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III. Der Seestaat

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Aber der Seenomade hat Handel und Kaufmannschaft, Messen, Märkte und Städte nicht erfunden, sondern vorgefunden und nur seinen Interessen gemäß ausgestaltet. All das war im Dienste des ökonomischen Mittels, des äquivalenten Tausches, längst ausgebildet.

Zum ersten Male in unserer Betrachtung stoßen wir hier auf das ökonomische Mittel nicht als Ausbeutungsobjekt des politischen Mittels, sondern als mitschaffendes Subjekt bei der Entstehung des Staates, als die »Kette« sozusagen, die in den vom Feudalstaate geschaffenen »Aufzug« eingeht, um mit ihm ein reicher gewirktes Gebilde zu weben. Die Genesis des Seestaates würde nicht zur vollen Klarheit gelangen, wenn wir ihr nicht die Entwicklung des vorstaatlichen Marktverkehrs vorausschickten. Und mehr: es ist unmöglich, dem modernen Staat die Prognose zu stellen, wenn man nicht die Bildungen kennt, die das ökonomische Mittel im Tauschverkehr selbständig geschaffen hat.

a) Der vorstaatliche Handel

Die psychologische Erklärung des Tausches hat uns die Grenznutzentheorie gegeben: ihr größtes Verdienst. Danach wird die subjektive Wertschätzung eines wirtschaftlichen Gutes um so geringer, je mehr Stücke derselben Art sich im Besitz desselben Wirtschaftssubjektes befinden. Kommt dieses mit einem anderen Wirtschaftssubjekt zusammen, das eine Anzahl ebenfalls gleichartiger, aber von denen des ersten verschiedener, Güter besitzt, so werden sie gern tauschen - wenn die Anwendung des politischen Mittels sich verbietet, d.h. bei augenscheinlich gleicher Kraft und Bewaffnung oder, [S. 65] auf der allerfrühesten Stufe, innerhalb des Blutfriedenskreises. Beim Tausch erhält jeder ein Gut von sehr hohem subjektiven Wert gegen ein Gut von sehr geringem subjektiven Wert; beide gewinnen also.

Der Wunsch des Primitiven, zu tauschen, muß bei seiner kinderhaften Art, die das Besessene wenig achtet, das dem Fremden eigene aber mit heißer Leidenschaft begehrt und von rechnenden wirtschaftlichen Erwägungen kaum erheblich beeinflußt wird, naturgemäß noch viel stärkere Wirkungen auf ihn ausüben, als auf uns.

Im übrigen soll nicht verschwiegen werden, daß es eine Anzahl von Naturvölkern geben soll, die für den Tausch nicht das mindeste Verständnis haben. »Cook erzählt, daß es in Polynesien Völkerschaften gab, mit denen kein Verkehr angebahnt werden konnte, denn Geschenke machten nicht den geringsten Eindruck auf sie und wurden später weggeworfen; alles, was man ihnen vorzeigte, betrachteten sie mit Gleichgültigkeit, sie begehrten nicht das Geringste davon, und von ihren eigenen Sachen wollten sie als Entgelt nichts überlassen - kurz, sie hatten nicht den geringsten Begriff davon, was Handel und Tausch ist.« [1] Auch Westermarck ist der Meinung, daß »Tausch und Handel verhältnismäßig späte Erfindungen sind«. Gegen Peschel, der den Menschen schon auf seiner allerfrühesten uns zugänglichen Stufe tauschen läßt, bemerkt er, wir hätten keinen Beweis dafür, »daß die Höhlenbewohner von Périgord aus der Renntierperiode den Bergkristall, die atlantischen Muscheln und die Hörner der polnischen Saiga-Antilope auf dem Wege des Tausches erhalten haben« [2].

Trotz jener Ausnahmen, die auch andere Erklärungen zulassen mögen (vielleicht fürchteten die Eingeborenen Zauberei), beweist doch die Völkerkunde, daß die Lust zu Tausch und Handel eine allgemein menschliche Eigenschaft ist: natürlich kann sich dieser Trieb erst betätigen, wenn beim Zusammentreffen mit Fremden neue lockende Güter in den Gesichtskreis des Urmenschen treten; denn im Kreise der eigenen Blutsverwandten hat jeder dieselben Arten von Gütern und, bei dem naturwüchsigen Kommunismus, auch im Durchschnitt dieselbe Menge. [3]

[S. 66] Bei dem Zusammentreffen mit Fremden aber kann es zu gelegentlichem Tausch, der der Anfang alles regelmäßigen Handels sein muß, nur dann kommen, wenn dieses Zusammentreffen friedlich ist. Ist denn nun solches friedliche Zusammentreffen mit Fremden möglich? Steht nicht das ganze Leben der Urmenschen - wir sprechen hier von den Anfängen des Tauschverkehrs! - unter dem Zeichen: »homo homini lupus«?

In der Tat ist auch der Handel auf den höheren Stufen in der Regel von dem »politischen Mittel« stark beeinflußt. »Der Handel folgt im allgemeinen dem Raube.« [4] Aber seine ersten Anfänge sind doch vorwiegend dem ökonomischen Mittel zu danken, sind Ergebnis nicht des Kriegs-, sondern des Friedensverkehrs.

Die internationalen Beziehungen der primitiven Jäger untereinander dürfen nicht mit denen der Jäger und Hirten zu den Hackbauern oder der Hirten untereinander auf eine Stufe gestellt werden. Wohl gibt es Fehden aus Blutrache oder wegen Weiberraubes oder wohl auch wegen Grenzverletzung der Jagdgebiete: aber ihnen fehlt jener Stachel, der nur aus der Habgier wächst, aus dem Wunsch, fremde Arbeitserzeugnisse zu rauben. Darum sind die »Kriege« der primitiven Jäger in der Regel weniger wirkliche Kriege als Raufereien und Einzelkämpfe, die häufig genug sogar, unseren deutschen Studenten-Mensuren nicht unähnlich, nach einem bestimmten Zeremonial und nur bis zu einem leichteren Grade der Kampfunfähigkeit, sozusagen »auf einen Blutigen« gehen [5]. Diese an Kopfzahl sehr schwachen Stämme hüten sich mit Recht, mehr Opfer zu bringen als - z. B. im Falle der Blutrache - unerläßlich, und vor allem davor, neue Blutrache herauszufordern.

So sind denn auch unter diesen Stämmen und ebenso unter den primitiven Hackbauern, bei denen gleichfalls der Stachel des politischen Mittels fehlt, die friedlichen Beziehungen zu den Nachbarn gleicher Wirtschaftsstufe ungleich stärker als unter den Hirten. Wir kennen eine ganze Anzahl von Fällen, wo sie zur gemeinsamen Ausbeutung von Naturschätzen friedlich zusammenkommen. »Schon auf primitiven Kulturstufen sammeln sich größere Bevölkerungen [S. 67] zeitweilig an Stellen, wo nützliche Dinge in größeren Mengen vorkommen. Die Indianer eines großen Teiles von Amerika wallfahrten nach den Pfeifensteinlagern, andere versammeln sich alljährlich zur Ernte bei den Zizaniasümpfen der nordwestlichen Seen; die so zerstreut lebenden Australier des Barkugebietes kommen von allen Seiten zu Erntefesten bei den Sumpfbeeten körnertragender Marsiliaceen.« [6] »Wenn der Bunga-Bunga-Baum in Queensland seine mehlige Frucht reichlich trägt, ist der Vorrat größer, als der Stamm verbrauchen kann, und fremden Stämmen wird gestattet, davon mitzuessen.« [7] »Mehrere Stämme einigen sich über den gemeinsamen Besitz bestimmter Striche, auch über den an Phonolithbrüchen für die Beile.« [8] Wir hören auch von gemeinsamen Beratungen und Gerichtssitzungen der Ältesten mehrerer australischer Stämme, bei denen die ganze übrige Bevölkerung die Korona, den »Umstand« der germanischen Thingordnung, bildet [9].

Es ist nur natürlich, daß sich bei solchen Zusammenkünften ein Tauschverkehr einstellt, und vielleicht sind die »Wochenmärkte, die von den Negervölkern Zentralafrikas mitten im Urwald unter besonderem Friedensschutz abgehalten werden« [10], derart entstanden, und ebenso die großen Messen der Polarjäger, der Tschuktschen usw., die uralt sein sollen.

