfs überall mit dem Augenblicke einsetzt, wo der kapitallose Arbeiter in Massen auf dem Arbeitsmarkte auftritt und durch seine Hungerkonkurrenz den Lohn herabzieht. Dann nämlich sind die beiden Bedingungen gegeben, die vorhanden sein müssen, um den industriellen Unternehmer zur Erweiterung seiner Produktion zu befähigen und zu veranlassen: technisch, sozusagen mechanisch, die Möglichkeit, die dazu erforderlichen Arbeiter auf dem Markte zu finden, und psychologisch die Möglichkeit, einen vermehrten Kapitalprofit zu machen. Bis dahin hatte er nämlich überhaupt keinen Kapitalprofit, der nichts ist als ein Abzug vom Lohn seiner Arbeiter, sondern nur den Unternehmerlohn seiner qualifizierten Arbeit. Er verlor also bei jeder Senkung des Preises seiner Ware und hätte sich wohl gehütet, unter solchen Umständen den Betrieb zu erweitern, selbst wenn die technische Möglichkeit dazu bestanden hätte. Jetzt aber, wo die Arbeiter sich unterbieten müssen, gewinnt er normalerweise an jeder Wareneinheit auch noch seinen Profit oder «Reinzins» und kann daher darüber spekulieren, ob sein Gesamtgewinn, an dem allein er interessiert ist, nicht vielleicht noch steigen wird, wenn er mehr Einheiten zu geringerem als weniger zu höherem Preise verkaufen wird.

Das waren die äusseren Bedingungen, unter denen die gewerbliche Genossenschaft des hohen Mittelalters sich plötzlich aus einer, allen Gewerbsgenossen [S. 438] offenstehenden, demokratisch verwalteten, in eine abgeschlossene, monopolistische, autoritär verwaltete Einung verwandelte; dies die Bedingungen, unter denen das noch von Smith und sogar Marx als Arbeiterparadies beschriebene Nordamerika zu dem Lande des ungeheuerlichsten Kapitalismus und der gewaltigsten unfreiwilligen Arbeitslosigkeit wurde.

Wir werden die Ursache dieses Umschwungs im nächsten Abschnitt festzustellen haben. Hier interessiert uns zunächst etwas anderes.

Es hat sich herausgestellt, dass der Kapitalismus nicht das System der vollen Konkurrenz ist, für den ihn das uneingestandene Postulat hält. Die Preise für Güter und Dienste, anstatt in leichten Wellenbewegungen nach Störungen immer wieder zum Gleichgewicht hin zurückzuschwanken, vergleichbar der Fläche eines vom Winde berührten Teiches, verhalten sich wie Böhm-Bawerks Brandung, die in einer Sturmflut die Deiche zerbricht und das Land weithin verwüstet.

Oder mit anderen Worten: Die kapitalistische Wirtschaft hat keine Statik, nicht bloss in dem mit dem Postulat wohl vereinbarten Sinne, dass sie praktisch niemals voll erreicht werden kann, sondern in dem mit ihm durchaus unvereinbaren Sinne, dass sie theoretisch nicht vorgestellt und errechnet werden kann. Sie darf daher als methodisches Hilfsmittel der Deduktion nicht ohne weiteres verwendet werden, weil die kapitalistische Wirtschaft gar nicht auf einen Zustand des Gleichgewichts tendiert.

Nun ist aber, wie wir wissen, die statische Betrachtung unentbehrlich. Wenn wir nicht alle Hoffnung überhaupt aufgeben sollen, jemals zu einer Theorie der Ökonomik zu gelangen, müssen wir verstehen, dass der Kapitalismus selbst, als Ganzes genommen, das Bild einer Störung darstellt, der Störung des Systems der freien Konkurrenz durch systemfremde Kräfte. Wir müssen daher dieses System, wenn wir es in der Wirklichkeit nicht auffinden können, durch Deduktion aus seinen Voraussetzungen errechnen und dann, Ergebnis für Ergebnis, mit den Tatsachen der kapitalistischen Wirtschaft konfrontieren, um herauszufinden, was in ihr systemeigen und was in ihr systemfremd ist. Das ist die methodisch streng vorgeschriebene Aufgabe.

IV. Der Arbeitslohn

Wir gehen wie Keynes von den Bestimmgründen des Arbeitslohnes aus. Die beiden oben angeführten «diskussionslos angenommenen Postulate» der Marshallschule, deren erstes er billigt, deren zweites er ablehnt, weil es nur auf einen von vielen möglichen Fällen zutrifft, sollen uns, so wird behauptet, die Tabellen des Angebots und der Nachfrage auf dem Arbeitsmarkte geben. Wir wollen das per inconcessam zunächst einmal zugeben. Selbst dann ist noch wenig gewonnen. Die Berufung auf Angebot und Nachfrage gibt uns, wie Böhm-Bawerk einmal sagt, nur «Schalen anstatt Kerne». Denn hier wird, um den grossen, auch von der Marshallschule so hoch verehrten Thünen zu zitieren, der hier gerade dieses Problem erörtert, «durch eine Begriffsverwechslung das Faktische für eine Erklärung, das, was geschieht, für den Grund der Erscheinung genommen». (Der isolierte Staat, Ausgabe Waentig, S.436.) «Wer aber tiefer [S. 439] eindringt, wird erkennen, dass Angebot und Nachfrage nur die äussere Erscheinung einer tiefer liegenden Ursache ist.» (Ib., S.470.) Wie alle Preise, so schwanken auch die Löhne um einen Mittelwert, der, gerade wie der Mittelpunkt der Pendelschwingungen, durch Kräfte bestimmt ist, die mit dem Getriebe selbst nichts zu tun haben, die ihm sozusagen a priori sind; der Mittelwert ist der Punkt aktiver Attraktion. «Ich will wissen, warum Angebot und Nachfrage gerade bei 5, und nicht bei 2 oder bei 10% im Gleichgewicht sind.» (Loc. cit. S.466.)

Es ist also unsere erste Aufgabe, diesen Mittelwert des Lohnes, d. h. den «natürlichen Preis» der Arbeit aufzusuchen.

Das ist leicht getan. Der Arbeiter ist ein «Unselbständiger», der im Auftrage und auf Kosten und Gefahr seines Arbeitgebers ihm «Dienste» leistet und dafür einen vereinbarten Lohn empfängt. Dieser Lohn muss offenbar mindestens so hoch sein wie der Gewinn, den die gleiche Person als Selbständiger durch Arbeit für sich selbst erzielen kann.

