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DAS HAUPT DER MEDUSE

Bevor ich mich als praktischer Arzt niederlassen konnte, hatte ich noch das zweite Halbjahr meiner militärischen Dienstzeit "abzumachen". Ich hatte in meinem fünften Semester, nach dem Physikum, das erste Halbjahr mit der Waffe beim Gardefüsilierregiment, den sogenannten "Maikäfern", in meinem Berliner Norden abgedient. Der Dienst wurde meinem sportgestählten Körper leicht, so schwer an sich auch manchmal die sehr langen Märsche über viele Kilometer damals noch schlechten Steinpflasters bis weit hinter Tegel waren. Über dieser ganzen Zeit lag eine Angst, die mir noch viele Jahre später als Alptraum zurückkam: die "Knöpfe" nicht zu bekommen, d. h. nach Ablauf des Halbjahres nicht Gefreiter zu werden, und dann weitere sechs Monate mit der Waffe dienen zu müssen. Vor diesem Schicksal waren damals Einjährige meiner Konfession durchaus nicht sicher, auch wenn sie unbestraft waren. Aber mir half, daß ich ein recht guter Turner war und auch meine "Gewitterbacke", mein "Beefsteak à la tatare", fiel in diesem Kreise nur angenehm auf. Dazu kam, daß ich in meiner Eigenschaft als junger Mediziner meinem Hauptmann, dem Freiherrn von Gall, einen bedeutenden Dienst erwiesen hatte. Wir hatten eines Tages Felddienstübung mit vollem Kriegsgepäck; es war ein fürchterlich schwüler Tag, der denn auch am Abend mit einem gewaltigen Gewitter abschloß; wir waren schon von Schweiß durchnäßt, als wir morgens vor dem Ausmarsch auf dem Kasernenhofe standen. Es war ausgesprochenes "Hitzschlagwetter". Der Hauptmann, der, unbeschwert von Gepäck, zu Pferde kommandierte, bemerkte offenbar nichts davon, sonst hätte er, ein strenger, aber gütiger und im höchsten Sinne gerechter Vorgesetzter wahrscheinlich die Übung abgeblasen oder irgendwie erleichtert. So kam es, daß plötzlich mein Nebenmann zusammenbrach. Ich marschierte selbstverständlich, "und war's mein Bruder, mein eigener Sohn", weiter, bis der Hauptmann heranpreschte: "Doktor, wozu sind Sie da, helfen Sie dem Mann." Ich stürzte zu der Böschung, wo man den Kranken im Schatten niedergelegt hatte, riß ihm die Uniform auf, schnallte die entsetzlich enge Halsbinde unter dem gräßlichen Stehkragen auf, der damals noch Vorschrift war, und machte künstliche Atmung, während ein Mann, [S.98]der reiten konnte, auf dem Pferde des Hauptmanns nach Wasser galoppierte. Ich hatte mir nicht die Zeit gelassen, Helm und Tornister abzunehmen, und durfte wohl auch die Zeit nicht verlieren. Als der arme Teufel endlich die Augen aufschlug, wurde mir selbst einigermaßen schwarz vor den Augen. Der Hauptmann ließ eine Droschke holen und schickte mich mit dem Mann ins Krankenhaus, um ihn dort abzuliefern. Beim Abschied gab er mir die Hand, man denke: der Hauptmann einem Einjährigen, und sagte: "Doktor, das gedenke ich Ihnen." Und er hat es mir gedacht! Ich bewahre ihn in treuer und dankbarer Erinnerung: ein altpreußischer Konservativer, aber ein Mann und ein Edelmann. Er hat schnelle Karriere gemacht; ich traf ihn Jahre später als Generalleutnant im Zoologischen Garten und fand ihn mir gegenüber gänzlich unverändert, freundschaftlich und vertrauensvoll. Für ihn und seinen hohen Ehrgeiz kam der Krieg zu spät, sonst wäre er wahrscheinlich einer der großen Führer geworden. Soviel ich weiß, schwankte die Waage seinerzeit für den Afrikafeldzug zwischen ihm und Deimling.

Ich hatte also die Knöpfe und die Qualifikation erhalten und trat im Herbst 1886 als einjährigfreiwilliger Arzt beim 3. Garderegiment zu Fuß an. Drei Monate Revierdienst, zwei Monate Militärlazarett Tempelhof, ein Monat Artillerielaboratorium in der wüsten Heide bei Tegel. Im Lazarett, wo ich die Schwerkrankenstation zugewiesen bekam, stand ich zuerst unter dem Kommando eines Oberstabsarztes, dessen fürchterliche Ignoranz nur durch seine flegelhafte Unmanierlichkeit übertroffen wurde. Ich habe ihn inbrünstig gehaßt und war einmal dicht daran, gegen ihn tätlich zu werden; nur der Gedanke an die Kriegsartikel hielt meine Hand fest, aber ich brach vor seinen Füßen mit dem ersten und einzigen Anfall von Herzkrämpfen zusammen, den ich jemals gehabt habe. Er ließ mich liegen. Mein Glück war, daß er zum Jahresende abgelöst und durch einen Mann ersetzt wurde, der sein genaues Gegenteil war: ein Arzt von Rang und ein vornehmer Mann, der mich als Kollege behandelte, Münnich, der auch wissenschaftlich, als Mitglied der Pharmakopöekommission, einen Namen hatte. Unsere erste Berührung trug mir einen Triumph und sein Vertrauen ein. In meinem Saale lag ein Schwerkranker, an dem ein klinischer Fuchs ohne weiteres die sogenannte "Schwellendiagnose" hätte stellen müssen; schon an der Tür sah man an der Färbung des Gesichts und der charakteristischen Lage, daß er schwere Brustwassersucht hatte. Ich hatte die Diagnose bei [S.99] der Aufnahme auch mit Sicherheit gestellt. Aber mein Tyrann konnte die kolossale Dämpfung über der linken Brustseite nicht finden und zwang mich, auf das schwarze Schild oberhalb des Bettes die irrsinnige Diagnose zu schreiben: Magenkatarrh. Als Münnich den Saal betrat und an den Betten vorbeischritt, sagte er im Tone höchster Empörung zu mir: "Magenkatarrh hat der Mann?" Ich stand stramm, Hände an der Hosennaht und schnarrte im dienstlichen Tone: "Herr Oberstabsarzt H . . . haben befohlen, daß der Mann Magenkatarrh hat." Münnich nahm mir sozusagen Maß; ich glaube, er unterdrückte ein Lächeln und fragte: "Und was hat er wirklich?" Auf meine Antwort: "Pleuritis bis zur zweiten Rippe" untersuchte er erst gar nicht, sondern ließ den "Dieulafoy" kommen; wir machten die Punktion und entleerten nahezu fünf Liter Sekret. Ja, ja: preußische Disziplin! Der Vorgesetzte weiß es selbstverständlich immer besser! Man kennt den alten bitteren Scherz, Meldung des Lazarettgehilfen: "Der Simulant von Saal drei ist heute Nacht gestorben, Herr Oberstabsarzt." Ich habe als Arzt und als Soziologe viel gelernt in jener Zeit.