Alle diese Dinge setzen die Ausbildung friedlicher Verkehrsformen zwischen benachbarten Gruppen voraus. Und solche Formen finden wir denn auch fast überall. Sie konnten auf der hier betrachteten Stufe leicht entstehen; denn noch ist die Entdeckung nicht gemacht, daß der Mensch als Arbeitsmotor dienen kann, und darum wird der Blutsfremde nur »in dubio« als Feind betrachtet. Kommt er in augenscheinlich friedlicher Absicht, so wird er auch friedlich empfangen. Und es hat sich ein ganzer Kodex von völkerrechtlichen Zeremonien herausgebildet, die dazu bestimmt sind, die Friedfertigkeit des Ankömmlings zu erweisen [11]. Man stellt die Waffen fort [S. 68] und zeigt die wehrlose Hand; man sendet Parlamentäre voran, die überall unverletzlich sind [12].

Es ist klar, daß diese Formen eine Art von Gastrecht darstellen, und in der Tat wird der friedliche Handel durch das Gastrecht erst ermöglicht, und der Austausch von Gastgeschenken scheint den eigentlichen Tauschhandel einzuleiten. Aus welchen seelischen Wurzeln wächst nun das Gastrecht?

Nach Westermarck in seinem monumentalen Werke: »Ursprung und Entwicklung der Moralbegriffe« [13] beruht die Sitte der Gastfreundschaft außer auf der Neugier, die von dem weither Kommenden Nachrichten zu empfangen hofft, vor allem auch auf der Furcht vor etwaigen Zauberkräften des Fremden, die ihm eben als einem Fremden zugetraut werden [14]. (Noch in der Bibel wird die Gastfreundschaft mit der Begründung empfohlen, daß man nie wissen könne, ob der Fremde nicht ein Engel sei.) Das abergläubische Geschlecht fürchtet seinen Fluch (die Erinnys der Griechen) und beeilt sich, ihn günstig zu stimmen. Ist er als Gast aufgenommen, so ist er unverletzlich und genießt das Friedensrecht der Blutsgruppe mit, als deren Angehöriger er während seines Aufenthaltes gilt; und so ergreift ihn auch der urwüchsige Kommunismus des Besitzes, der hier herrscht. Der Wirt fordert und erhält, was ihm ansteht, und gibt dafür dem Gast, was er begehrt. Wird der friedliche Verkehr häufiger, so kann sich aus dem gegenseitigen Gastgeschenk allmählich ein Handel entwickeln, weil der Kaufmann gern dorthin zurückkehrt, wo er gute Aufnahme und vorteilhaften Tausch fand und das Gastrecht schon besitzt, das er anderwärts erst, vielleicht unter Lebensgefahr, erwerben muß.

[S. 69] Voraussetzung für die Ausbildung eines regelmäßigen Warenhandels ist natürlich die Existenz einer »internationalen« Arbeitsteilung. Und solche besteht auch früher und in größerer Ausdehnung, als man im allgemeinen anzunehmen geneigt ist. »Es ist ganz falsch, anzunehmen, daß die Arbeitsteilung erst auf einer höheren Stufe der wirtschaftlichen Entwicklung eintrete. Innerafrika hat seine Dörfer von Eisenschmieden, ja von solchen, die nur Wurfmesser anfertigen; Neuguinea seine Töpferdörfer, Nordamerika seine Pfeilspitzenverfertiger.« [15] Aus solchen Spezialitäten entwickelt sich ein Handel, sei es durch hausierende Kaufleute, sei es durch Gastgeschenke oder Friedensgeschenke von Volk zu Volk. In Nordamerika handeln die Kaddu mit Bögen; »Obsidian ward überall zu Pfeilspitzen und Messern verwandt: am Yellowstone, am Snake River, in Neumexiko, vor allem aber in Mexiko. Dann verbreitete sich der kostbare Stoff über das ganze Land bis nach Ohio und Tennessee: ein Weg von fast 3000 km.« [16]

Entsprechend berichtet Vierkandt: »Aus der geschlossenen Hauswirtschaft der Naturvölker ergibt sich eine von den modernen Verhältnissen völlig abweichende Art des Handels bei ihnen (...) Jeder einzelne Stamm hat gewisse besondere Fertigkeiten entwickelt, die zu einem Austausche Anlaß geben. Selbst bei den verhältnismäßig tiefstehenden Indianerstämmen Südamerikas finden wir bereits derartige Verschiedenheiten. (...) Durch einen derartigen Handel können Produkte außerordentlich weit verbreitet werden, aber nicht auf direktem Wege durch gewerbsmäßige Händler, sondern durch allmähliche Verbreitung von einem Stamm zum anderen. Der Ursprung eines solchen Handels ist, wie Bücher ausgeführt hat, auf den Austausch von Gastgeschenken zurückzuführen.« [17]

Außer aus den Gastgeschenken kann sich ein Handel aus den Friedensgeschenken entwickeln, die sich die Gegner nach einem Zusammenstoß als Zeichen der Versöhnung überreichen [18]. »Waren Völker«, so berichtet Sartorius über Polynesien, »von verschiedenen [S. 70] Inseln aufeinandergestoßen, so konnten die Friedensgaben für jeden etwas Neues sein, und wenn dann Geschenk und Gegengeschenk beiden gefielen, so wiederholte man dieselben und war auch hier bei dem Gütertausch angelangt. Aber im Gegensatz zu den Gastgeschenken war hier die Voraussetzung eines dauernden Verkehrs gegeben. Es hatte nicht die Berührung von Individuen, sondern von Stämmen, von Völkern stattgefunden. Dabei sind die Frauen das erste Objekt des Austausches: sie bilden das Bindeglied zwischen den fremden Stämmen und zwar werden sie - wie viele Quellen beweisen - gegen Vieh ausgetauscht.« [19]

Wir stoßen hier auf ein Objekt des Austausches, das auch ohne »internationale Arbeitsteilung« tauschbar ist. Und es scheint sogar, als wenn vielfach der Frauentausch dem Gütertausch die Wege geebnet habe, als wenn er der erste Schritt zur friedlichen Integration der Völker gewesen sei, die neben der kriegerischen durch die Staatsbildung einhergeht.

Lippert [20] glaubt freilich, noch älter sei der friedliche Feuertausch. Da er aber die gewiß sehr alte Sitte nur aus Kult- und Rechts-Rudimenten erschließen kann, während sie unserer unmittelbaren Beobachtung nicht mehr zugänglich ist, wollen wir hier davon absehen.

Dagegen ist der Frauentausch eine überall beobachtete Erscheinung, und zweifellos muß man ihm eine außerordentlich starke Einwirkung auf die Ausgestaltung des friedlichen Verkehrs zwischen benachbarten Stämmen und die Vorbereitung des Gütertausches beimessen. Die Sage von den Sabinerinnen, die sich zwischen ihre zum Kampf antretenden Brüder und Gatten werfen, muß im Laufe der Entwicklung des Menschengeschlechtes tausendfach Wahrheit gewesen sein. Überall fast gilt die Verwandtenehe als Frevel, als »Blutschande«, aus Gründen, denen wir hier nicht nachgehen können [21]; überall richtet sich der Geschlechtstrieb auf die Frauen der Nachbarn, und ist der Weiberraub ein Teil der ersten zwischenstammlichen Beziehungen; und fast überall, wo nicht starke Rassengefühle entgegenwirken, wird der Raub allmählich durch Tausch und Kauf abgelöst: ist doch die eigene Blutsverwandte dem Mann als Substrat [S. 71] des Geschlechtsverkehrs von ebenso geringem subjektiven Wert wie die Fremde von hohem!

Die so geknüpften Beziehungen werden nun, wenn Arbeitsteilung überhaupt den Gütertausch ermöglichte, diesem nutzbar gemacht; die exogamischen Gruppen treten in ein im regelmäßigen Verlauf friedliches Verhältnis ein. Der Friede, der die Blutsverwandtschaftshorde umhegt, erstreckt sich fortan über einen weiteren Kreis. Ein einziges Beispiel aus unzähligen: »Jeder der beiden Kamerunstämme hat seine eigenen »bush countries«, Ortschaften, mit denen seine Leute Handel treiben, und wo sie durch gegenseitige Verheiratungen Verwandtschaft besitzen. So wird die Exogamie auch hier völkerverbindend.« [22]

Das sind die Hauptlinien der Entfaltung des friedlichen Tauschverkehrs: aus dem Gastrecht und dem Frauentausch, vielleicht auch dem Feuertausch, zum Gütertausch. Fügen wir noch hinzu, daß die Märkte und Messen, vielfach auch die Händler, wie wir schon mehrfach anmerkten, sehr oft, fast regelmäßig, als unter dem Schutze einer den Frieden schützenden und den Friedensbruch rächenden Gottheit stehend betrachtet werden: und wir haben die Grundzüge dieser überaus wichtigen soziologischen Erscheinung bis zu dem Punkte geführt, wo das politische Mittel störend, umformend, weiterführend in die Schöpfungen des ökonomischen Mittels eingreift.

b) Der Handel und der primitive Staat

Der Räuberkrieger hat zwei wichtige Gründe, solche Märkte und Messen, die er in seinem mit dem Schwerte erworbenen Einflußgebiete vorfindet, pfleglich zu behandeln.