Wieviel kann nun dieser « Grenz-Selbständige» mit eigener Arbeit für sich selbst gewinnen? Das hängt offenbar, die Qualifikation gegeben, nur davon ab, inwieweit er mit den erforderlichen Produktionsmitteln versehen ist. Das wichtigste aller Produktionsmittel ist der Grund und Boden. So kam Henry George, dem sich kein Geringerer als John Clark anschloss, zu dem Satze: «Die Höhe des Lohnes im allgemeinen wird durch die jeweilige Leichtigkeit oder Schwierigkeit bestimmt, unter welcher der Arbeit das natürliche Arbeitsmaterial, der Grund und Boden, zugänglich ist» (The condition of labour).

Das gilt für jede denkbare Gesellschaft, die bereits bis zur Arbeitsteilung zwischen mehreren in einem Betriebe fortgeschritten ist. Eine dieser Gesellschaften höherer Entwicklung ist die kapitalistische, mit der allein wir es hier zu tun haben. Nur eine von mehreren denkbaren! Indem wir dies aussprechen, nehmen wir scharf Stellung gegen die klassische Doktrin. Für sie nämlich gibt es nur eine denkbare Gesellschaft höherer Entwicklung: die kapitalistische. Das ist der letzte Sinn des uneingestandenen Postulates.

Das aber ist ihr entscheidender Irrtum! Die kapitalistische Gesellschaft ist nur eine besondere Spezies des Genus: entwickelte Gesellschaft, die durch eine deutliche differentia specifica von anderen Spezies unterschieden ist. In ihr sind die Arbeiter politisch frei, weder Hörige noch Sklaven; das unterscheidet sie von der Wirtschaft des Altertums, des frühen und späten Mittelalters und der sklavenhaltenden Kolonien der Neuzeit. Und in ihr ist ferner der Arbeiter kapitallos, hat keine eigenen Produktionsmittel, ist auch in diesem Sinne «frei von allen zur Verwirklichung seiner Arbeitskraft nötigen Sachen», wie Marx sagt, der ihn deshalb mit bitterem Doppelsinn als den «freien» Arbeiter bezeichnet. Und das unterscheidet die kapitalistische Wirtschaft von der des hohen Mittelalters [7] und der nicht sklavenhaltenden Kolonien, wo der Arbeiter so hohen Lohn erhielt, dass er in kurzer Zeit die erforderlichen Produktionsmittel für sich beschaffen und zur Selbständigkeit gelangen konnte. Adam Smith schildert [S. 440] das im zweiten Teile des Abschnitts über Kolonien (II., S.63): Der Kolonist hat mehr Land genommen, als er irgend bestellen kann. Er hat mit keinem Grundherrn zu teilen und zahlt kaum Steuern. Um sein Land zu nützen, braucht er Arbeiter, die er «mit höchst grossmütigen Löhnen bezahlen muss. Aber diese grossmütigen Löhne in Verbindung mit der Fülle und Billigkeit des Grundes und Bodens führen bald dazu, dass diese Arbeiter ihn verlassen, um selbst Grundbesitzer zu werden und ihrerseits mit gleicher Grosszügigkeit Arbeiter zu besolden, die sie bald aus dem gleichen Grunde verlassen werden. ... ihre Kinder werden, wenn sie zur Reife gelangt sind, durch den hohen Preis der Arbeit und den niedrigen Preis von Grund und Boden befähigt, sich in derselben Weise wie ihre Väter selbständig zu machen».

Karl Marx geht noch weiter. In dem Schlusskapitel des ersten Bandes seines «Kapital» (4. Auflage, S.734) sagt er: «Der Lohnarbeiter von heute wird morgen unabhängiger, selbstwirtschaftender Bauer oder Handwerker. Er verschwindet vom Arbeitsmarkt. aber - nicht ins Workhouse.» Diese Wirtschaft ist nicht kapitalistisch: «Das kapitalistische Regiment stösst dort überall auf das Hindernis des Produzenten, welcher als Besitzer seiner eigenen Arbeitsbedingungen sich selbst durch seine Arbeit bereichert statt des Kapitalisten.» (Ib., S.730.) Karl Kautsky in seinem Kommentar unterstreicht das noch: «Unter diesen Umständen hört das Kapital auf, Kapital zu sein... die Produktionsmittel verwerten sich nicht.» (Karl Marx' ökonomische Lehren, 14. Auflage, S.265.) Hier ist also der «Grenzselbständige» der unverschuldete Bauer auf ausreichendem Grundbesitz, und sein Einkommen bestimmt den Lohn aller gleichqualifizierten unselbständigen Arbeit, der sogar etwas höher sein muss, um für den Verzicht auf Selbständigkeit zu entschädigen.

Wo aber so günstige Umstände nicht bestehen, da, so fährt Smith fort, «verzehren Rente und Profit den Lohn, und die beiden oberen Stände unterdrücken den unteren». Das ist der Fall in allen Ländern des entwickelten Kapitalismus. Hier ist der Grenzselbständige, dessen Einkommen das aller gleichqualifizierten Unselbständigen bestimmt, ganz gewiss nicht der freie, unverschuldete Bauer auf ausreichend grossem Grundbesitz, sondern offenbar ein Mensch mit proletarischem Einkommen. Dieser Mensch ist aufzufinden.

Hier steckt ein Problem, das die «klassische» Schule nie gesehen hat. Sie weiss nicht, dass sie, um mit Marx zu sprechen, von «Lohnarbeit» handelt, wenn sie «Arbeitslohn» sagt: von Lohnarbeit, geleistet von kapitallosen Arbeitern.

Das Problem des kapitalistischen Arbeitslohnes stellt demnach drei verschiedene Teilprobleme. Erstens: Wie ist die Klasse der «freien Arbeiter» entstanden? Zweitens: Wer ist hier der Grenzselbständige, d.h. wie bestimmt sich der mittlere Lohn? Drittens: Warum steht dieser Lohn so tief, dass der Arbeiter (individuell und kollektiv) niemals genug ersparen kann, um sich die zur Selbständigkeit erforderlichen Produktionsmittel zu beschaffen?

a) Die Ausgangslage

Das erste Teilproblem ist gelöst, sobald man sich klar macht, dass der Kapitalismus nicht, wie das uneingestandene Postulat behauptet, eine immanente, [S. 441] sondern eine historische Kategorie ist, um den Marxschen Ausdruck anzuwenden. Er ist eine historische Epoche und kann nur als solche verstanden und erklärt werden. Das will sagen: man muss von seiner geschichtlich gegebenen Anfangssituation, seiner «Ausgangslage» ausgehen, um die richtigen Prämissen der Deduktion zu erlangen.