Zum begeisterten Militaristen hat sie mich nicht erzogen.

Als ich diese Sache hinter mir hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als "meinen Laden" aufzumachen, wie wir jungen Mediziner uns selbstverspottend auszudrücken pflegten. Ich blieb bei meinen Eltern in der Eichendorffstraße wohnen, die mir ein großes Zimmer als Sprechzimmer und für die betreffenden Stunden meines Vaters Studierzimmer als Warteraum zur Verfügung stellten, und ließ schweren Herzens das Schild anfertigen, das mir die Patienten zuführen sollte. Schweren Herzens! Ich habe nichts höher geschätzt und so teuer bezahlt während meines ganzen Lebens als meine Freiheit; ich habe bis in die letzten Jahre hinein mehrfach die allerlockendsten Angebote, gegen ein für meine Gewohnheiten ungeheures Gehalt als Bankdirektor, Chefredakteur, Verlagsdirektor und dergleichen mich, d. h. meine Zeit ganz zu verkaufen, ohne Besinnen abgelehnt, weil ich meiner Arbeit gehörte; noch 1918 hat mir Albert Ballin ein Angebot gemacht, das einen unbesoldeten Mann  das war ich damals noch , der Frau und Kind hatte, schwindlig zu machen geeignet war: ich war bereit, meine halbe Zeit zu verkaufen, die ich ohnehin immer aufwenden mußte, um "meinen Stiebel zu machen", d. h. marktgängige Ware schriftstellerischer Natur für das zahlende Publikum zu liefern: aber auch er verlangte den ganzen [S.100] Mann und mußte ihn verlangen, und ich lehnte ab. Da mag man sich vorstellen, wie schwer es dem Dreiundzwanzigjährigen wurde, sich selbst sozusagen einzusperren. Aber es blieb mir kein anderer Weg, "der Knüppel lag beim Hunde"; leider habe ich damals nicht daran gedacht, daß man als Schiffsarzt in die Welt gehen konnte; sonst hätte ich wahrscheinlich meine Niederlassung hinausgeschoben und mich zu höherem Alter und höherer Reife wachsen lassen.

Die Praxis war zuerst natürlich winzig, wuchs aber von dem Augenblick an schnell, wo ich, von Ernst Leyden und anderen meiner Lehrer warm empfohlen, als Arzt auf der Sanitätswache in der Eichendorffstraße angestellt wurde. Bei Tage war sie eine Barbierstube, deren Inhaber, der alte Regenstein, ein sehr tüchtiger Heilgehilfe und namentlich ein über ganz Berlin berühmter Zahnbrecher war. Ich habe die Stellung dort ungefähr zwei Jahre lang innegehabt; wir waren unser zwei Ärzte und wechselten von Woche zu Woche. Es war ein recht anstrengender Dienst, zumal sich nun für mich alle gesellschaftlichen Verpflichtungen und sonstigen Vergnügungen auf die freie Woche konzentrierten; ich habe in diesen zwei Jahren durchschnittlich wohl kaum fünf Stunden Schlaf gehabt. Aber ich hatte gute Erfolge, kam schnell zu einem für meine Begriffe und Gewohnheiten sehr erheblichen Einkommen, konnte meine Eltern dazu bewegen, für Wohnung, Ernährung und Bedienung doch wenigstens die nackten Selbstkosten von mir anzunehmen, konnte meine liebe Mutter zum ersten Male seit ihrer Heirat zu einer Reise nach Tirol und Oberbayern mitnehmen. Ich mußte sie geradezu zwingen. Wenn es ein Fehler war, so hatte sie den einen Fehler: sich durchaus nichts gönnen zu wollen. Es wurde meine schönste Reise, und nie habe ich mein Geld mit größerem Erfolg und Genuß ausgegeben. Als der alten Dame beim Anblick des tief herab vergletscherten Sorapis die Augen überliefen, hätte ich mit keinem König getauscht.

Die Eichendorffstraße, dicht am Nordende der nordsüdlichen Hauptader Berlins, der Friedrichstraße, und am Stettiner Bahnhof gelegen, gehörte damals zum Quartier latin, das sich, wie mir scheint, seitdem mit der Verbesserung der Transporteinrichtungen immer mehr nach der Gegend des Zoologischen Gartens und dem SavignyPlatze hin verlegt hat. Das heißt, es gab dort viel Kleinbürgertum, namentlich von alten Leuten, die von der Vermietung der Zimmer an die Studenten lebten, und kolossal viel Prostitution. Es gab außerdem [S.101] sehr viele Arbeiter, wenn auch nicht gerade von der alleruntersten Schicht der Lumpenproletarier; mehr Gelernte als Ungelernte.

Hier sah ich zum ersten Male mit immer wachsendem Verständnis und immer größerem Grauen in das Medusenantlitz der sozialen Frage. Es war eine Kleineleutepraxis, oft sogar eine Armeleutepraxis; es kam immer öfter vor, daß sich ganz arme Familien an mich statt an den offiziellen Armenarzt wendeten; das ganze Elend der Großstadt entblößte sich vor meinen Augen, und die soziale Bedingtheit so vieler Krankheiten drängte sich mir auf. Als Arzt der Sanitätswache hatte ich häufig die Folgen von schweren Schlägereien zu behandeln. Einmal wurde ich in das fürchterlichste Milieu berufen, das ich jemals betreten habe: eine alte Dirne war von ihrem Zuhälter, angeblich mit einem zerbrochenen Teller, wahrscheinlich aber mit einem gefährlicheren Instrument, schwer verletzt worden; der Rand des Schulterblattes lag frei in der klaffenden Rückenwunde. Alle paar Wochen wurde ich in eines der finsteren kleinen Absteigequartiere jener Gegend gerufen, um einem Selbstmörderpaare die Totenscheine auszustellen; und ich hatte eine ganz regelmäßige Einnahme aus der Bescheinigung von blauen Flecken und derartigen kleinen Schäden, Attesten, die der erfolgreichen Anstrengung eines Prozesses dienen sollten. Entsetzliche Roheit, beschämende Umbildung, gräßliche Unwissenheit!