Der eine, außerwirtschaftliche, ist der, daß auch er die abergläubische Furcht vor der den Friedensbruch rächenden Gottheit empfindet. Der andere, wirtschaftliche, und wahrscheinlich mächtigere, ist der - ich glaube, hier zum erstenmal auf diesen Zusammenhang hinzuweisen -, daß er selbst des Marktes nicht wohl entraten kann.

Seine Beute enthält auf primitiver Stufe viele Güter, die sich für seinen unmittelbaren Verzehr und Gebrauch nicht eignen. Er hat [S. 72] Güter nur von wenigen Arten, von diesen aber so viele Exemplare, daß der »Grenznutzen« jedes einzelnen für ihn sehr gering ist. Das gilt vor allem für den wichtigsten Erwerb des politischen Mittels, für die Sklaven. Um zunächst vom Hirten zu sprechen, so ist sein Sklavenbedarf durch die Größe seiner Herde begrenzt: er ist durchaus geneigt, den Überschuß gegen andere Güter einzutauschen, die für ihn von Wert sind: Salz, Schmuck, Waffen, Metalle, Webestoffe, Geräte usw. Darum ist der Hirt nicht nur immer auch Räuber, sondern fast immer auch Kaufmann, Händler, und schützt den Handel. [23]

Er schützt den Handel, der zu ihm kommt, um ihm seine Beute gegen Güter eines fremden Kulturkreises abzutauschen: von jeher haben die Nomaden die ihre Steppen oder Wüsten durchziehenden Karawanen gegen Schutzgeld geleitet; und er schützt den Handel auch an den schon vor der Staatsentstehung von ihm eingenommenen Plätzen. Ganz die gleichen Erwägungen, die den Hirten dazu brachten, vom Bären- zum Imkerstadium überzugehen, müssen ihn veranlaßt haben, alte Märkte und Messen zu erhalten und zu schützen. Eine einmalige Plünderung heißt auch hier die Henne schlachten, die die goldenen Eier legt; viel vorteilhafter ist es, den Markt zu erhalten, seinen Frieden eher noch zu befestigen, und außer dem Vorteil des Eintausches fremder Güter gegen Beute auch noch das Schutzgeld, die Herrensteuer, zu empfangen. Daher haben überall die Fürsten des Eroberungsstaates aller Stufen die Märkte, Straßen und Kaufleute unter ihren besonderen Schutz und »Königsfrieden« genommen, oft genug sogar sich das Monopol des Fremdhandels vorbehalten. Wir sehen sie ebenfalls überall eifrig beschäftigt, durch Verleihung von Schutz und Rechten neue Märkte und Städte ins Leben zu rufen.

Dieses Interesse am Marktwesen läßt es auch durchaus glaublich erscheinen, daß Hirtenstämme vorhandene Märkte ihres Einflußgebietes so weit respektierten, daß sie ihnen mit jeder Betätigung des politischen Mittels völlig fernblieben, nicht einmal die »Herrschaft« über sie einrichteten. Was Herodot erstaunt von dem geweihten Markte der Argippäer im gesetzlosen Lande der skythischen Hirten berichtet, daß ihre waffenlosen Einwohner wirksam durch den heiligen Frieden ihrer Marktstätte geschützt waren, ist an sich wohl glaublich und wird durch manche ähnliche Erscheinung noch glaublicher: [S. 73] »Kein Mensch tut diesen ein Leid an, denn sie gelten für heilig; auch haben sie gar keine kriegerischen Waffen; dabei sind sie es, welche die Streitigkeiten der Nachbarn schlichten, und wer zu ihnen als Flüchtling entkommen ist, dem tut niemand etwas zu leide.« [24] Ähnliches findet sich häufig: »Das alles ist immer wieder dieselbe Argippäergeschichte, die Geschichte von dem »heiligen«, »gerechten«, »waffenlosen« handeltreibenden und streitschlichtenden Stämmchen inmitten einer beduinenhaft nomadischen Bevölkerung.« [25] Als ein Beispiel viel höherer Stufe sei Cäre genannt, dessen Einwohner nach Strabon »bei den Hellenen wegen ihrer Tapferkeit und Gerechtigkeit viel galten, und weil sie, so mächtig sie waren, des Raubes sich enthielten«. Mommsen, der die Stelle anführt, fügt hinzu: »Nicht der Seeraub ist gemeint, den der cäritische Kaufmann wie jeder andere sich gestattet haben wird, sondern Cäre war eine Art von Freihafen für die Phönizier wie für die Griechen.« [26]

Cäre ist nicht, wie der Markt der Argippäer, ein Markt des Binnenlandes im Landnomadengebiet, sondern ein befriedeter Hafen im Seenomadengebiet. Wir stoßen hier auf eine der typischen Bildungen, die in ihrer Bedeutung m. E. bisher nicht nach Gebühr eingeschätzt sind. Sie haben, wie mir scheint, auf die Entstehung der Seestaaten einen mächtigen Einfluß ausgeübt.

Die inneren Gründe nämlich, aus denen wir die Landnomaden zum Handel und, wenn nicht zur Marktgründung, so doch zur Marktschonung kommen sahen, mußten mit noch vermehrter Kraft die Seenomaden zu dem gleichen Verhalten zwingen. Denn der Transport der Beute, namentlich Herden und Sklaven, der auf den Wüsten- und Steppenpfaden schwierig und - wegen der Langsamkeit der Fortbewegung, die eine Verfolgung erleichtert - auch gefährlich ist, ist im Kriegskanoe und »Drachen« leicht und gefahrlos. Darum ist der Wiking in noch ganz anderem Grade Kaufmann und Marktbesucher als der Hirt. »Krieg, Handel und Piraterie, dreieinig sind sie, nicht zu trennen«, heißt es im »Faust«.

c) Die Entstehung des Seestaates

[S. 74] Auf diesen Handel mit der Beute des Seeraubes ist, glaube ich, in vielen Fällen die Entstehung derjenigen Städte zurückzuführen, um die als ihre politischen Vororte sich die Stadtstaaten der »alten Geschichte«, d.h. der mittelländischen Kultur, auswuchsen; in sehr vielen anderen Fällen hat der gleiche Handel mitgewirkt, um sie zum gleichen Ziel der politischen Ausgestaltung zu führen.

Man wird die Entstehung dieser Markthäfen im allgemeinen auf zwei Typen zurückführen können: sie erwuchsen entweder als Seeräuberburgen unmittelbar durch feindliche Festsetzung an einer fremden Küste oder als »Kaufmannskolonien«, die auf Grund friedlichen Vertrages in Häfen fremder primitiver oder entfalteter Feudalstaaten zugelassen waren.

Für den ersten Typus, der dem vierten Stadium unseres Schemas genau entspricht, für die Festsetzung einer bewaffneten Piratenkolonie also an einem kommerziell günstigen und strategisch verteidigungsfähigen Punkt der Küste in fremdem Gebiet, haben wir eine Anzahl wichtiger Beispiele aus der antiken Geschichte. Das bedeutsamste ist Karthago; und eine ganze Kette gleicher Seeburgen legten die hellenischen Seenomaden, Ionier, Dorer, Achäer, am Schwarzen und am Marmarameer, an der adriatischen und tyrrhenischen Küste Süditaliens, auf den Inseln dieser Meere und an den Golfen Südfrankreichs an. Phönizier, Etrusker [27], Hellenen, nach neueren Forschungen angeblich auch die Karer, haben rund um das Mittelmeer nach demselben Typus ihre »Staaten« gegründet, mit ganz derselben Ständegliederung in Herren und fronende Ackerer der Nachbarschaft [28].