Der industrielle Kapitalismus beginnt, wie ich habe zeigen können [8], überall mit der Einführung der Freizügigkeit durch die bürgerlichen Revolutionen, die der Vorperiode, der Wirtschaft des feudalabsolutistischen Staates, ihr Ende bereiten. Die Freizügigkeit ist es, die den freien Arbeiter massenhaft auf die städtischen Arbeitsmärkte wirft; man hat ihn politisch befreit, denkt aber nicht daran. ihn auch aus seiner wirtschaftlichen «Freiheit» zu erlösen: seiner Kapitallosigkeit. Es ist der bisher an die Scholle gefesselte Mensch; das war er auch in England durch die Kirchspielgesetze, «die einen Mann sozusagen für Lebenszeit einkerkern» [9], und die Korporationsgesetze. Jene hinderten ihn, sein heimisches Kirchspiel zu verlassen, diese, in die städtischen Gewerbe einzutreten. Er war also schollengebunden wie ein Leibeigener des Ostens.

Die Einführung der Freizügigkeit war die einzige grosse Veränderung der wirtschaftlichen Grundlage, die sich damals vollzog. Grundsätzlich erhalten [ge]blieben aus der Vorperiode, gingen also in die kapitalistische Periode über: erstlich die bestehende Verteilung des Vermögens und daher natürlich auch des Einkommens, und die Vormachtstellung der besitzenden Schichten in der inneren wie in der äusseren Politik, dasjenige, was ich «das öffentlich-rechtliche Klassenmonopol der Staatsverwaltung» genannt habe. Es waren eben Revolutionen der Bürger, die wohl die auf ihnen lastenden feudalen Privilegien abzuschütteln entschlossen waren, aber gar nicht daran dachten, ihre faktischen Privilegien zugunsten der unteren Stände zu beschränken oder gar aufzugeben. Das Verhalten Cromwells gegen die Levellers ist dafür gerade so bezeichnend wie der krasse, neuerdings von Aulard [10] stark herausgearbeitete Gegensatz zwischen den «droits de l'homme» und der Konstitution, «die das Bürgertum als politisch bevorrechtigte Klasse organisierte» (S.47), indem sie überall das Zensussystem einführte.

Das ist die Ausgangslage. In ihr waren bereits alle Erscheinungen der kapitalistischen Verteilung in nuce gegeben. Das zeigt sich klar, wenn wir uns die Verteilung am Schlusse der Vorperiode in einem idealtypischen Bilde darstellen:

Das Land ist von Grossbesitzungen des Adels und der Kirche eingenommen; von den wenigen freien Bauerneigentümern dürfen wir absehen. In den Städten existiert ein industrieller Kapitalismus, wenn überhaupt schon, nur erst in seiner ersten Keimform als schwaches Verlagssystem. Der schlechteste bzw. marktfernste Ackerboden, dessen Ertrag der Markt noch braucht und bezahlt, bringt seinem Besitzer einen Ertrag je ha als Feudaltribut seiner Hintersassen. Alle [S. 442] Besitzer von Boden, der besser oder marktnäher ist als dieser «Grenzboden», beziehen darüber hinaus Differentialrente. Genau das gleiche Bild nach der Umwälzung, nur mit dem einen, sehr geringfügigen Unterschiede, dass der Ertrag des Grenzbodens jetzt nicht mehr Feudalrente, sondern Profit genannt und dem darauf investierten Kapital «zugerechnet» wird.

b) Der Mittelwert der Arbeit

Hier wie überall bestimmt sich der mittlere Wert der Arbeit, also der «natürliche Lohn», nach der Zugänglichkeit der Produktionsmittel für den Unselbständigen, aber hier mit der näheren Bestimmung, die die differencia specifica der kapitalistischen Wirtschaft darstellt, dass alle von der Natur dargebotenen Arbeitsmittel im Besitz der oberen Klassen sind, mit einziger Ausnahme derjenigen, die es noch nicht gelohnt hat oder die es noch nicht gelungen ist, anzueignen, wie z.B. Besenginster, Fallholz, Waldbeeren, arme Fundstätten von Kristallen oder Gold in Flussanden, deren Auswaschung nicht einmal den niedrigsten Arbeitslohn der Gegend ergibt. Alles andere ist Eigentum der besitzenden Klassen und wird durch ihr Monopol der Staatsverwaltung gewährleistet und verteidigt. Darum muss sich der Lohn des unqualifizierten unselbständigen Arbeiters notwendig einstellen auf ungefähr den Satz, den er als Selbständiger mit den noch freigebliebenen Produktionsmitteln erwerben kann.

Dazu gehört auch der noch herrenlose Boden. Es gibt noch immer solchen, aber nicht in den alten Kulturländern. Hier ist er völlig angeeignet, nicht nur der gute und marktnahe, sondern auch der schlechteste und marktfernste, der bebaute und der unbebaute, Acker, Wiese und Wald, sogar Ödland, Moorland und Seeküste. Adam Smith berichtet, dass die Fischer der Shetlandinseln ihrem Grundherrn eine Pacht für das kleine Grundstück zahlen müssen, auf dem ihre Hütten stehen, und zwar: «im Verhältnis nicht zu dem, was der Pächter aus dem Lande erarbeiten kann, sondern zu dem, was er auf dem Lande und auf dem Meere gewinnen kann» (I., S.131). Nur in Übersee findet sich noch gänzlich freies oder doch sehr billiges Land, aber es verhält sich mit ihm gerade so wie mit den goldhaltigen Flussanden: alles, was nicht nur im gegenwärtigen Zeitpunkt, sondern in irgend absehbarer Zukunft einen Ertrag abzuwerfen verspricht, der an den kapitalistischen Lohnsatz heranreicht, ist schon heute angeeignet; der kapitallose Mann darf darauf ohne die teuer bezahlte Erlaubnis des Besitzers nicht Haus oder Werkstatt bauen, ackern, gärtnern, jagen, fischen, Holz schlagen usw. Auf dem noch freien Lande aber in Übersee kann der kapitallose Mann zurzeit nicht einmal den kapitalistischen Lohn erarbeiten. Hier also sitzt oder könnte doch sitzen der «Grenzselbständige», und sein faktisches oder potentielles Einkommen bestimmt den Lohn der sämtlichen gleich qualifizierten kapitallosen Unselbständigen, namentlich der Landarbeiter überall im angebauten Gebiet, und deren Lohn wieder den der Industriearbeiter.