Und die übrige Praxis? An der Spitze marschierte die tödliche Seuche, die damals noch die Säuglinge der Großstadt mehr als zehntete: die Kindercholera, die Sommerdiarrhöe, die mir selbst vor langer Zeit meinen geliebten kleinen Bruder Georg geraubt hatte. Wir kannten die Ursache: verdorbene Milch und schlechte Luft in den überhitzten Mietskasernen, in die auch die Nacht keine Kühlung bringen konnte, weil die aneinandergedrängten Mauermassen nachts die Hitze ausströmten, die sie am Tage aufgesogen hatten. Vor allem in den engen Höfen mordete die Seuche. Ein berühmter Arzt sagte damals in bitterer Empörung: "Die armen Kinder werden erst auf dem Totenbette kühl." Wieviel Totenscheine habe ich ausgestellt für solche Würmchen, die ich vorher nie gesehen hatte! Der Tod hatte sie fast mit der Geschwindigkeit eines Blitzes dahingerafft. An zweiter Stelle kam der Zahl nach die Tuberkulose, namentlich in ihrer Gestalt als Lungenschwindsucht. Wir hatten gerade damals begriffen, daß dieses Leiden dort, wo keine Erblichkeit vorliegt, im Anfangszustande fast immer heilbar ist, wenn man nur die Kranken [S.102] lange genug in guter Luft bei reichlicher Ernährung pflegen und sie dauernd den Schädigungen ihres Berufes entziehen kann. Hier handelte es sich in der Regel um Menschen mit unbelasteter Aszendenz, um ursprünglich gesunde und starke Männer und Frauen, die den Einwirkungen des Fabrikstaubes, der licht und luftlosen Wohnung und der unzureichenden Ernährung verfallen waren, oder die sich im Zusammenleben mit anderen Kranken infiziert hatten. Man mußte sie sterben und die Familien zugrunde gehen lassen; gelang es einmal, einen in eine der wenigen damals vorhandenen Anstalten zur Aufnahme zu bringen, so war das fast immer nur eine Atempause; er mußte zurück in seine Beschäftigung, und das gefräßige Tier in seiner Lunge wurde seiner Herr. An dritter Stelle stand die Unzahl der künstlich herbeigeführten Fehlgeburten, die ich nachzubehandeln hatte, verbrochen in schmutzigen Winkeln von noch schmutzigeren Weibern, die ihren Opfern den letzten Pfennig aus der Tasche zogen und oft genug ihnen dauerndes Siechtum oder gar den Tod brachten. Und dann das Heer der Geschlechtskrankheiten, die Prostitution aller Schattierungen, von der eleganten Freundin mehrerer Männer bis herab zur völlig verkommenen unseligen "Tippelschickse": "der Menschheit ganzer Jammer" faßt mich noch heute an, wenn ich an all das Elend zurückdenke, das wie ein gespenstischer Film an mir vorüberglitt. Es gibt noch heute Fachmänner, die die Welt durch eine rosige Brille sehen und annehmen, "que tout est pour le mieux dans le meilleur des mondes possibles", um mit Voltaires "Candide" zu sprechen: ich wünschte den Herren ein paar Monate Praxis in einem großstädtischen Slum! Selbst der humane Schmoller fragte mich einmal in seinem Seminar, ob ich (ich war ja in seinen Augen ein Utopist es für möglich hielte, die Tuberkulose auszurotten. Er war doch betroffen über meine Antwort: "Es ist durchaus möglich und notwendig, sie als eine Volksseuche auszurotten, die die Plusvarianten, die von Haus aus kraftvollen und gesunden Mitglieder der Gesellschaft, befällt; es ist unmöglich und nicht wünschenswert, sie als den Gärtner auszurotten, der die Minusvarianten ausjätet; denn nur dadurch kann die Gesamtheit zu höherer Kraft und Gesundheit gelangen." Wir haben das Wochenbettfieber so gut wie ausgerottet, dem in früheren Zeiten unzählige junge Mütter erlagen; wir sind so ziemlich aller akuten Epidemien Herr geworden; wir dürfen nicht ruhen, bis die Volkskrankheit der Tuberkulose ihnen gefolgt ist. Mich haben die Erfahrungen jener [S.103] Jahre zum gläubigen Sozialisten gemacht, und ich habe, da ich den Kommunismus aller Spielarten aus guten wissenschaftlichen Gründen verwerfen mußte, rastlos einen anderen Weg gesucht, der uns aus diesem ganzen Jammer herausführen kann, und ich bin überzeugt, ihn gefunden zu haben. Davon ist hier nicht zu reden.

Als ich einige Jahre später heiratete, ließ ich mich dazu verführen, im nördlichsten Teile der Friedrichstraße, in einem sehr eleganten Hause mit geschmiedetem Haustore und teppichbelegten Marmortreppen Wohnung zu nehmen. Es war ein schwerer Fehlgriff: die kleinen Leute wagten sich nicht in das feine Haus, die Praxis ging zurück, und so ging mir, ganz abgesehen davon, daß ich mich auf das äußerste einschränken mußte, um durchzukommen, die größte Freude verloren, die mir meine Tätigkeit bis dahin gebracht hatte, die Freude, die der Mensch immer dann empfindet, wenn er etwas wachsen sieht, das sein ist: Kinder, einen Garten, ein Werk. Ich versuchte es, mich als Spezialarzt für Hals, Nasen und Ohrenkrankheiten umzustellen; ich hatte mir mehrere Jahre hindurch bei Hermann Krause die nötige Ausbildung verschafft. Aber das war noch weniger befriedigend und materiell nicht ersprießlicher; neue Interessen drängten mich zu neuer Arbeit, auch das lockerte die Wurzeln, mit denen ich in dem Boden eines mir von Haus aus nicht angemessenen Berufes haftete; und so kam es schließlich dahin, daß ich die Praxis abgab. Das geschah im Jahre 1895 faktisch und Anfang 1896 in aller Form. Ein neues Kapitel hatte für mich begonnen.

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JUGENDFREUNDSCHAFTEN

Ich denke an die fröhliche Bande zurück, die während der ersten Semester meiner Berliner Studienzeit mit mir den Berliner Norden unsicher machte, deren junge Köpfe so schnell aus dem Fenster fuhren, wenn unten das Signal "Kuckuck" ertönte, die immer bereit waren, sich an jedem Spaß zu beteiligen  und mir klingt das alte trübe Lied von der "Saale im Tale" durch das Herz: "Wo seid ihr zur Zeit mir, ihr werten Gefährten geblieben? vertrieben im Wechsel der Zeit". Überflüssiges Geld hatte keiner von uns; ich verdiente mir mein Taschengeld mit Stundengeben, und zum Schuldenmachen war ich denn doch zu bürgerlich erzogen. Höchstens, daß ab und zu meine Uhr "hebräisch lernen" mußte. Aber das alte Wort bestätigte sich auch an uns: "Ein vergnügter Dalles geht über alles." Einer half dem andern nach Kräften, und dann war da wohl auch mal ein liebenswürdiger alter Herr, der nicht Skat spielen konnte, aber darauf bestand, es dennoch zu spielen. Saßen wir da einmal in einem Kneipchen und hatten noch schweren Durst, aber gar kein Geld mehr. Da tat Gott ein Wunder. Ich fummelte an meinem Portemonnaie herum, wo, um mit Scheffels unsterblichem Pumpus von Perusia zu sprechen, "nur der Klang des Leeren wohnte", und fand in einer versteckten Seitentasche sechs der winzigen silbernen Zwanzigpfennigstücke, die die Berliner als Fischschuppen bezeichneten; sie sind dann bald als allzu unpraktisch aus dem Verkehr zurückgezogen worden. Ich muß sie in einem Dämmerzustande dort verhortet haben. Da erprobte sich das WeberFechnersche psychophysische Grundgesetz an uns, daß man nicht den absoluten Wert eines Eindrucks erfühlt, sondern die Differenz zwischen dem vergangenen und dem neuen Eindruck. Mathematisch betrachtet ist die Differenz zwischen "Null, Komma, Nischt" und etwas Geld fast unendlich. Und wirklich war unser Glück unendlich. Es langte noch zu sieben Schoppen und einem fürstlichen Trinkgeld!