[S. 75] Einige dieser Küstenstaaten haben sich zu Feudalstaaten von genau dem Typus der Landstaaten ausgewachsen: die Herrenklasse wurde eine Grundbesitzeraristokratie. Maßgebend dafür waren erstens geographische Verhältnisse: der Mangel an guten Häfen, ein weites, von friedlichen Bauern besiedeltes Hinterland; und dann wohl auch die aus der Heimat mitgebrachte ständische Organisation. Flüchtige Edelinge waren es, Besiegte innerer Fehden, oder jüngere Söhne, zuweilen ein ganzer »heiliger Frühling«, die »auf den Wiking« zogen: waren sie schon daheim als Landjunker erzogen, so suchten sie auch in der Fremde wieder »Land und Leute«. Die Besetzung Englands durch die Angelsachsen und Süditaliens durch die Normannen sind solche Fälle, ebenso die spanisch-portugiesische Kolonisation von Mexiko und Südamerika. Weitere, sehr wichtige Beispiele für diese Bildung von Landfeudalstaaten durch Seenomaden sind die achäischen Kolonien Großgriechenlands: »Dieser achäische Städtebund war eine eigentliche Kolonisation. Die Städte waren ohne Häfen - nur Kroton besaß eine leidliche Reede - und ohne Eigenhandel; der Sybarite rühmte sich, zu ergrauen zwischen den Brücken seiner Lagunenstadt, und Kauf und Verkauf besorgten ihm Milesier und Etrusker. Dagegen besaßen die Griechen hier nicht nur den Küstensaum, sondern herrschten von Meer zu Meer (...); die eingeborene ackerbauende Bevölkerung mußte in Klientel oder gar in Leibeigenschaft ihnen wirtschaften und zinsen.« [29] Ähnlich werden die meisten dorischen Kolonien in Kreta organisiert gewesen sein.

Doch, mögen diese »Landstaaten« häufiger oder seltener gewesen sein, für den Verlauf der Universalgeschichte erlangten nicht sie Bedeutung, sondern diejenigen Seestädte, die ihr Schwergewicht auf Handel und Kaperwesen verlegten. Mommsen stellt den achäischen Landjunkern die »königlichen Kaufleute« der übrigen hellenischen Kolonien in Süditalien scharf und glücklich gegenüber: »Auch sie verschmähten den Ackerbau und Landgewinn keineswegs; es war nicht die Weise der Hellenen, wenigstens seit sie zu ihrer Kraft gekommen waren, sich im Barbarenland nach phönizischer Art an einer befestigten Faktorei genügen zu lassen. Aber wohl waren diese [S. 76] Städte zunächst und vor allem des Handels wegen gegründet, und darum denn auch, ganz abweichend von den achäischen, durchgängig an den besten Häfen und Landungsplätzen angelegt.« [30] Wir dürfen wohl annehmen - für die ionischen Kolonien ist es sicher -, daß hier die Städtegründer nicht Landjunker, sondern schon seefahrende Kaufleute gewesen sein werden.

Aber solche Seestaaten oder Seestädte eigentlichen Sinnes entstanden nicht nur durch kriegerische Eroberung, sondern auch aus friedlichen Anfängen durch eine mehr oder weniger gemischte »pénétration pacifique«.

Wo die Wikinge nämlich nicht auf friedliche Bauern, sondern auf wehrhafte Staaten der primitiven Stufe stießen, nahmen und boten sie Frieden und ließen sich als Kaufmannskolonien nieder.

Wir kennen solche Fälle aus aller Welt, in Häfen und Landmärkten. Uns am nächsten stehen die Niederlassungen der norddeutschen Kaufleute in den Nord- und Ostseeländern: der Stahlhof in London, die Hansa in Schweden und Norwegen, auf Schonen und in Rußland: Nowgorod. In Wilna, der Hauptstadt der litauischen Großfürsten, befand sich eine solche Kolonie, und der Fondaco dei Tedeschi in Venedig ist auch ein Beispiel dafür. Fast überall sitzen die Fremden in geschlossener Masse, mit eigenem Recht und unter eigener Gerichtsbarkeit, und sehr oft erlangen sie großen politischen Einfluß, der sich häufig bis zur Herrschaft über den Staat steigert. Man glaubt, eine zeitgenössische Schilderung der phönizischen oder hellenischen Invasion der Mittelmeerländer etwa aus dem Anfang des ersten Jahrtausends vor Christi zu hören, wenn man die folgende Mitteilung Ratzels von den Küstenländern und Inseln des Indischen Ozeans liest: »Ganze Völkerschaften sind durch den Handel gleichsam verflüssigt, so vor allem die sprichwörtlich geschickten, eifrigen, allgegenwärtigen Malaien sumatranischer Abkunft und die ebenso gewandten wie verräterischen Bugi von Celebes, die von Singapur bis Neu-Guinea auf keinem Platz fehlen und neuerdings besonders in Borneo auf Aufforderung einheimischer Fürsten in Massen eingewandert sind. Ihr Einfluß ist so stark, daß man ihnen gestattet, sich nach ihren eigenen Gesetzen zu regieren, und sie fühlen sich so stark, daß es an Versuchen, sich unabhängig zu stellen, bei ihnen nicht gefehlt hat. Die Atchinesen nahmen ehemals eine ähnliche Stellung ein: [S. 77] nach dem Sinken des von sumatranischen Malaien zum Emporium gemachten Malakka war einige Jahrzehnte lang in der weltgeschichtlichen Wendezeit um den Beginn des 17. Jahrhunderts Atchin die lebhafteste Reede dieses fernen Ostens.« [31] Einige andere Beispiele, aus zahllosen herausgegriffen, mögen folgen, um die allgemeine Verbreitung dieser Siedelform zu zeigen: »In Urga, wo sie politisch dominieren, sind die Kaufleute in eine besondere Chinesenstadt zusammengedrängt.« [32] In den israelitischen Staaten befanden sich »kleine Kolonien von fremden Kaufleuten und Handwerkern, denen man bestimmte Viertel der Städte überließ, wo sie, unter dem Schutz des Königs stehend, nach ihren eigenen religiösen Sitten leben konnten«, vgl. l. Kg. 20, 34. [33] »Der ephraimitische König Omri sah sich durch die kriegerischen Erfolge seines Gegners, des damaszenischen Königs, gezwungen, den aramäischen Kaufleuten gewisse Teile der Stadt Samaria zu überlassen, wo sie unter königlichem Schutz Handel treiben konnten. Als später das Kriegsglück seinem Nachfolger Ahab günstig war, verlangte dieser vom aramäischen Könige dasselbe Vorrecht für die ephraimitischen Kaufleute in Damaskus.« [34] »Überall standen die Italiker zusammen als festgeschlossene und organisierte Massen, die Soldaten in ihren Legionen, die Kaufleute jeder größeren Stadt als eigene Gesellschaften, die in dem einzelnen provinzialen Gerichtssprengel domizilierten oder verweilenden römischen Bürger als »Kreise« (conventus civium Romanorum) mit ihrer eigenen Geschwornenliste und gewissermaßen mit Gemeindeverfassung.« [35] Wir wollen noch an die Ghetti der Juden erinnern, die vor den großen Judenverfolgungen des Mittelalters nichts anderes waren als solche geschlossenen Kaufmannskolonien; und wollen darauf aufmerksam machen, daß auch heute noch die europäischen Kaufleute in den Küstenstädten stärkerer exotischer Reiche ganz ähnliche »conventus« mit eigener Verfassung und (Konsular-) Gerichtsbarkeit bilden; China muß das noch heute dulden, ebenso Marokko usw., während Japan und die Türkei erst kürzlich diese diminutio capitis haben abschütteln können.