Das hat Henry George klar erkannt, aber er hat den schwerwiegenden Fehler begangen, diesen seinen «margin of cultivation » dem von Ricardo (den er völlig missverstand) bestimmten Grenzrande gleichzusetzen. Das ist die Zone, in der der kapitalbewaffnete Pächter über den von ihm gezahlten Arbeitslohn [S. 443] hinaus noch den normalen Profit auf sein Kapital verdient, aber dem Grundbesitzer keine Rente zahlen kann. Bei George jedoch ist es die Zone, wo der kapitallose Eigentümer noch nicht einmal den Lohn verdienen kann, und diese Zone liegt unendlich viel weiter vom Zentrum des Marktes fort als jene [11]. Zwischen beiden liegt ein ungeheures Gebiet, das für kapitalistischen Ackerbau noch nicht reif, gegen jede nichtkapitalistische Siedlung aber gesperrt ist. Zum Teil wird es in extensivster Grossviehhaltung kapitalistisch genützt: die Weideknechte, Gauchos, Peons, Cowboys usw. werden entsprechend ihrer Qualifikation nach dem kapitalistischen Satz entlohnt.

c) Der Marktpreis der Arbeit

Um diesen Satz als ihren Mittelpunkt schwanken die Löhne je nach Angebot und Nachfrage. Die Nachfrage nach Arbeit geht aus von den städtischen Gewerben, Industrie, Handel und Verkehr, die, wie die Ziffern des Städtewachstums zeigen, bisher in aller Regel viel mehr Arbeiter eingestellt haben, als der Bevölkerungszuwachs der Städte selbst ihnen stellen konnte. Nur im Tiefpunkt schwerer Krisen hat diese gewaltige Attraktion für kurze Zeit einer Repulsion Platz gemacht. Das Defizit an erforderter Arbeitskraft wurde gedeckt durch proletarische Einwanderung aus den Landbezirken des gleichen Landes oder fremder Länder, und zwar ganz überwiegend aus Gebieten des grossen Grundeigentums, der «Bodensperre», und erst in zweiter Linie aus Gebieten der «Bodenenge», d.h. solchen, in denen die agrarische Bevölkerung allzu dicht sitzt und demnach auf allzu kleinem Besitz nur eine ungefähr proletarische Existenz finden kann, eben weil ihr der Abfluss in die Gebiete des Grossgrundeigentums mit seiner allzu dünnen Bevölkerung gesperrt ist. Von reinen Bauernbezirken aus hat es immer nur eine relativ schwache Wanderung überhaupt gegeben, und diese ist überwiegend nichtproletarisch.

Diese Wanderung hält das Angebot auf dem Markte der städtischen Arbeit in aller Regel über der Nachfrage. Dennoch ist der Mittelsatz des Lohnes allmählich nicht unbeträchtlich gestiegen, und zwar, weil auf dem Markte der landwirtschaftlichen Arbeit die Lage dank der Fortwanderung für die Landarbeiter günstiger wurde; es kommt dazu, dass die Entwicklung der städtischen Gewerbe eine starke Intensivierung des Ackerbaus mit sich brachte, die je Flächeneinheit bedeutend mehr Arbeitskräfte erfordert. Mit dem Lohn der Landarbeiter musste der der städtischen Arbeiter steigen: es kann auf dem gleichen Markte - und die beiden Teilmärkte stehen in offener Kommunikation - nur einen Preis für die gleiche Ware geben.

Bis heute aber hat der Mittelsatz keine Tendenz gezeigt, über die Linie des Schicksals (Georges «Rentenlinie») hinauszuwachsen, jenseits derer die Arbeiter genügend Ersparnisse machen können, um sich einzeln oder als Kollektivität die bedurften Produktionsmittel selbst zu beschaffen. Sie sind, wenn auch etwas besser gestellte, so doch nach wie vor «freie » Arbeiter. Und es ist wenig Aussicht dafür vorhanden, dass es anders wird, solange die Oberklasse das [S. 444] Monopol der Staatsverwaltung besitzt und handhabt. Sie verteidigt ihre Klassenmacht, indem sie das sonst längst verlorene Grossgrundeigentum durch Zölle, Liebesgaben, Steuerbegünstigung u. dgl. am Leben erhält, und das Volkseinkommen durch «rentable Destruktion» von Gütern und in Rüstungen vergeudet und die Substanz in Kriegen zerstört.

d) Die eingestandenen Postulate

Die Lehre vom Lohn und der Beschäftigung, die die spätklassische Doktrin vorträgt, beantwortet von den soeben behandelten Teilproblemen nur ein einziges, indem sie Angebot und Nachfrage auf dem Markte der Arbeit zu bestimmen versucht. Wir führen die «Postulate», deren erstes Keynes annimmt, während er das zweite als zu eng verwirft, noch einmal an: «Der Lohn ist gleich dem Grenzerzeugnis der Arbeit», und: «Der Nutzen des Lohnes ist, wenn eine gegebene Arbeitsmenge beschäftigt wird, gleich dem Grenznachteil dieser Beschäftigungsmenge.» Vom Standpunkt der Arbeitgeber aus gesehen, «liefert uns das erste die Nachfragetabelle der Arbeit, das zweite die Angebotstabelle». Der Arbeitgeber hört auf, Arbeit nachzufragen, sobald der Lohn, den er zahlen müsste, grösser würde als der Wert, den das Grenzerzeugnis der Arbeit hätte. Der Arbeiter hört auf, Arbeit anzubieten, sobald der Lohn, den er erhalten würde, geringer wäre, als das Opfer, das er mit der Arbeit auf sich nehmen würde.