Zu dieser Bande, die fast täglich am Tisch meiner Eltern ihre "Stullen" verzehrte (meine Schwester Elise bildete sich damals zu einer perfekten "kalten Mamsell" aus, denn der Appetit der Gäste überstieg jede Vorstellung), gehörte ihr Verlobter, der jetzige wohlbestallte Geheime Hofrat Professor Dr. Georg Steindorff, der Ägyptologe [S.105] der Leibziger Universität, der sich seine geradezu sprichwörtliche Fröhlichkeit und seinen treffenden Witz bis auf den heutigen Tag, trotz weißer Haare und vielleicht nicht ganz unverdienten Podagras, bewahrt hat. Ich möchte wenigstens einen seiner ausgezeichneten Witze der Vergessenheit entreißen. Am Turm der "Bugra" (Buch und Graphische Ausstellung) im Unglücksjahre 1914 trug eine Sonnenuhr die gedankenvolle lateinische Inschrift: "Mors certa, hora incerta" (Der Tod ist gewiß, die Stunde ungewiß). Er übersetzte: "Todsicher geht die Uhr falsch". Mindestens ebenso vergnügt war sein jüngerer Bruder Paul, ein Studierender der Musik, der vor einigen Jahren als vergötterter Chordirektor in San Franzisko verstorben ist. Der Dritte im Bunde war mein lieber, gleichfalls hinübergegangener Vetter Gustav aus Heiligenstadt, weiland Sanitätsrat in Halle, der vierte ein Jurist, einer meiner früheren Mitschüler, Emil Sachs, den nun auch schon lange der Rasen deckt, und ein junger Türke, unser Mezzofanti. Er war spaniolischer Jude; diese Emigranten haben bekanntlich ihr Altkastilianisch mit der gleichen Treue festgehalten wie die aus Deutschland vertriebenen Juden Rußlands, Polens und Rumäniens ihr Mittelhochdeutsch, das noch heute den verbreitetsten deutschen Dialekt darstellt, das mit Unrecht sogenannte "Jiddisch". Unser Eskenazi' genannt "Nazi" oder "der Türkenturkel", sprach also als eigentliche Muttersprache spanisch, als englischer Untertan englisch, als Bewohner Konstantinopels türkisch und, als die Sprache seiner Amme, armenisch. Er hatte in der französischen Schweiz das Gymnasium besucht und in Deutschland studiert. Auch diese beiden Sprachen, und nebenbei italienisch, beherrschte er vollkommen, und zwar die Deutsche, die er in Leipzig gelernt hatte, im unverkennbarsten "Säcks'sch". Die Fliegenden Blätter brachten damals die niedliche Geschichte, die wir eingeschickt hatten: Ein Sachse fragt in Paris einen Passanten nach dem Wege; der antwortet im Leipziger Dialekt deutsch; und auf die frohe Frage: "Se sinn wohl ooch aus Laibzg?" erhält der Sachse die Antwort: "Nee, mei Kutester, ich bin Sie ii Tärke, awer ich hab Sie in Laibzg studiert".

Ich unterbreche mich, um ein Wort über das Jiddische zu sagen. Würde es nicht hebräisch geschrieben und gedruckt, so würden die Deutschen es anders beurteilen und vielleicht seine Träger anders behandeln. Professor Höniger sagte mir einmal im Berliner Dozentenzimmer: "Es ist ein Skandal! da haben wir das unverschämte [S.106] Glück, daß das begabteste und verbreitetste Handelsvolk der Welt unsere Sprache spricht, und machen es uns zu Feinden. Was würden die Engländer aus dieser ungeheuren Chance gemacht haben?!" Und als ich als Leiter des "Komitees für den Osten", das sich im Weltkriege der Juden Polens nach Kräften annahm, eine Denkschrift über den Gegenstand anfertigen ließ, in der einige jiddische Geschichten und Gedichte mit deutschen Buchstaben transkribiert waren, rief Graf Oppersdorf in höchster Aufregung aus: "Das ist eine Revelation; das muß Majestät sehen." Die Juden waren denn auch überall die Dolmetscher unserer Truppen; sie hatten dafür später vielfach schwer zu leiden, ohne daß sie von den Deutschen durchschnittlich anständig behandelt worden wären. War da in Kowno ein alter, über die Grenzen seiner Heimat berühmter Arzt, der im Anfang des Krieges ein Krankenhaus musterhaft leitete. Nach einiger Zeit wurde das Lazarett einem deutschen Oberstabsarzt übergeben, und als der alte würdige Herr seinem Nachfolger die Honneurs machen wollte, hieß es: "Scheren Sie sich weg, Sie dreckiger Jude!" Hugo Ganz schrieb einmal von der "borussischen Wolfsfratze", wir haben es glänzend verstanden, uns Sympathien zu verschaffen: Beweis, das deutsche Elsaß, das wir in einem halben Jahrhundert nicht für uns gewinnen konnten; und die Engländer konnten sich schon nach zehn Jahren auf ihre Buren verlassen! Ja, ja: wir Europäer müssen den Indern und Chinesen "die Kultur bringen"! Wie sagt Kipling: "The white man's burden"!

Nicht bitter werden! Der Mensch ist nicht gut und nicht böse, er folgt dem Gesetz des geringsten Widerstandes. Je nachdem die Verhältnisse sind, benimmt er sich anständig oder unanständig; Macht wird immer mißbraucht: darum soll man nicht versuchen, die Menschen zu bessern, sondern soll die Verhältnisse ändern, soll Macht ausrotten. Und das ist möglich. Es muß und wird immer Führerschaft geben, aber es hat in vielleicht hunderttausend Jahren menschlicher Geschichte keine Herrschaft gegeben; die gibt es erst seit etwa fünftausend Jahren, und die wird es sicherlich keine fünfhundert Jahre mehr geben. Also: nicht bitter werden! Erzählen wir uns lieber eine kleine Schnurre, die ich mit dem guten Nazi aufführte. Wie haben wir beide darüber gelacht, als ich ihn, kurz vor seinem Tode, im Wiener Parksanatorium besuchte!