[S. 78] Für unsere Betrachtung ist an diesen Kolonien das Interessanteste, daß sie überall die Tendenz haben, ihren politischen Einfluß bis zur vollen Herrschaft auszudehnen. Das hat nichts Erstaunliches. Die Kaufleute haben einen Reichtum an beweglichen Gütern, der durchaus geeignet ist, in den politischen Wirren, denen alle Eroberungsstaaten fortwährend ausgesetzt sind, entscheidend einzuwirken, sei es bei internationalen Fehden zwischen zwei Nachbarstaaten, sei es bei innerstaatlichen Kämpfen, z. B. um die Thronfolge. Dazu kommt, daß hinter den Kolonisten häufig die starke Macht ihres Muttervolkes steht, auf die sie sich verlassen können, weil verwandtschaftliche Bande und ungemein starke kommerzielle Interessen sie verbinden, und daß sie selbst in ihrem krieggewöhnten Schiffsvolk und ihren zahlreichen Sklaven häufig eine für die kleinen Verhältnisse bedeutende Eigenmacht ins Feld stellen können. Die folgende Schilderung der Rolle, die arabische Kaufleute in Ostafrika gespielt haben, scheint mir einen bisher viel zu wenig beachteten geschichtlichen Typus darzustellen:

»Als Speke 1857 als erster Europäer diesen Weg machte, waren die Araber Kaufleute, die als Fremde im Lande wohnten; als er 1861 denselben Weg zum zweitenmal betrat, glichen die Araber schon großen Gutsherren mit reichem Landbesitz und führten Krieg mit dem angestammten Herrscher des Landes. Dieser Prozeß, der sich ja auch in manchen anderen Ländern Innerafrikas wiederholt hat, ergibt sich mit Notwendigkeit aus den Verhältnissen. Die fremden Kaufleute, Araber und Suaheli, bitten um die Erlaubnis des Durchzuges, wofür sie zollen, gründen Warenlager, die den Häuptlingen genehm sind, weil sie ihrer Erpressungssucht und Eitelkeit zugute zu kommen scheinen, bereichern sich dann und erwerben Verbindungen, machen sich hierdurch verdächtig, werden gedrückt und verfolgt, weigern sich, die mit dem Wohlstand gestiegenen Zölle und Steuern zu zahlen; endlich ergreifen die Araber bei einem der unvermeidlichen Thronstreite Partei für einen Prätendenten, der ihnen fügsam zu sein verspricht, und werden dadurch in die inneren Streitigkeiten des Landes gezogen und in oft endlose Kriege verwickelt.« [36]

Diese politische Tätigkeit der kaufmännischen Metöken ist ein immer wiederkehrender Typus. »Auf Borneo erwuchsen aus den [S. 79] Ansiedlungen chinesischer Goldgräber eigene Reiche.« [37] Und die ganze europäische Kolonisationsgeschichte ist eigentlich nur eine einzige Reihe von Beispielen für das Gesetz, das bei irgend überlegener Macht der Fremden aus Faktoreien und größeren Niederlassungen Herrschaft entstehen läßt, wenn sie nicht dem ersten Typus der einfachen Piraterie näherstehen, wie die spanisch-portugiesische Konquista und die Eroberungen der ostindischen Kompagnien, der englischen so gut wie der holländischen. »Es liegt ein Raubstaat an der See, zwischen dem Rheine und der Schelde«, klagt Multatuli sein Vaterland an. Alle ostasiatischen, amerikanischen und afrikanischen Kolonien aller europäischen Völker sind nach einem der beiden Typen entstanden.

Nicht immer kommt es zur unbedingten Herrschaft der Fremden. Zuweilen ist der Gaststaat zu stark, und sie bleiben politisch ohnmächtige Schutzgäste: so z. B. die Deutschen in England. Zuweilen erstarkt der schon unterworfene Gaststaat so sehr, daß es ihm gelingt, die Fremdherrschaft abzuschütteln: so z.B. verjagte Schweden die Hansa, die ihm schon die Herrschaft auferlegt hatte. Zuweilen kommt ein stärkerer Eroberer über Kaufmannskolonie und Gaststaat und unterwirft beide: so z.B. machten die Russen den Republiken von Nowgorod und Pskow ein Ende. Häufig aber verschmelzen die fremden Reichen mit den einheimischen Edlen zu einer Herrenklasse, nach dem Typus, den wir auch bei der Landstaatenbildung dort auftreten sahen, wo zwei ungefähr gleich starke Herrengruppen zusammenstießen. Und dieser letztgenannte Fall scheint mir für die Genesis der wichtigsten Stadtstaaten des Altertums, für die griechischen Seestädte und für Rom, die wahrscheinlichste Annahme.

Wir kennen die griechische Geschichte, um mit Kurt Breysig zu reden, nur von ihrem »Mittelalter«, die römische gar nur von ihrer »Neuzeit« an. Auf das, was vorher liegt, dürfen wir nur mit äußerster Vorsicht Analogieschlüsse wagen. Es will mir aber scheinen, als seien Tatsachen genug verbürgt, die den Schluß zulassen, daß Athen, Korinth, Mykene, Rom usw. nach der hier geschilderten Weise zu Staaten geworden sind, selbst wenn die uns bekannten Daten aus aller bekannten Völkerkunde und Geschichte nicht von solcher Allgemeingültigkeit wären, daß sie den Schluß an sich gestatteten.

Wir wissen genau aus Ortsnamen (Salamis: Insel des Friedens = Marktinsel), [S. 80]aus Heroennamen, aus Baudenkmälern und aus unmittelbarer Überlieferung, daß in vielen griechischen Hafenstädten phönikische Faktoreien bestanden, deren Hinterland von kleinen Feudalstaaten der typischen Gliederung in Edelinge, Freie und Sklaven eingenommen war. Mögen einzelne phönikische, vielleicht auch einige der noch ziemlich rätselhaften karischen Kaufleute in das Konnubium der Edlen aufgenommen worden und zu Vollbürgern oder gar zu Fürsten geworden sein oder nicht -, daß die Ausbildung dieser Stadtstaaten durch die fremden Einflüsse mächtig gefördert wurde, kann gar nicht ernsthaft bestritten werden.

Dasselbe gilt von Rom. Hören wir, was ein so vorsichtiger Autor wie Mommsen darüber sagt:

»Daß Rom, wenn nicht seine Entstehung, doch seine Bedeutung diesen kommerziellen und strategischen Verhältnissen verdankt, davon begegnen denn auch weiter zahlreiche Spuren, die von ganz anderem Gewicht sind, als die Angaben historisierter Noveletten. Daher rühren die uralten Beziehungen zu Cäre, das für Etrurien war, was für Latium Rom, und denn auch dessen nächster Nachbar und Handelsfreund wurde; daher die ungemeine Bedeutung der Tiberbrücke und des Brückenbaues überhaupt in dem römischen Gemeinwesen; daher die Galeere als städtisches Wappen. Daher der uralte römische Hafenzoll, dem von Haus aus nur unterlag, was zum Feilbieten (promercale), nicht was zu eigenem Bedarf des Verladers (usuarium) in dem Hafen von Ostia einging, und der also recht eigentlich eine Auflage auf den Handel war. Daher, um vorzugreifen, das verhältnismäßige frühe Vorkommen des gemünzten Geldes, der Handelsverträge mit überseeischen Staaten in Rom. In diesem Sinne mag denn Rom allerdings, wie auch die Sage annimmt, mehr eine geschaffene als eine gewordene Stadt und unter den latinischen eher die jüngste als die älteste sein.« [38]

Es wäre Gegenstand einer ein Leben erfüllenden historischen Untersuchung, die hier angedeuteten Möglichkeiten, oder besser, Wahrscheinlichkeiten zu prüfen und daraus auf die Verfassungsgeschichte dieser überaus wichtigen Stadtstaaten die - sehr notwendigen - Schlüsse zu ziehen. Mir scheint, als wäre auf diesem Wege über manche noch sehr dunkle Frage Licht zu gewinnen, wie über die [S. 81] etruskische Herrschaft in Rom, über den Ursprung der reichen Plebejerfamilien, über die athenischen Metöken und vieles andere.

Hier können wir nur den einen Faden verfolgen, der uns durch das Labyrinth der historischen Überlieferung zum Tore zu leiten verspricht.

d) Wesen und Ausgang des Seestaates

All diese Staaten, mögen sie nun entstanden sein aus Seeräuberburgen, aus Häfen an der Küste des Gebietes seßhaft gewordener Landnomaden, die dann spontan zu Wikingern wurden, aus Kaufmannskolonien, die zur Herrschaft kamen, oder aus Kaufmannskolonien, die mit der herrschenden Gruppe des Gastvolkes verschmolzen, - sie alle sind echte »Staaten« im soziologischen Sinne. Sie sind nichts anderes als die Organisation des politischen Mittels, ihre Form ist die Herrschaft, ihr Inhalt die ökonomische Ausbeutung der Untertanen durch die Herrengruppe.

Grundsätzlich unterscheiden sie sich also in keinem wichtigen Punkte von den durch Landnomaden gegründeten Staaten. Aber dennoch haben sie aus inneren und äußeren Gründen andere Formen angenommen und zeigen eine andere Psychologie ihrer Klassen.