Selbst wenn wir zugeben müssten, was wir nicht tun, dass diese Deduktion richtig ist, wäre bereits zu sagen, dass damit von all den Fragen, die uns das Problem des Lohnes stellt, nur die unwichtigste beantwortet wäre: «Schalen statt Kerne!» Es fehlt jeder Versuch der wichtigsten Bestimmung, nämlich des Mittelwertes, auf den die Schwankungen im Marktpreise des Lohnes hintendieren. Auf diese Weise lässt sich jede Lohnhöhe «ableiten» zwischen dem Maximum des vollen Arbeitsertrages und dem Minimum des blossen Existenzlohnes. Diese erste Frage hätte auf die zweite führen müssen, warum «die Verhandlungsposition der Arbeiter» (S.211) so ungünstig ist, dass «die Arbeiter gezwungen sind, gegeneinander zu bieten, um Beschäftigung zu finden» (Smith, loc. cit. I, S.63), und nicht so günstig wie zu seiner Zeit in den amerikanischen Kolonien, wo «die Knappheit an Händen einen Wettbewerb zwischen den Arbeitgebern hervorruft, die gegeneinander bieten, um Arbeiter zu erlangen» (Ib., S.61). Und das wieder hätte zum dritten Teilproblem führen müssen, wie eine Klasse besitzloser freier Arbeiter überhaupt entstehen konnte.

Diese Fragen hat die ältere klassische Theorie doch wenigstens gesehen und zu beantworten gesucht: durch die Smithsche Lehre vom Unterhaltsfonds der Arbeit, durch das «Gesetz der ursprünglichen Akkumulation», das die Klassen aus den Unterschieden der wirtschaftlichen Begabung ableitet, durch die Ricardosche Lohntheorie und schliesslich durch das Malthussche Bevölkerungsgesetz, die einzige Erklärung, die die klassische Doktrin für den Tiefstand der Löhne besitzt.

Alle diese Lösungen sind heute als unhaltbar anerkannt, und damit stehen die drei grossen Teilfragen des Lohnproblems erneut zur Beantwortung. Wer meine oben gegebene Lösung bestreiten will, muss sie widerlegen und eine andere [S. 445] finden. Und wird dabei nicht einmal die eine Teillösung verwenden können, die die Schule vorträgt. Auch sie ist unhaltbar.

Sie entstammt der Grenznutzenlehre von Hermann Gossen, die ich als durchaus richtig anerkenne. Er hat gezeigt, dass der subjektive Wert (Grenznutzen) jedes Stücks eines Vorrats steigt mit seiner Verminderung und fällt mit seiner Vermehrung. Angewendet auf die Arbeit und ihren Erfolg bedeutet das: dass der Zuwachs an Güterwert oder Lohn, den jede weitere Stunde von Arbeit bringt, einen geringeren Grenznutzen hat als der Erfolg jeder früheren Stunde; und dass andererseits jede folgende Stunde Arbeit einen grösseren Nachteil bedeutet, grösseren «Grenznachteil» hat als jede frühere Stunde Arbeit. An der Stelle, wo der Zuwachs an Wert dem Opfer gleich wird, hört der Mensch auf zu arbeiten.

Gossens ganze Lehre war nur dazu bestimmt, der Ökonomik den bis dahin mangelnden psychologischen Unterbau zu geben. Er hat ausdrücklich festgestellt, dass die Lehre vom objektiven Werte dadurch nicht berührt wird. Die Schulen des Grenznutzens aber haben in einer kolossalen «Metabasis eis allo genos» den Versuch gemacht, auch die objektiven Preise aus seinem Prinzip abzuleiten. Ich habe in meinem Lehrbuch (S.119ff., S.779ff.) gezeigt, dass jeder Schritt auf ihrem Wege eine logische Todsünde ist. Sie haben sich dadurch verführen lassen, dass es auch im Objektiven Erscheinungen gibt, die mit dem Adjektiv «marginal» oder dem Präfix «Grenz-» bezeichnet werden: Grenzrand der Bebauung, Grenzbauer, Grenzkapital, Grenzmine, Grenzselbständiger usw., und haben in jener ungeheuerlichen «Grenz»überschreitung Psychologie und Ökonomik in der unheilvollsten Weise verwirrt. Der vorliegende Fall ist ein Beispiel dafür. Gossen hat, was durchaus zulässig ist, die gleiche Person zur gleichen Zeit zwei ihr durch Innenbeobachtung gegebene Intensitätsgrössen miteinander vergleichen und sich nach dem Ergebnis des Vergleichs entscheiden lassen. Die Schulen aber lassen zwei verschiedene Personen, den Unternehmer und den Arbeiter, zwei Extensitätsgrössen vergleichen und danach zu zwei verschiedenen Entscheidungen kommen: jenen, ob er bei gegebener Lohnforderung noch einen Arbeiter mehr einstellen wird, diesen, ob er bei gegebenen Lohnangebot arbeiten oder feiern wird. Hier wird erstens als selbstverständlich vorausgesetzt, dass der Unternehmer in der Regel so viel Arbeit bzw. Arbeiter auf dem Markte findet, wie er will. Zweitens wird verkannt, was bereits Adam Smith wusste und mehrfach aussprach, dass es sich in aller Regel um ein Monopolverhältnis handelt, bei dem zwar on the long run auch ein statischer Preis, hier also Lohn, herausspringt, aber durchaus nicht der «natürliche». Und schliesslich und vor allem: Wo in aller Welt hat den jemals ein Unternehmer seine Entschlüsse nach diesem ausgeklügelten Schema gefasst? Marshall sagt selbst (S.518, Anm.2): «Solch eine Methode, um das Nettoprodukt von eines Mannes Arbeit festzustellen, ist schwer auf Industrien anwendbar, in denen viel Kapital und Mühe aufgewendet werden muss, um allmählich eine Handelsbeziehung herzustellen ... der Einfluß der Beschäftigung eines zusätzlichen Arbeiters auf die allgemeine Wirtschaft eines grösseren Betriebes kann also von einem rein abstrakten Gesichtspunkt aus in Erwägung gezogen werden; aber sie ist zu gering, um ernsthaft genommen zu werden.»

[S. 446] Und auf der anderen Seite: wie in aller Welt kann auch der klügste Gewerkschaftssekretär herausfinden, welchen Lohn der Unternehmer gerade noch zahlen kann, wenn Marshalls Satz gelten soll: «Der Lohn für jede Klasse von Arbeitern hat die Tendenz, sich gleich dem Reinertrage des letztangestellten Arbeiters zu stellen.»? Die Theorie muss die Tatsachen «stilisieren», darf sie aber beileibe nicht gänzlich aus den Augen verlieren. Ich habe die ganze Verwirrung in meinen Schriften «Der Arbeitslohn» und «Wert und Kapitalprofit», dritte Auflage (beide Jena 1926), ausführlich dargestellt und aufgelöst, indem ich namentlich zeigte, wie sehr der von Marshall so hoch verehrte Thünen hier missverstanden worden ist.