Er war mindestens so gutmütig wie mein Vetter. "Mit dem kannste betteln jehn", sagt Berlin. Als ich eines Tages für Waldeyer [S.107] paukte, schien die Spätsommersonne allzu lockend in mein Fenster; ich packte mein Buch ein, rief mein "Kuckuck" und nahm den Freund mit in den Tiergarten. Ich büffelte im Gehen, daß mir der Kopf rauchte, während er geduldig neben mir hertrabte. Dann mußte er mich abhören. Immer eine Viertelstunde lernen, fünf Minuten abhören. Zuletzt fühlte ich ein menschliches Rühren und lud ihn zum Frühstück im Zelt II ein, das damals von einem Bekannten, Herrn Pickard, geleitet wurde. Eine Wiener Wurst und ein Seidel! Unter einem Vorwand ging ich hinaus, zahlte und studierte dem Kellner seine Rolle ein. Dann, als wir ausgetrunken hatten, schlug ich gegen das leere Glas: "Kellner, zahlen!"  "Aber, meine Herren, heute ist doch Montag!" Der Mann machte seine Sache ausgezeichnet. »Was soll das heißen?"  »Ja, wissen Sie denn nicht, daß Herr Pickard am Montagvormittag von den Stammgästen nichts bezahlt nimmt?" Wir gingen fort. Was ich erwartet hatte, trat pünktlich ein. Der Türkenturkel trat am folgenden Montag morgens um zehn Uhr an: "Gehen wir in den Tiergarten?" - "Sache wie'n Boom." Wieder wurde gearbeitet, und um zwölf sagte der Unglückliche: "Jetzt gehn wir zu Pickard." "Jemacht! Aber heute bezahlst du." Er grinste voll seligen Vertrauens: "Natürlich, heute bezahle ich." Zwei Beefsteak mit Ei, eine Flasche guten Bordeaux. "Kellner, zahlen! Was bin ich schuldig?" "Vier fünfundsiebzig." Er war sofort im Bilde, lachte mir Beifall und sagte nur in zärtlichem Tone "Schweinehund!" Es tat ihm nicht weh: er hatte den größten Wechsel von uns allen.

Das war der erste Kreis meiner Jugendfreunde. Er flog bald in alle Winde, aber mir wurde Ersatz in einigen Menschen großen Formats. Da war ein Försterssohn aus Cremmen in der Mark in die "Hevellia" eingetreten, ein bildschöner schlanker Bursch mit großen strahlenden Augen unter einer hohen lichten Stirn. Er hieß Richard Dehmel. Der schloß sich mir aufs engste an; er wurde mein Leibfuchs und später mein Schwager. Ein schwacher Fechter; aber er "stand" wie eine Mauer und brachte dieselbe Gläubigkeit und noch viel mehr Schwung in die Burschenschaft ein wie ich. Er war mit Leib und Seele dabei. Ich fand unter meinen alten Briefen einen, in dem er mir schrieb, es sei doch vielleicht das höchste Ziel, an einer Kugel als forscher Bursch zu sterben. Es schwebte damals eine "Pistolenkiste", aus der zum Glück nichts wurde; sie hätte Deutschland [S.108] vielleicht einen seiner besten Männer und größten Dichter gekostet:

Hier ein Römer voller Rheinwein,
dort ein Paßglas voller Dünnbier,
's wär doch schade, jammerschade.

Das steht in Baumbachs "Pate des Todes". Es hat sich mir eingeprägt, weil zu der Zeit, als Baumbach große Mode war, zwei meiner nächsten Freunde im Pistolenduell fielen: mein Konfuchs Belgard in Freiburg und mein guter Freund Blum. Aus jenem Briefe sprach deutlich genug das Grauen vor dem Philisterium, dem "bürgerlichen Beruf", in das sich das freie Waldtier doch für einige schwere Jahre fügen mußte, als er meine Paula heiratete. War das ein Stürmer! Brausende Leidenschaft, "skythisch wilde Sinnlichkeit", die hat er sich in seinem Gedicht "Ein HeineDenkmal" selbst bescheinigt. Ein Rebell bis in die letzte Kleinigkeit hinein. Er bewarb sich sogar um Redakteurstellungen in Briefen, deren wundervolle Handschrift wohl den gebildeten Mann und zugleich den Künstler verriet, deren Orthographie aber ganz seine eigene war. Er war jedes Semester für ein anderes Fach immatrikuliert: Theologe, Mediziner, Naturwissenschaftler, wenn ich nicht irre, und machte dann, um einen Abschluß zu haben und heiraten zu können, seinen Doktor in Nationalökonomie, einer Wissenschaft, von der er ganz bestimmt drei Monate zuvor nicht das mindeste gewußt hatte, mit einer Arbeit über die Feuerversicherung. Sie trug ihm die Stellung als Sekretär eines Verbandes ein, in der er, Pegasus im Joch, sich quälte, bis Tante Auguste, Paulas gute Pflegemutter, dem Paar eine kleine Rente hinterließ, von der es sehr bescheiden leben konnte. Und doch war jene Zeit des Drucks seine fruchtbarste Zeit, seine herrlichsten Gedichte entstanden damals. Ich möchte glauben, daß es dem Künstler ganz im allgemeinen grundsätzlich sehr gesund ist, wenn er im Hauptamt ein Handwerk ausübt, von dem er lebt: er braucht dann nicht von der Kunst, er kann für die Kunst leben. Die Spartaner wußten, warum sie das Gesetz erlassen hatten, daß der Mann seine Frau nur heimlich besuchen darf: alle Sehnsucht wird gespannt, wo ihr Hindernisse im Wege stehen, und alle Inbrunst erlischt leicht, wenn der Weg zum Ziele gar zu offen liegt.

Einige seiner schönsten Gedichte hat Richard auf meinem Sofa in der Eichendorffstraße gemacht. Er war einmal wieder von Hause [S.109] verstoßen, sein Gönner, der Jagdpächter seines Vaters, hatte sich von ihm losgesagt, und er war ohne Mittel. Ich teilte meine Bude und mein Stundengeld mit ihm. Da las er mir, wenn ich aus der Klinik heimkam, die Verse vor, z. B. das prachtvolle Gedicht, das mit den Worten beginnt: "Oh, wenn der Kuß doch ewig dauern möchte", und das damals noch schloß: "0 Anna, Anna, komm in meine Arme."

Die Anna! Ich sage nicht, wie sie mit ihrem Vatersnamen hieß, und nicht, wo sie wohnte. Denn ich habe sie wiedergesehen! Als ich eines Tages, noch in Berlin, die Vorlesung beendet hatte, stand ein ziervolles altes Dämchen vor mir, die grauen Löckchen an den Schläfen kunstvoll gebrannt, auf dem feinen Näschen einen Zwicker: Herr Professor, kennen Sie mich noch?" Und auf mein verlegenes Kopfschütteln: "Ich bin die Anna ."  Mehrfache Großmutter in Ehren! Und was war es für ein süßes, heißes Mädel gewesen! Die beiden flammten, wenn sie sich sahen; daß sie wirklich jemals zusammengeflammt seien, bestritt sie mit tugendhafter Entrüstung. Ogottogottogott: "Schön war die Jugend, sie kommt nicht mehr."