Nicht als ob etwa die Klassenstimmung grundsätzlich eine andere wäre als in den Landstaaten! Die Herrenklasse sieht mit derselben Verachtung auf den Untertanen herab, auf den »Banausen«, den »Mann mit den blauen Nägeln«, wie der mittelalterliche Patrizier Deutschlands sich ausdrückte, und wehrt ihm die Ehegemeinschaft und den gesellschaftlichen Verkehr, auch dem Freigeborenen. Und ebensowenig unterscheidet sich die Klassentheorie der (der Wohlgeborenen) oder der Patrizier (Ahnenkinder) von der der Junker. Aber die andere Verumständung erzeugt doch auch hier Abwandlungen, natürlich ganz dem Klasseninteresse gemäß. In einem von Kaufleuten beherrschten Gebiet kann Straßenraub unmöglich geduldet werden, und er gilt denn auch, z.B. bei den Seehellenen, als ein gemeines Verbrechen: die Theseussage hätte im Landstaat nicht die Spitze gegen die Wegelagerer erhalten. Dagegen wurde der »Seeraub von ihnen in den ältesten Zeiten als ein keineswegs [S. 82] entehrendes Gewerbe angesehen (...), wovon noch in den homerischen Gedichten zahlreiche Beweise vorhanden sind; noch in viel späterer Zeit hatte Polykrates auf Samos einen wohlorganisierten Räuberstaat gebildet«. (Büchsenschütz, Besitz und Erwerb im griechischen Altertum.) Auch im Corpus juris ist die Rede von einem solonischen Gesetz, nach welchem die Piratenassoziation als eine erlaubte Gesellschaft aufgefaßt wird.« (Goldschmidt, Geschichte des Handelsrechts.) [39]

Aber abgesehen von solchen Geringfügigkeiten, die nur deshalb verzeichnet zu werden verdienen, weil sie ein helles Licht auf die Entstehung des »ideologischen Oberbaus« überhaupt zu werfen geeignet sind [40], haben ihre von denen der Landstaaten sehr verschiedenen Existenzbedingungen in den Seestaaten zwei universalgeschichtlich überaus wichtige Tatsachen geschaffen: die Ausbildung einer demokratischen Verfassung, mit der jener Gigantenkampf in die Welt trat zwischen orientalischem Sultanismus und okzidentaler Bürgerfreiheit, der nach Mommsen den eigentlichen Inhalt der Weltgeschichte ausmacht; - und zweitens die Ausbildung der kapitalistischen Sklavenwirtschaft, an der alle diese Staaten schließlich zugrunde gehen müssen.

Betrachten wir zunächst die inneren, die sozialpsychologischen Ursachen dieses entscheidenden Gegensatzes zwischen Land- und Seestaat.

Die Staaten werden erhalten durch das gleiche Prinzip, aus dem sie entstanden. Eroberung von Land und Leuten ist die ratio essendi des Landstaates, und durch neue Eroberung von Land und Leuten muß er wachsen, bis er seine natürliche Grenze an Gebirge, Wüste oder Meer oder seine soziologische Grenze an anderen Landstaaten findet, die er nicht unterwerfen kann. Der Seestaat aber ist entstanden aus Seeraub und Handel, und durch Seeraub und Handel muß er seine Macht zu mehren suchen. Zu dem Zwecke braucht er aber kein ausgedehntes Landgebiet in aller Form zu beherrschen. Er kann auf die Dauer in den neuen Gebieten seiner »Interessensphäre« mit jedem der ersten Stadien der Staatsentstehung bis zum fünften einschließlich auslangen und schreitet nur selten, sozusagen gezwungen, zum [S. 83] sechsten vor, zur vollen Intranationalität und Verschmelzung. Es genügt ihm im Grunde, wenn er andere Seenomaden und Händler fernhält, sich das Monopol des Raubes und des Handels sichert, die »Untertanen« durch Burgen und Garnisonen in Raison hält, und nur wichtige Produktionsstätten, namentlich Bergwerke, einzelne reiche Kornbreiten, Wälder mit gutem Bauholz, Salinen, wichtige Fischplätze usw. wirklich »beherrscht«, d.h. dauernd verwaltet, oder, was dasselbe sagt, durch die Untertanen bearbeiten läßt. Der Geschmack an »Land und Leuten«, d.h. an Rittergütern für die Herrenklasse außerhalb der Grenzen des engeren originären Staatsgebietes, kommt erst später, wenn der Seestaat durch Eingliederung unterworfener Landstaaten eine Mischung von See- und Landstaat geworden ist. Aber auch dann ist, im Gegensatz zu den Landstaaten, der Großgrundbesitz nur Geldrentenquelle und wird fast durchaus als Absenteebesitz verwaltet. So in Karthago und im späteren Römerreich!

Die Interessen der Herrenklasse, die den Seestaat so gut wie jeden anderen Staat zu ihrem Vorteil lenkt, sind eben andere als in den Landstaaten. Gibt dem feudalen Grundherrn die Macht, d.h. der Besitz an Land und Leuten, den Reichtum: so gibt umgekehrt dem Patrizier der Seestadt sein Reichtum die Macht. Kann der Großgrundbesitzer seinen Staat nur durch die Zahl der von ihm unterhaltenen Krieger beherrschen, und muß er, um diese zum Höchstmaß zu steigern, seinen Landbesitz und die Abgaben der hörigen Bauern soviel wie möglich vermehren: so kann der Patrizier seinen Staat nur durch seinen mobilen Reichtum beherrschen, mit dem er starke Fäuste mietet und schwache Seelen besticht; und diesen Reichtum gewinnt er schneller und leichter im Seeraub und Handel, als im Landkriege und vom Großgrundeigentum im fernen Lande. Auch müßte er seine Stadt verlassen, um solches Eigentum auszunützen, müßte darauf Wohnsitz nehmen und ein echter Feudaljunker werden: denn in einer noch nicht zur vollen Geldwirtschaft und ausgiebigen Arbeitsteilung zwischen Stadt und Land entwickelten Gesellschaft ist die Ausnützung eines Großgrundeigentums nur in der Naturalwirtschaft möglich, und Absenteebesitz als Rentenquelle undenkbar. So weit aber hat uns unsere Betrachtung noch nicht geführt; noch sind wir in primitiven gesellschaftlichen Verhältnissen. Und hier gewiß wird es keinem Stadtadligen einfallen, seine lebhafte, reiche Heimat zu verlassen, um sich in die Wildnis unter den Barbaren zu vergraben und [S. 84] damit ein für allemal auf jede politische Rolle in seinem Staat Verzicht zu leisten. Seine wirtschaftlichen, sozialen und politischen Interessen drängen ihn mit aller Einseitigkeit zum Seehandel. Nicht das Grundkapital, sondern das mobile Kapital ist sein Lebensnerv.

Aus diesen inneren Gründen ihrer Herrenklasse haben selbst die wenigen Seestädte, denen die geographischen Bedingungen ihres Hinterlandes die räumliche Expansion ins Weite erlaubten, den Schwerpunkt ihrer Existenz immer mehr auf und über See gesucht als auf dem Lande. Selbst für Karthago ist sein riesiger Landbesitz nicht entfernt von der Wichtigkeit wie seine Seeinteressen. Es erobert Sizilien und Korsika mehr, um die griechischen und etruskischen Handelskonkurrenten zu schädigen, als um des Landbesitzes willen; es dehnt seine Grenzen gegen die Libyer mehr aus dem Grunde aus, weil es den Landfrieden schützen muß; und wenn es Spanien erobert, so ist der erste Beweggrund der Besitz der Bergwerke. Die Geschichte der Hansa bietet manchen interessanten Vergleichspunkt dazu.

Die meisten dieser Seestädte jedoch waren gar nicht in der Lage, ein großes Gebiet unter ihre Herrschaft zu bringen. Äußere geographische Bedingungen hätten es auch dann verhindert, wenn der Wille bestanden hätte. Überall am Mittelmeer, mit Ausnahme weniger Stellen, ist das Küstenland außerordentlich gering entwickelt, ein schmaler Saum am Abhang hoher Gebirge. Das war eine Ursache, die die meisten dieser um einen Handelshafen gruppierten Staaten hinderte, eine für unsere Begriffe irgendwie bedeutende Größe zu erreichen, während in den breiten Landgebieten, in denen der Hirte herrscht, schon sehr früh große, ja ungeheuere Reiche entstanden. Die zweite Ursache für die anfängliche Winzigkeit dieser Staaten ist der Umstand, daß im Hinterland, in den Bergen, aber auch in den wenigen breiten Ebenen des mittelländischen Gebietes zumeist kriegerische Stämme hausten, die nicht leicht zu unterwerfen waren, entweder Jäger, die, wie gesagt, überhaupt nicht zu unterwerfen sind, oder kriegerische Hirten oder primitive Eroberungsstaaten derselben Herrenrasse. So in Hellas überall im Binnenlande!