V. Der Kapitalismus als Sozialkrankheit

Wir kehren nach Erledigung dieser unvermeidlichen kritischen Abschweifung zu unserer eigentlichen Aufgabe zurück, die Arbeitslosigkeit auf ihre wirklichen Ursachen zurückzuführen. Zu dem Zwecke ist der kapitalistische Gesamtprozess noch einmal als dasjenige darzustellen, was er in der Tat ist: als eine Erkrankung des sozialen Organismus.

Ms solche betrachtet ihn auch Keynes selbst. Er spricht öfters (z.B. S.272) von einem «Heilmittel» oder der Heilung des Übels, und er hat recht damit. Die Medizin definiert die Krankheit als den «Prozess des Lebens unter abnormalen Bedingungen». Der gesellschaftliche Körper darf als ein kollektiver Organismus betrachtet werden, der an systemfremden Störungen erkranken und schlimmstenfalls wohl auch sterben kann. Seine Gesundheit ist der Prozess der vollen freien Konkurrenz. Jedes Klassenmonopol stellt eine systemfremde Störung dar.

Der Vergleich trägt noch weiter. Es gibt gewisse Krankheiten, bei denen der Prozess nur durch eine Krise zum Gleichgewicht der Statik, d.h. zur Gesundheit, zurückführen kann (von hier ist der Begriff in die Ökonomik übergegangen), und es gibt sogar chronische Krankheiten, die, gerade wie die kapitalistische Wirtschaft, eine Art von kurzdauerndem Gleichgewicht nur zeitweilig durch immer wiederholte Krisen erreichen. Einer solchen Krankheit kann der Kapitalismus verglichen werden. Und der Versuch, ihn zu verstehen, ohne auf die Statik bei vollfreier Konkurrenz zu rekurrieren, ist gerade so aussichtslos, als wollte man am Verlauf einer Lungenentzündung oder einer Rückenmarksdarre Physiologie studieren. Man muss die normale Physiologie kennen, ehe man die pathologische Abweichung verstehen und aus einer systemfremden Störung erklären kann.

a) Die systemfremde Störung

Wir haben die Störung festgestellt, die den Kapitalismus kennzeichnet und seine Unterscheidung von dem System der vollen freien Konkurrenz bedingt, für das ihn das uneingestandene Postulat hält. Es ist das aus der feudalabsolutistischen Vorperiode übernommene private Grossvermögen, vor allem das Grossgrundvermögen, die beide unzweifelhaft die Schöpfung oder doch die unmittelbare Folge systemfremder Kräfte sind, nämlich ausserökonomischer Gewalt der Eroberung, [S. 447] der Unterwerfung, des gesetzwidrigen oder durch die Klassengesetzgebung erlaubten, von der Klassenjustiz und Klassenverwaltung geschützten Raubes. In einer Gesellschaft der vollen freien Konkurrenz hätte all das niemals geschehen und sich auswirken können: es ist ein evidenter Satz, den denn auch alle Autoritäten ohne Diskussion angenommen haben, dass es keine grobe, klassenbildende Ungleichheit des Einkommens und daher des Vermögens und der politischen Macht geben kann, bevor nicht alles Land besetzt und dem freien Siedler unzugänglich ist. Nur unterstellen Ricardo und seine Nachkommen, auch Marshall, stillschweigend, diese Vollbesetzung sei durch systemeigene Kräfte hervorgebracht worden: die Erde sei zu klein. Auch das gehört zu dem uneingestandenen Postulat und ist der handgreiflichste aller Irrtümer. Die Erde ist fast noch leer und hätte Raum für neue Hunderte von Millionen kleiner und mittlerer Bauernfamilien, wenn die Bodensperre aufgehoben werden könnte. Dann wäre die ganze Erde eine «freie Kolonie», und der Kapitalismus wäre überwunden. Das Normal-Nullniveau des Lohnes wäre dann nicht mehr das des Landproletariers, sondern das Einkommen des unverschuldeten Bauern auf ausreichender Scholle. Was Keynes (S.211) «die Verhandlungsposition des Arbeiters» nennt, hätte sich umstürzend verbessert.

K. ist der Meinung, dass unter den jetzt bestehenden «Systemen des inländischen laissez-faire und eines internationalen Goldstandards einer Regierung kein Mittel offenstand, die wirtschaftliche Not im Inland zu mildern, mit Ausnahme des Konkurrenzkampfes um Märkte» (S.322). Ich muss widersprechen. Eine kräftige Innenkolonisation würde es leisten. Wenn Roosevelt die ungeheuren Mittel, die der «New Deal» gekostet hat, nur zu einem beträchtlichen Teile dazu verwendet hätte, um sage eine halbe oder ganze Million selbstversorgender bäuerlicher Betriebe auf lumpigen 10 oder 20 oder sogar 40 Millionen acres einzurichten (die Farmfläche der Staaten beläuft sich auf rund 1000 Millionen acres), so wäre die Krisis sofort behoben gewesen. Die Industrie hätte mit voller Kraft und immer neuen Investitionen schaffen müssen, um Gebäude, Inventar und Mobiliar der neuen Bauern zu erzeugen, die erforderlichen Strassen und Kirchen zu bauen usw.; sie hätte deshalb sehr hohe Löhne zahlen müssen, aber bei solcher Prosperity auch können, die als vermehrte Nachfrage namentlich nach bäuerlichen Veredlungsprodukten auch deren Preise hoch genug getrieben hätten, um die Lage der Neubauern günstig zu gestalten. Es dürften freilich keine farmers des amerikanischen Stils sein, d.h. zugleich Bodenspekulanten und Agrarfabrikanten in Monokultur, sondern Bauern des europäischen, westkanadischen und niederkalifornischen Typus, die sich in Polykultur zunächst selbst versorgen und nur ihre Überschüsse zu Markte führen. Die Massnahme war mit zwei bis vier Milliarden Dollar durchzuführen, also nur einem Bruchteil des von Roosevelt ausgegebenen astronomischen Betrages - und dieses Geld wäre eine verzinsliche und goldsichere Anlage und kein Nettoverlust gewesen.