Was soll ich viel von Richard erzählen? Man kennt sein Leben und sein Werk. Ich denke an seine Hochzeit, wo die Freunde, Carl Ludwig Schleich und die anderen, die wunderbare Streichmusik darbrachten, und er sich selbst die Traurede hielt, so gotteslästerlich und doch so von Herzen fromm: "Ich bin der Herr, dein Gott, du sollst mich ehren" und dann das Gegenversprechen: "Ich will dich heiligen." Ich denke an die vertrauten Abende an seinem Tische, erst in der Lothringer Straße 15, dann im Gartenhause in Pankow, an unsere unerhört schöne Wanderung durch die oberbayerischen Berge, hinauf zur Benediktenwand, wo über dem Abgrund am Kreuz das herrliche Gedicht entstand: "Noch einen Schritt, dann stürzt dein Leben zerschmettert in die Schlucht hinab", und weiter unten die trotzigen Verse: "Ich kam mit meiner Alpenstange". Damals arbeitete ich in Tutzing am Starnberger See an meiner "Siedlungsgenossenschaft"; es war im Sommer 1895. Wir waren beide voll von unseren Entwürfen, und unser Gespräch ging durch alle Himmel und Höllen. Schleich nannte das "Koks abladen". Dieser Gedankenaustausch in dieser Natur: ich habe nie wieder so Großes erlebt. Er hatte damals seine Periode des heiligen Franziskus oder Buddha. Auf den Almen unter der Benediktenwand waren wir von ganzen Wolken von Viehbremsen umgeben, die ich inbrünstig hasse; ich muß [S.110] irgendeinen Geruch an mir haben, der die Bestien wild macht; sie stürzen sich namentlich wie toll auf meine Ohren. Ich schlug verzweifelt um mich; er schritt unberührt voran und sagte lächelnd: "Du mußt sie lieben." Er ging weiter nach Tölz, meiner Erinnerung nach zu Dauthendey, dem franziskanischen Seelenverwandten, ich kehrte an meine Arbeit zurück. Dann hat uns das Leben eine Zeitlang getrennt; ich mußte meiner Schwester selbst dazu raten, sich scheiden zu lassen, nicht wegen der Untreue, die die sehr kränkliche Frau dem stürmischen Manne gern verzieh, sondern weil dieser Vivisektor der eigenen Seele auch mit denen der anderen in göttlicher Grausamkeit experimentierte: "Oh, Geliebtes, deine höchste Wonne und dein tiefster Schmerz sind mein Glück." Ich mußte ihm schreiben: "Ich weiß nicht, ob Du ein Übermensch oder ein Unmensch bist, ich kann nicht mehr mit Dir gehen." Wir haben uns beide schwer entbehrt und waren froh, als Paula, ein Herz, so groß, wie es nur der durch schwerstes Leid geläuterte Mensch werden kann, restlos verzieh. Und wir waren froh, uns wiedergefunden zu haben. Dann starb Paula, 1918, und keine zwei Jahre später ging auch er zu den Schatten, ein Opfer des Krieges, zu dem er sich im Alter von einundfünfzig Jahren freiwillig gemeldet hatte, nicht aus Hurrapatriotismus, sondern aus dem Gefühl der tiefsten sozialen Verpflichtung, wie er mir sagte: seine sozialistische Jugend trieb ihn; die aufsteigende Welle des Sozialismus, der damals noch gläubig war, hatte ihn zu der Höhe emporgetragen, die seine große Zeit auszeichnet, die Zeit, in der die ewigen Gedichte entstanden: "Die Mühle", "Der Arbeitsmann", "Zu enge" und vor allem das erschütterndste: "Der Märtyrer". Als die Welle sank, als der Glaube verflog, als das Salz des Sozialismus dumm wurde, war es für ihn aus mit der großen Kunst. Ich darf meinem Schicksal danken, daß es mir den Glauben erhielt.

Lieber als an diese letzte Zeit einer tiefen und stürmischen Männerfreundschaft denke ich an die glückseligen Stunden, die ich in seinem Elternhause am Cremmerdamm verbrachte. Es wurde auch mir fast ein zweites Elternhaus, seine beiden blonden Schwestern, Lotte und Hanne, seine beiden Brüder, Otto der Brauer und Karl der Müller, wurden mir wie Geschwister. Noch heute sagen Lottes Kinder "Onkel" zu mir, und ich glaube, ich bin ihr liebster Onkel. Seine Mutter, eine schlanke Frau, "grade wie ein alter Ritterspeer", sagt Gottfried Keller, war die freundliche Seele des Hauses, eine sanfte [S.111] kluge Frau, eine echte Mutter, die ihre wilden Jungen mit einem bittenden Wort zu Kreuze kriechen ließ. Sie ist, steinalt, über neunzig, erst vor ganz kurzer Zeit ihrem Gatten gefolgt. Der war knorrig, wie einer der Stämme seines Eichenhains, scharfe Hakennase zwischen zwei blitzenden, dicht zusammenstehenden Augen, mächtiger grauer Vollbart, der es doch nicht vermochte, den um die Lippen spielenden Schalk ganz zu verstecken. Er wurde mein Lehrmeister in der edlen Jägerei; so sehr er mich liebte, er konnte es nie unterlassen, mir einen lustigen Streich zu spielen. Gleich das erstemal, als er mir die Flinte gab und mich am Rande eines Hölzchens anstellte, während er selbst mit den anderen als Treiber "durchtrat", verspottete er mich mitleidlos, weil ich meinen ersten Hasen gefehlt hätte; und der lag doch mausetot vor seinen Augen: der arme Lampe war, wie ich das später oft gesehen habe, mit den Schroten im Leibe noch dreißig Meter gelaufen, ehe er sich hintat, und ich konnte es nicht sehen, weil die Waldecke dazwischen war. Dann setzte er mich eines Abends auf einen Hirsch an, in der "Adderlake"; unzählige Mücken haben dort im Moor ihre Brutstätten. "Nicht das Auge im Kopfe rühren, sonst ist der Geweihte heidi", belehrte er mich, als er mich bei sinkender Sonne allein ließ. Ob er wirklich dort einen Hirsch ausgemacht hatte, weiß ich nicht; die Spuren hatte er mir nicht gezeigt. Jedenfalls sah ich an diesem Abend kein Wild, aber die Mücken sahen oder rochen mich. Und ich durfte doch kein Auge im Kopfe rühren! Ich war heilfroh, als das Büchsenlicht geschwunden, und die Zeit zum Heimmarsch gekommen war; ich konnte am nächsten Tage kaum durch die verschwollenen Lider sehen. Ein andermal stieg der alte Schelm morgens um halbdrei Uhr aus dem Bette, nur um die jungen Hähne aus dem Stall zu lassen. Ich war an diesem Abend erst am anderen Morgen von einem Tanzvergnügen mit Richard nach Hause gekommen. Die lieben Vögel setzten sich auf das Spalier vor den Fenstern meines Stübchens und gaben sich Gesangsstunde, stundenlang, stundenlang! "Solch ein Lied, das Stein' erweichen, Menschen rasend machen kann." "Na, Fränzeken, wie haste geschlafen?" Ich war ihm aber dieses Mal gewachsen: "Ganz ausgezeichnet, Onkel Dehmel."  "Nischt gehört?" Ich log schamlos: "Nee, wat denn?"

Ach, unsere meilenweiten Streifen mit der Flinte auf der Schulter und dem getreuen Tell an unseren Hacken, durch das große Revier des Stadtforsts und über die weiten Feld und Wiesengründe, wo die [S.112] Völker der Rebhühner lagen! Er war ein bedachtsamer Mann, von dem ich unendlich viel über Welt und Menschen gelernt habe. Er ließ sich kein X für ein U machen. Ich segne sein Angedenken.