Aus allen diesen Gründen bleibt der Seestaat auch bei stärkstem Wachstum immer zentralisiert, man möchte fast sagen: zentriert, um den Handelshafen, während der Landstaat, schon von Anfang an stark dezentralisiert, sich lange Zeit im Maße seiner Ausdehnung zu [S. 85] immer stärkerer Dezentralisation entwickelt. Wir werden unten sehen, daß erst seine Durchdringung mit den im »Stadtstaat« ausgebildeten Verwaltungseinrichtungen und ökonomischen Errungenschaften ihm die Kraft verleihen kann, sich die um einen Schwerpunkt sicher schwingende Organisation zu geben, die unsere modernen Großstaaten auszeichnet. Das ist der erste große Gegensatz zwischen den beiden Formen des Staates.

Der zweite, nicht minder entscheidende Gegensatz besteht darin, daß der Landstaat sehr lange im Zustande der Naturalwirtschaft verharrt, während der Seestaat sehr schnell zur Geldwirtschaft kommt. Auch dieser Gegensatz der beiden Gebilde wächst aus den Grundbedingungen ihrer Existenz:

Im Naturalstaat ist Geld ein überflüssiger Luxus, so überflüssig, daß eine schon entwickelte Geldwirtschaft verfällt, wenn ein Wirtschaftskreis in die Naturalwirtschaft zurücksinkt. Karl der Große hatte gut Münzen schlagen: die Wirtschaft stieß sie aus, denn Neustrien - von Austrasien gar nicht zu reden - war im Sturm der Völkerwanderung zur Naturalwirtschaft zurückgekehrt. Und die braucht kein Geld als Wertmesser, denn sie hat keinen entwickelten Marktverkehr. Die Hintersassen steuern Naturalien, die der Herr mit seinem Gefolge unmittelbar konsumiert; und Schmuck, feines Gewebe, edle Waffen und Rosse, Salz usw. handelt er im Warentausch von Hausierern gegen Sklaven, Rinder, Wachs, Pelze und andere Erzeugnisse der kriegerischen Naturalwirtschaft ein.

Dagegen kann das Stadtleben unmöglich auf irgend höherer Entwicklungsstufe des Wertmessers entraten. Der freie städtische Handwerker kann nicht auf die Dauer sein Erzeugnis unmittelbar gegen das eines anderen Handwerkers tauschen; und schon der unentbehrliche städtische Kleinhandel mit Nahrungsmitteln macht Münze unentbehrlich, wo jeder fast alles einkaufen muß. Noch weniger aber kann der Handel im engeren Sinne, der Handel nicht zwischen Kaufmann und Kunden, sondern zwischen Kaufmann und Kaufmann, eines Wertmessers entraten. Man stelle sich vor, daß ein Schiffsherr, der in einen Hafen Sklaven importiert, um sie gegen Gewebe einzutauschen, die er anderswohin zu führen gedenkt, zwar einen Gewebehändler findet, aber erfährt, daß dieser nicht Sklaven, sondern etwa Eisen oder Rinder oder Pelze eintauschen will. Dann müßten vielleicht ein Dutzend Zwischentäusche stattfinden, ehe das Ziel erreicht [S. 86] ist. Das ist nur vermeidbar, wenn eine Ware existiert, die von allen begehrt ist. In der Naturalwirtschaft der Landstaaten können Pferde oder Rinder, die schließlich jeder brauchen kann, ganz gut diese Stelle einnehmen: aber der Schiffer kann kein Vieh als Zahlungsmittel laden, und so wird das Edelmetall zu »Geld«.

Aus diesen beiden notwendigen Eigenschaften des See-, des Stadtstaates, wie wir ihn fortan nennen werden, aus der Zentralisation und der Geldwirtschaft, folgt sein weiteres Schicksal mit Notwendigkeit.

Schon die Psychologie des Städters und nun gar des Einwohners einer Seehandelsstadt ist eine ganz andere als des Landbewohners. Sein Blick ist freier und weiterspannend, wenn auch oft genug mehr an der Oberfläche haftend. Der Städter ist lebhafter, weil in einem Tage von mehr Reizen getroffen, als der Bauer in einem Jahre, und ist, weil an fortwährende Neuigkeiten und Neuerungen gewöhnt, immer »novarum rerum cupidus«. Von der Natur entfernter und viel weniger abhängig als der Landmann, empfindet er weniger Furcht vor den »Geistern«, und darum folgt der Untertan mit viel weniger Respekt den »tabuierenden« Verordnungen, die der erste und zweite Stand ihm auferlegen. Und weil er schließlich in dichten Massen zusammenhaust und daher seine, in der Mehrheit liegende Kraft deutlich empfindet, ist der Untertan trotziger und aufsässiger als der hörige Bauer, der in solcher Vereinzelung lebt, daß er sich seiner Masse nie bewußt werden kann, und daß der Herr mit seinem Gefolge in jedem Streit fast immer die Übermacht haben wird.

Schon das bedingt eine immer mehr vorschreitende Lockerung des starren Unterordnungsverhältnisses, das der primitive Eroberungsstaat geschaffen hat. Nur die »Landstaaten« von Hellas haben ihre Untertanen lange in der alten Knechtschaft gehalten: Sparta seine Heloten, Thessalien seine Penesten. Überall in den Stadtstaaten aber finden wir schon früh die Plebs im Aufstiege, dem die Herrenklasse keinen ernstlichen Widerstand entgegensetzen kann.

Wie die Siedlungsverhältnisse, so wirken auch die ökonomischen Dinge auf das gleiche Ziel hin. Der mobile Reichtum hat nicht entfernt die starre Stabilität des Grundeigentums: das Meer ist launisch, und das Glück des Seekrieges und Seeraubes nicht minder. Der Reichste kann schnell alles verlieren, der Ärmste durch eine Drehung von Fortunas Rad nach oben geschleudert werden. Armut aber verliert, [S. 87] Reichtum gewinnt in einem ganz auf den Reichtum gestellten Gemeinwesen Rang und »Klasse«. Der reiche Plebejer wird zum Führer der Volksmasse bei ihrem Verfassungskampfe um die Gleichberechtigung und setzt alle seine Mittel dafür ein; und die Stellung der Patrizier wird unhaltbar, wenn sie notgedrungen ein erstes Mal nachgegeben haben: die legitimistische Verteidigung des Geburtsrechtes ist für immer unmöglich, sobald der erste reiche Plebejer Aufnahme gefunden hat. Von da an heißt es: was dem einen recht ist, ist dem anderen billig, und dem aristokratischen folgt erst das plutokratische, dann das demokratische und schließlich das ochlokratische Regiment, bis eine fremde Eroberung oder die Tyrannis eines »Säbelheilands« dem wüsten Treiben ein Ende macht.

Was aber dieses Ende nicht nur des Staates, sondern meist auch des Volkes selbst, diesen buchstäblich zu nehmenden Völkertod herbeiführt, das ist eine gesellschaftliche Einrichtung, die in jedem, auf Seeraub und Seehandel begründeten, geldwirtschaftlich entfalteten Stadtstaat unvermeidbar eintreten muß: die kapitalistische Sklavenwirtschaft. Die Sklaverei, aus dem primitiven Feudalstadium übernommen und anfangs, wie in allen Naturalwirtschaften, harmlos, wird zum fressenden Kanker, der das ganze Staatsleben zerstört, sobald sie »kapitalistisch« ausgebeutet wird, d.h. sobald Sklavenarbeit nicht mehr als Selbstversorgung für eine feudale Naturalwirtschaft, sondern für die Versorgung eines mit Geld zahlenden Marktes angewendet wird.