Es bleibt uns nur noch ein letztes zu tun, um das Lohnproblem völlig gelöst zu haben. Der historische Begriff «ausserökonomische Gewalt» ist für die ökonomische Deduktion unverwendbar. Er muss in einen ökonomischen Terminus umgeformt werden. Das ist einfach: die Gewalt hat im Grosseigentum, [S. 448] namentlich im Grossgrundeigentum, Monopole geschaffen. Als das ist es von Adam Smith unzweideutig bezeichnet und behandelt worden; er hat die Aufhebung des Grossgrundeigentums wie die aller anderen Monopole gefordert [12]. Zwischen dem Besitzenden und dem Arbeiter besteht jene «einseitige Dringlichkeit des Austauschbedürfnisses», die, wo sie besteht, ein Monopol begründet und den Monopolpreis erpresst, «den höchsten, der erpresst werden kann» (A. Smith, I, S.54). Er sagt ausdrücklich: «Ein Grundbesitzer, ein Pächter, ein Fabrikant, ein Kaufmann können gewöhnlich ein oder zwei Jahre von dem Kapital leben, das sie schon erworben haben, wenn sie auch nicht einen einzigen Arbeiter beschäftigen. Aber viele Arbeiter könnten nicht eine Woche, wenige könnten einen Monat und kaum einer könnte ein Jahr ohne Beschäftigung existieren. Auf die Länge mag der Arbeiter dem Unternehmer so nötig sein wie der Unternehmer ihm ist, aber die Notwendigkeit ist keine so unmittelbare. » (I, S.59.)

Hier besteht also ein Monopol von ungeheurer Wirkungskraft. Wo aber ein solches besteht, besteht keine freie Konkurrenz. Denn die beiden Begriffe schliessen einander aus, sie sind «disjunktiv».

Damit ist nun auch die einwandfreie, ökonomisch-theoretische Formel gefunden. Der Kapitalismus ist nicht das System der vollen freien Konkurrenz, wie das uneingestandene Postulat es will, sondern das System der durch übermächtige Monopole gefesselten unfreien Konkurrenz. Darum gibt es hier «freie Arbeiter», darum darf der industrielle Unternehmer den Betrieb nicht einschränken, wenn seine Gewinne zu sinken beginnen, und kann ihn erweitern.

b) Die Wirtschaftskrisen und der Imperialismus

Mit diesen Betrachtungen sind wir auf den tiefsten Urgrund der Irrtümer gelangt, die aus dem uneingestandenen Postulat entspringen. Die klassische Schule behandelte den Kapitalismus als ein geschlossenes System - denn nur in einem solchen kann von Statik die Rede sein. Aber er ist als geschlossenes System unvorstellbar.

Ein solches nämlich kann nur dort existieren, wo die gesamte Kaufkraft gleich der gesamten Produktivkraft ist. Das war in allen früheren Wirtschaftsperioden der Fall. auch in denen, wo die Unterklasse tributpflichtig war und einen bedeutenden Teil ihrer Arbeit bzw. ihrer Erzeugnisse an ihre Herren aus der Oberklasse abzutreten hatte. Denn der Sklavenhalter und der Feudalherr konnten und durften ihr ganzes Herreneinkommen konsumieren. Sie durften es, weil kein feindlicher Wettkampf sie zwang, grosse Teile ihres Einkommens immer neu in Produktionsmitteln zu investieren; und sie konnten es, weil das Produkt jener Wirtschaftsperioden kein Massenprodukt war, das ja nur an die Masse abgesetzt werden kann. Sie kauften kostbare Produkte des Kunsthandwerks und unterhielten zahlreiche Diener und Parasiten aller Art. Diese Systeme waren, wie sich gezeigt hat, politisch unmöglich, waren aber, vom wirtschaftlichen Standpunkt betrachtet, wohl möglich, weil die gesamte Kaufkraft von [S. 449] Unter- und Oberklasse zusammen das gesamte Produkt der gesellschaftlichen Arbeit aufnehmen konnte.

Die Kapitalistenklasse aber kann das Massenprodukt nicht konsumieren und darf es nicht, weil der feindliche Wettkampf sie zwingt, einen bedeutenden Teil ihres Einkommens immer neu in Produktionsmitteln für Massenprodukte zu investieren, so dass das Missverhältnis zwischen Produktivkraft und wirksamer Nachfrage immer krasser werden muss. Ein System der Massenproduktion, wie es der Kapitalismus ist, ist offenbar nur möglich, wenn das Arbeitseinkommen der Masse gross genug ist, um das Massenprodukt aufzunehmen, das die schmale Oberschicht selbst nicht aufnehmen kann - und ein solches System wäre zwar immer noch «hochtechnisch», aber nicht mehr «kapitalistisch». Es wäre die Wirtschaft und Verteilung der «freien Kolonie» auf viel höherer Stufe der technischen Entwicklung.

Solange aber das Monopol das Arbeitseinkommen der Masse niederhält, reicht ihre Kaufkraft nicht hin, um das eigene Produkt zurückzukaufen. Und so lange muss das Missverhältnis die beiden Erscheinungen hervorrufen, die die unfreiwillige Arbeitslosigkeit mit sich bringen: die Wirtschaftskrisen und den Imperialismus.

Solange man annimmt, dass die Unternehmer bei sinkenden Gewinnen ihre Produktion einschränken, ist die Erklärung der Krisen unmöglich. Darin hatte J. B. Say mit seiner seltsamen Doktrin recht. Von unserem Standpunkt aus ist die Erklärung sehr einfach. Bei der Art von feindlichem Wettkampf, den die industriellen Unternehmer der kapitalistischen Aera führen, wo sie gezwungen sind, das Haltezeichen der sinkenden Gewinne zu überfahren, muss unvermeidlich einmal ein grosser Zweig der Industrie mehr Waren herausbringen, als sein Sondermarkt zu Preisen aufnehmen kann, die die Selbstkosten, und seien es auch nur die «primären» Selbstkosten (Marshall, loc. cit. S.359), decken. Ein Teil der Unternehmer muss schliessen und seine Arbeiter entlassen, seine Nachfrage bei anderen Unternehmern einstellen. Dadurch sinkt schlagartig die Kaufkraft der Gesamtheit in Gestalt von Arbeitslöhnen und Unternehmereinkommen und unterschreitet die bisher angemessene und zu lohnenden Preisen absetzbare Produktion anderer Zweige - und die Verheerung, beschleunigt wie bei dem Fallgesetz, ergreift allmählich die ganze Wirtschaft. Wie K. richtig sieht, beginnt der Prozess, «mit einem plötzlichen Zusammenbruch der Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals», aber aus anderen als den von ihm angenommenen Gründen.