[S.113]

STURM UND DRANG

Richard Dehmel lebte in Neunkirchen als sehr widerwilliger und widerborstiger Tintenkuli einer Zeitung, die dem "König Stumm" leibeigen war, als die Trennung zwischen mir und der "Hevellia" sich vollzog. Er nahm empört meine Partei; die Folge war, daß man ihm einen Prozeß machte und ihn wegen Unterschlagung von Couleurgeldern cum infamia dimittierte, d. h. ehrlos machte. Er appellierte an den allgemeinen Verband in Eisenach und erreichte seine glänzende Rechtfertigung. So hatte auch er die bundesbrüderliche Treue kennengelernt! Viele Jahre später, so erzählte er mir, bot die Burschenschaft dem nunmehr berühmten Dichter, der sich als "Tafelaufsatz" so ausgezeichnet gemacht hätte, das AlteHerrenBand an. Er lehnte kühl ab. War über all den verstaubten Kram auch weit hinausgewachsen!

Er kehrte dann nach Berlin zurück und schloß sich unserer kleinen Gruppe junger Stürmer und Dränger an. Zu ihr gehörte zunächst mein Jugendfreund und späterer Schwager  er heiratete die Schwester meiner ersten Frau  Moritz Posener, ein vielseitig begabter Mensch, der lange schwankte, ob er nicht lieber Geiger werden sollte, bevor er sich für die Malerei entschied. Er war ein bildschöner Krauskopf; ich sah einmal, wie eine Dame, die uns in der Straßenbahn gegenübersaß, als sie ihn bei zufälligem Aufsehen erblickte buchstäblich mit offenem Munde in verzücktem Erstaunen erstarrte. Wenn er bei den Künstlerfesten als Zigeunerprimas die Geige spielte, waren die Frauen um ihn wie die Bienen um den Honigtopf. Er ist ein tüchtiger Porträtmaler geworden. Er war ein großer Sinnierer über die Kunst im allgemeinen und die Technik seiner Kunst im besonderen, an der er rastlos herumpröbelte. Er verließ bald die Berliner Akademie, mit Recht, denn ihr Direktor war damals Anton von Werner, und die "Schinkenmalerei" war Trumpf. Er war einer der ersten leidenschaftlichen Verfechter der neuen Freilichtmalerei; eine ganze Kolonne junger Maler, von denen der bedeutendste ein gewisser Neunzig war, hausten zusammen in Prenden unweit Bernau in der Mark und porträtierten einen Kohlgarten nach dem anderen, soweit sie nicht den übermütigsten Unfug trieben, an dem wir uns gelegentlich aus Herzensgrund beteiligten.

[S.114] Zu unserem Kreise gehörte ferner ein anderer junger Maler, der verwachsene, aber ebenfalls aufregend schöne Hanetzog, auch ein großer Theoretisierer in Fragen der Kunst. Er malte damals an einem ungeheuren Schinken; ich habe vergessen, was der Gegenstand war. Er ist meines Wissens nie fertig geworden, angeblich aus dem Grunde, weil die Modellgelder fehlten.

Weitaus der bedeutendste Kopf und neben Dehmel der größte Künstler dieses Kreises, aus dem ich allein noch überlebe, war der Mediziner Carl Ludwig Schleich, der Sohn eines wohlhabenden Geheimen Sanitätssrates aus Stettin, eines rüstigen alten Herrn, dem ich das herzlichste Gedenken bewahre. Auch er war ein besonders stattlicher Mensch; zu seinem hellen, leichtsinnigen Gesicht stand der blonde gewellte Schnurrbart prächtig. Er wurde uns durch seinen Vetter, den Mediziner Schreckhaase, zugeführt, der für ihn schwärmte, und in der Tat wurden unsere Erwartungen noch übertroffen. Einer der begabtesten Menschen, denen ich je begegnet bin! Er hat zunächst als Mediziner insofern bahnbrechend gewirkt, als er die sogenannte Lokalanästhesie erfand. Ich habe ihm damals regelmäßig assistiert, wozu mir meine eigene, damals schon eingeschrumpfte Praxis die Zeit ließ. Er hatte sich im südlichsten Hause der Friedrichstraße, an der Ecke des Belle AlliancePlatzes, als Chirurg und Frauenarzt niedergelassen. Das Verfahren bestand darin, daß man im Unterhautgewebe durch Einspritzen eine Quaddel bildete, die sofort unempfindlich war. Hier stach man wieder ein, um die zweite Quaddel zu bilden, und so fort, bis das ganze Operationsgebiet unempfindlich war. Er nahm zuerst schwache Kokainlösungen, aber wir überzeugten uns bald, daß destilliertes Wasser das gleiche leistete: es war nur der Druck der Flüssigkeit, der die Nervenendigungen leitungsunfähig machte. Seinen ersten Versuch hat er an meinem rechten Unterarm angestellt. Als er, nachdem eine Reihe erst kleiner, dann ganz großer Operationen vollkommen geglückt war, in der Medizinischen Gesellschaft über sein Verfahren berichtet hatte, herrschte vernichtendes Schweigen; niemand glaubte ihm, man meinte, einen Marktschreier vor sich zu haben. Als Virchow, der Vorsitzende, fragte, ob jemand das Wort wünsche, meldete sich niemand. Es wäre eine schwere Niederlage geworden, wenn es mir nicht, um mit Dehmels Worten aus der "Lebensmesse" zu sprechen, so gegangen wäre wie seinem Helden: "Da riß mich mein Herz vom Platze." Unter eisigem Schweigen der Versammlung betrat ich, ein wenig verlegen, aber in [S.115] heiliger Empörung über die sich vor meinen Augen vollziehende schwere Unbill und Ungerechtigkeit, das Podium: "Ich habe dem Kollegen Schleich bei den sämtlichen Operationen assistiert und kann seine Angaben nur Wort für Wort bestätigen." Dann schilderte ich unsere Erfahrungen: wie ein Patient bei einer schweren Bauchoperation seelenruhig seine Zigarre geraucht hatte und so weiter. Besonders eindrucksvoll aber war die Schilderung eines charakteristischen Falles. Ein sehr ängstliches Kind wehrte sich verzweifelt gegen die Operation, so daß wir ihm die Chloroformmaske auflegten. Da aber bat es jämmerlich: "Ich will ganz artig sein, Onkel Doktor, nimm nur die schreckliche Maske weg", und es lag völlig ruhig, während wir eine Drüsenausräumung vornahmen, die uns zwischen den großen Halsgefäßen bis auf die Wirbelsäule führte. Plötzlich aber schrie es erbärmlich: "Meine Brust, meine Brust." Erschrocken sah ich nach: eine der gekrümmten Nadeln lag mit der Spitze auf der Haut, ohne sie verletzt zu haben. Man kann aus der übergroßen Empfindlichkeit für diese zarte Berührung ermessen, wie vollkommen schmerzlos die eigentliche Operation verlief. Merkwürdigerweise glaubte man mir, wie ich denn überhaupt das Glück habe, daß man mir überall und immer den guten Glauben zugebilligt hat, und es war ein starker Erfolg, der sich praktisch allerdings vorläufig nur dahin auswirkte, daß die Ärzte selbst, wenn sie eines Chirurgen bedurften, sich nach dem neuen Verfahren operieren ließen. Schleich dichtete mich am nächsten Tage an. Mir ist noch der eine Vers im Gedächtnis geblieben:

"Hei, da kamst Du hinterm Busche,
wackrer Fechter, hergelaufen
und mit blitzender Kartusche
warfst Du Dich in ihren Haufen."