Seeraub, Kaperei und Handelskriege schaffen zahllose Sklaven ins Land. Die Kaufkraft des reichen Marktes gestattet intensive Landwirtschaft, die Grundbesitzer im Stadtgebiet ziehen immer steigende Renten aus ihrem Besitz und werden immer landgieriger. Der kleine Gemeinfreie auf dem Lande, durch Kriegsdienste im Interesse der Großkaufleute überlastet, verschuldet sich immer mehr, wird Schuldsklave oder wandert als habeloser Bettler in die Stadt. Aber auch hier findet er keine Arbeitsstelle; im Gegenteil: die Verdrängung des Bauern hat schon die vorher in der Stadt ansässigen Handwerker und Kleinhändler schwer geschädigt; denn der Bauer kaufte in der Stadt, aber die durch das Bauernlegen immer mehr anschwellenden »Grossoikenwirtschaften« auf dem Lande decken ihren Bedarf an Gewerbswaren womöglich auch durch eigene Sklavenproduktion. Und weiter frißt das Übel! Auch der Rest der städtischen [S. 88] Gewerbe, diejenigen, die für die Stadt selbst tätig sind, werden mehr und mehr von Unternehmern besetzt, die die billige Sklavenarbeit ausbeuten. So verarmt der Mittelstand, und ein nichtshäbiger, nichtsnutziger Pöbel, ein wahres »Lumpenproletariat«, ist dank der inzwischen erfochtenen demokratischen Verfassung der Souverän des Staatswesens. Daran muß es früher oder später politisch und militärisch zugrunde gehen; aber auch ohne eine fremde Invasion, die nicht ausbleiben kann, würde es sozusagen physisch an der ungeheuren Entvölkerung, an der, wörtlich zu nehmenden Völkerschwindsucht zugrunde gehen, die alle diese Staaten schnell vernichtet. Ich kann an dieser Stelle nicht näher darauf eingehen.

Nur ein einziger Stadtstaat hielt sich lange Jahrhunderte, und zwar aus dem einen Grunde, weil er, der zuletzt übrig bleibende Sieger, die Bevölkerungsschwindsucht immer wieder durch das einzige Mittel, ausgiebige Neuschaffung städtischer und ländlicher Mittelstände durch gewaltige Bauernkolonisationen, zu bekämpfen vermochte, auf Ländereien, die er den Besiegten abgenommen hatte. Dieser Staat war das römische Reich. Selbst dieser riesenhafte Organismus erlag zuletzt der Völkerschwindsucht der kapitalistischen Sklavenwirtschaft. Aber inzwischen hatte er das erste Imperium, d.h. den ersten straff zentralisierten Großstaat geschaffen, indem er alle Landstaaten des Mittelmeergebietes und seiner Nachbarländer überwand und sich eingliederte, und hatte für alle Zukunft das Muster solcher Herrschaftsorganisation in die Welt gestellt. Und ferner hatte er inzwischen Städtewesen und Geldwirtschaft so weit entwickelt, daß sie niemals ganz wieder verschwinden konnten; und so erhielten unmittelbar oder mittelbar die feudalen Landstaaten, die sich nach Roms Fall auf seinem ehemaligen Herrschaftsgebiet aufgerichtet hatten, die neuen Anstöße, die sie über den Zustand des primitiven Eroberungsstaates weiter emporführen konnten.

Fußnoten
[1]
I. Kulischer, l. c., p. 317. Folgen weitere Beispiele.
[2]
Westermarck, History of human marriage, p. 400. Auch hier sind eine Anzahl ethnographischer Beispiele gegeben.
[3]
Es gibt übrigens (australische) Stammverbände, deren einzelne Gruppen in verschiedenen Örtlichkeiten (z.B. Küste und Wald) leben und daher verschiedene Produkte haben. Hier ist der Tausch selbstverständlich. Aber es handelt sich hier auch um relativ hohe Kulturzustände. Die Australier sind höhere Jäger!
[4]
Westermarck, l. c., p. 546.
[5]
Vgl. Ratzel, l. c. I, p. 318. 540.
[6]
Ratzel, l. c. I, p. 106.
[7]
Ratzel, l. c. I, p. 335.
[8]
Ratzel, l. c. I, p. 346.
[9]
Ratzel, l. c. I, p. 347.
[10]
Bücher, Entstehung der Volkswirtschaft, 2. Aufl. Tübingen 1898. p. 301.
[11]
Dahin gehört auch der heute noch hier und da gebräuchliche Gruß: Friede sei mit dir! Es ist bezeichnend für die Verblendung des alt gewordenen Tolstoi, daß er dieses charakteristische Kennzeichen eines grundsätzlichen Kriegszustandes als den Rest eines goldenen Zeitalters des Friedens ansieht. (Die Bedeutung der russ. Revolution, dtsch. v. Ad. Heß, p. 17.)
[12]
Vgl. Ratzel, l. c. I, p. 271, von den Ozeaniern: »Der Verkehr von Stamm zu Stamm ist unverletzlichen Herolden übertragen, mit Vorliebe alten Weibern. Diese vermitteln auch den Handel im Tauschverkehr.« Vgl. a. p. 317 für die Australier.
[13]
Deutsch von L. Katscher. Leipzig 1907.
[14]
Daher vielleicht die beliebte Verwendung alter Weiber zu Heroldsdiensten. Sie haben den doppelten Vorzug, vom Standpunkte des Krieges aus ungefährlich zu sein und im Rufe besonderer Zauberkraft zu stehen (Westermarck, l. c.), noch mehr als alte Männer, die man auch vorsichtig behandelt, weil sie bald »Geister« sein werden.
[15]
Ratzel, l. c. I, p. 81.
[16]
Ratzel, l. c. I, p. 478/9.
[17]
A. Vierkandt, Die wirtschaftlichen Verhältnisse der Naturvölker. (Zeitschrift für Sozialwissenschaft, II, p. 177/8.)
[18]
Dabei fällt sehr oft das Schwert des Brennus in die Wagschale. Der scheinbare Tausch maskiert empfindliche »Reparationen«.
[19]
Kulischer, l. c., p. 320/1.
[20]
Lippert, l. c. I, p. 266 ff.
[21]
Vgl. Westermarck, History of human marriage.
[22]
Ratzel, l. c. II, p. 27.
[23]
Das soll nach Ed. Hahn für die afrikanischen Hirten in viel geringerem Maße zutreffen, als für die asiatischen.
[24]
Herodot IV, 23, zit. nach Lippert, l. c. I, p. 459.
[25]
Lippert, l. c. II, p. 170.
[26]
Mommsen, l. c. I, p. 139.
[27]
Ob die Etrusker ein zu Lande nach Italien eingewandertes und dann zum Seenomadentum übergegangenes Kriegsvolk gewesen oder bereits als Seenomaden in ihre Sitze an dem nach ihnen benannten Meere gelangt sind, ist nicht festgestellt. Es ist aber sehr wahrscheinlich, daß wenigstens eine spätere Einwanderung über See kam; die »Tursa«, von denen die ägyptischen Denkmäler erzählen. Auch die Philister sind zur See nach Palästina gelangt, vielleicht von Kreta aus: »Krethi und Plethi«.
[28]
Ganz ähnlich liegen die Dinge in Insulindien. Hier sind die Malaien die Wikinge. »Die Kolonisation spielt als überseeische Eroberung und Ansiedlung (...) eine an Griechenlands Wanderzeit erinnernde große Rolle. (...) Jede Küstenlandschaft weist fremde Elemente auf, die ungerufen und oft den Altansässigen schädlich eindrangen. (...) Das Recht der Eroberung wurde von den Herrschern von Tornate an adlige Häuser verliehen, die dann halbsouveräne Statthalter auf Buru, Ceram usw. wurden.« (Ratzel, l. c. I, p. 409.)
[29]
Mommsen, l. c. I, p. 132.
[30]
Mommsen, l. c. I, p. 134.
[31]
Ratzel, l. c. I, p. 160.
[32]
Ratzel, l. c. II, p. 558.
[33]
Buhl, l. c., p. 48.
[34]
Buhl, l. c., p. 78/9.
[35]
Mommsen, l. c. II, p. 406.
[36]
Ratzel, l. c. II, p. 191. Vgl. a. p. 207/8.
[37]
Ratzel, l. c. I, p. 363.
[38]
Mommsen, l. c., p. 46.
[39]
Beide zitiert nach Kulischer, l. c., p. 319.
[40]
Wie bezeichnend für diese Zusammenhänge ist es, daß Großbritannien, der einzige »Seestaat« Europas, noch heute nicht auf das Kaperrecht verzichten will!

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