Schon hier, in rein nationaler Betrachtung, ist deutlich, wie die seltsame, unheimliche Erscheinung zustande kommt, auf die K. mit Recht so grosses Gewicht legt, dass die Krisen und die mit ihnen verbundene Arbeitslosigkeit um so schwerer auftreten, je produktivkräftiger und reicher das Gemeinwesen ist. Die Tatsache, dass der Kapitalismus als geschlossenes System unmöglich ist, muss selbstverständlich bei einem hochentwickelten Aufbau dieser Art mit schwereren Symptomen auftreten als bei einem weniger entwickelten.

Aber noch deutlicher wird dies, wenn wir die Weltwirtschaft im ganzen betrachten. Dann erkennen wir sofort, dass der Kapitalismus einzelner Länder [S. 450] überhaupt nur entstehen und sich entwickeln konnte, weil er seinen Warenüberschuss in noch nicht kapitalisierte Räume abstossen konnte. Man wende nicht ein, dass notorisch kapitalistische Länder die besten Abnehmer für Produkte anderer kapitalistischen Länder sind. Das wird zugegeben, hat aber mit der uns hier interessierenden Frage nicht das mindeste zu tun. Es handelt sich nicht um die an sich segensreiche internationale Arbeitsteilung und den internationalen Warentausch. Dieser kann das Defizit an Kaufkraft aus dem klaren Grunde nicht bedecken, weil das, was für fremdländische Waren ausgegeben wurde, nicht noch einmal für einheimische ausgegeben werden kann.

Sondern man muss begreifen, dass die kapitalistische Wirtschaft mit der Möglichkeit steht und fällt, ihren Warenüberschuss ins akapitalistische Ausland abzustossen, ohne dafür andere Waren hereinzunehmen. Das soll natürlich nicht heissen, dass sie sie verschenkt; sie zerstört ja lieber in «rentabler Destruktion» (Effertz) ungeheure Massen von Produkten, deren ihre eigenen Volksgenossen dringend bedürfen, statt sie ihnen umsonst zu geben. Nein, sie verkauft den Überschuss, aber nicht gegen Waren, sondern gegen Machtpositionen in Gestalt von fremden Staatsanleihen, Obligationen, Aktien usw. oder durch Erwerb von Grundeigentum, Fabriken, Bau von Strassen und Eisenbahnen, Gas-, Elektrizitäts- und Wasserwerken usw. in fremden Ländern, deren Dividenden und Zinsen den einheimischen Kapitalisten zufliessen.

Marshall, den man wohl als einen ökonomischen Candide bezeichnen darf, weil er «in der besten von allen möglichen Welten» zu leben glaubt, sieht in dieser Art von Transaktionen nur den Vorteil für die neuen Länder: «Die Hauptursache ihrer modernen Wohlfahrt liegt in den Märkten, die die alte Welt darbietet, nicht für Güter, die auf dem Fleck geliefert werden, sondern für Versprechungen, Güter in fernerer Zukunft zu liefern.» (Loc. cit. S.669.)

Aber das gerade ist der «Weltmarkt», um den die kapitalistischen Mächte mit allen ehrlichen und unehrlichen Mitteln kämpfen, als um den einzigen Weg der aus ihrer verzweifelten Lage herausführt; das ist Ursache und Grund des Imperialismus, der unsere Welt zu einem bewaffneten Lager macht, überall die greulichste Korruption verbreitet, und die potentiell reichsten Märkte, wie vor allem China, lieber zerstört als mit anderen teilt. Diese Art der Wirtschaft hat, vom Standpunkt der Kapitalisten aus gesehen, auch noch den doppelten Vorteil, dass ihr Staat zu unmässiger Rüstung gezwungen wird, d.h. ein Konsument ist, der einen immer ungeheureren Teil der Produktionskraft der Völker für seine Rüstung verbraucht und aus Steuern und Anleihen bezahlt, die die Volksmasse aufzubringen und zu verzinsen hat, ein vortreffliches Mittel, um sie zu verhindern, sich aus eigener Ersparnis die nötigen Produktionsmittel zu beschaffen und damit dem Kapitalismus ein Ende zu bereiten. Und es hat den zweiten Vorteil, in der bewaffneten Macht über ein Werkzeug zu verfügen, das jede Auflehnung gegen die «gottgewollten Abhängigkeiten» unmöglich macht.

Mit alledem scheint uns das Problem der unfreiwilligen Arbeitslosigkeit völlig gelöst zu sein.

Fussnoten
[1]
John Maynard Keynes, Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes. Ins Deutsche übersetzt von Fritz Waeger. München und Leipzig (Duncker & Humblot) 1936. XII und 344 Seiten.
[2]
Positive Theorie des Kapitals (1909), S.347ff., vgl. meine «Theorie» S.802ff.
[3]
«The difficult problem of the interaction of countless economic causes» (zahllose wirtschaftliche Ursachen). Marshall, Principles of Economics, 9. Auflage, S. 369.
[4]
«All production is followed by the consumption for which it was designed?» Marshall, Principles, S.524.
[5]
Vgl. meinen Aufsatz «Freiland, Freigeld» im 71. Jahrgang, 3. Heft dieser Zeitschrift.
[6]
The whole of the advantages and disadvantages of the different employments of labour and stock must, in the same neighbourhood, be either perfectly equal or continually tending to equality. Wealth of Nations, Every Man's Edition, London-New York, I, S. 88.
[7]
Vgl. dazu unser «System der Soziologie», IV, Band 3, «Stadt und Bürgerschaft», 5. und 6. Abschnitt.
[8]
System der Soziologie, IV, 3, Stadt und Bürgerschaft, S.1048 ff.
[9]
Adam Smith, loc. cit. I, S.127. Vgl. auch S.414.
[10]
Politische Geschichte der Französischen Revolution, Deutsch von Oppeln-Bronikowsky, Band I.
[11]
Vgl. mein. Aufsatz «Wahrheit und Irrtum bei Henry George» in dieser Zeitschrift (1937, 126 f.).
[12]
Vgl. unseren Aufsatz «Zur Geschichte der Bodenreform» in dieser Zeitschrift, Heft 3, 1936, 72. Jahrgang, S.418ff.