Meine Erwiderung im gleichen Versmaße schloß:

"Keinen Dank, wir sind zwei Steiger,
aus der Einsamen Gemeinde.
Droben reichen sich die Schweiger
fest die Hand und sind sich Freunde."

Die Freundschaft hat denn auch bis zu dem allzu frühen Tode des großen Menschen gewährt.

[S.116] Er war auch sonst ein Mediziner von Ideen, wenn auch vielleicht nicht der vollkommene Techniker des Handwerks. Er hatte seine besonderen Vorstellungen über die Mechanik des Gehirns; er faßte die Zwischensubstanz, die Neuroglia, als eine Art von Isoliermaterial auf, das die Nervenerregungen "schaltet". Er hat diesen Gedanken wissenschaftlich und in einigen seiner sehr bekannten Bücher, z. B. "Es läuten die Glocken" und "Vom Schaltwerk der Gedanken" vertreten, ohne, soviel ich weiß, den Beifall der Fachleute erringen zu können. Mir fehlt die Kompetenz zur Entscheidung dieses Problems.

Damals und etwas später bei dem Skandal, den sein unvorsichtiges Auftreten vor dem Deutschen Chirurgenkongreß hervorrief (er hatte sich unterfangen, auszusprechen, daß es ein "Verbrechen" sei, jetzt noch weiter ohne Not die immerhin gefährliche Allgemeinnarkose anzuwenden), habe ich einen Vorgeschmack davon bekommen, was es bedeutet, in wichtigen Dingen mit neuen, umstürzenden Anschauungen vor die Fachwelt zu treten. Nichts besser als der Fachmann, wenn es sich um bekannte und anerkannte Dinge handelt; nichts ärger als der Fachmann, wenn es sich um neue, erst durchzukämpfende Dinge handelt! Wer ihm zumutet, umzulernen, ist sein Feind und wird schonungslos bekämpft. Ich könnte davon ein Liedchen singen.

Schleich war aber mehr als nur ein Mediziner von Rang. Er war ein Cellist von Gnaden; er war die Säule der Kammermusik in meinem Hause, in der mein Mitschüler Alfred Lewandowski, ein junger Arzt, der Sohn des hervorragenden Chordirigenten der jüdischen Gemeinde, die erste, mein Schwager Posener die zweite Geige und mein Vetter Franz Davidson, ein Schüler Joachims, jetzt Kapellmeister in Buffalo, die Bratsche spielte. Er spielte außerdem trefflich Klavier, er schrieb eine glänzende Prosa und versuchte sich nicht ohne Erfolg an Novellen und anderen Dichtungen; er malte nicht übel, vor allem, wie sein Oheim, der bekannte Schleich, Landschaften; freilich betrieb er diese Kunst vorwiegend nur aus dem Grunde, um die von ihm erfundenen Farben zu probieren; er hatte das verlorengegangene Verfahren wieder entdeckt, Wachs in Wasser löslich zu machen, und benutzte diese Substanz außer zu wertvollen Salben und einer neuen, aus Wachs und Marmorstaub gemischten Seife, die die Hände vollkommen und viel schneller und ohne Schaden für die Haut sterilisierte als die bisher üblichen Verfahren, auch für die Erzeugung von Malfarben. Seine herrlichste Gabe aber war sein Gesang.

[S.117] Er hatte einen prachtvollen Heldentenor; sein Lieblingsmeister war sein Stettiner Landsmann Loewe, dessen Kompositionen er sämtlich in den ersten Originalausgaben besaß und uns gern hören ließ. Nicht einmal von Gura habe ich den "Oluf" und den "Douglas" so hinreißend vortragen hören; und wenn er die Schlußstrophe von "Prinz Eugen" sang und die Stimme zu ihrer vollen Gewalt erhob, so glaubte man wahrhaftig, eine ganze Schwadron im Chorgesang zu vernehmen. Einmal saßen wir Freunde an einem warmen Sommerabend in einem großen Gartenrestaurant zusammen; wir sprachen von Eichendorff, den wir alle liebten (welcher Deutsche würde ihn nicht lieben, ihn und Mörike?), und da hub er plötzlich an zu singen: "Es zogen zwei rüst'ge Gesellen"; die wunderbare Stimme schwebte über den Bäumen wie eine weiße Taube, und es war wie in der Loeweschen Ballade vom "Nöck": "Die Bäume neigen sich tief und schweigen." Das Stimmengewirr verstummte plötzlich, die Kellner standen wie angewurzelt, kein Teller klirrte. Und als die letzten Töne verklungen waren: "Herrgott, führ' uns liebreich zu dir", da brach ein Beifallsjubel aus, ein Dacapogebrüll und Schleich warf ein Geldstück auf den Tisch: "Kommt, Jungens, kommt schnell!" Und wir fuhren aus dem Garten, als hätten wir gestohlen.

Dieser intime Kreis kreuzte sich mit anderen Kreisen. Selbstverständlich waren wir alle Mitglieder der eben entstandenen "Freien Bühne" und erlebten erschüttert den Aufstieg der neuen Kunst des Dramas. Hier lernte ich Gerhart Hauptmann kennen, zu dem ich in den letzten Jahren, nachdem wir lange nichts voneinander gesehen hatten, wieder in herzliche Beziehungen treten durfte, hier seinen Schwager Moritz Heimann; Max Marschalk, der Bruder der beiden Frauen, war mein Mitschüler, und ich war einige Male in seinem elterlichen Hause, als Frau Gerhart Hauptmann noch kurze Kleidchen trug: damals trugen die erwachsenen Frauen noch lange Kleider. Auch mit Arno Holz traf ich zusammen, während ich Johannes Schlaf erst später bei meiner Schwester Paula kennenlernte, mit der er innig befreundet war, ferner mit Hermann Bahr, der damals ein bildschöner, gertenschlanker Bursch war; ihm hing die oberösterreichische Rauferlocke drohend über die Stirn. Er hatte die flüchtige Bekanntschaft vergessen, als er sich an einem meiner Bücher erwärmte und es in seinem "Tagebuch" über Gebühr herausstrich. Wir haben dann die Bekanntschaft erneuert. Als er kürzlich eine Karte an mich mit den trüben Worten unterzeichnete: "Die [S.118] schäbigen Reste von Hermann Bahr", fragte ich erschrocken an, ob er leidend sei. Ich meinerseits sei zwar nicht mehr zwanzig Jahre, aber machte es doch noch leidlich. Darauf schrieb er lakonisch zurück: "Ist es denn nicht schlimm genug, wenn man nicht mehr zwanzig Jahre ist?!"

Durch die beiden Male kamen wir in enge Berührung mit der übermütigen Bande von Kunstakademikern, die sich in einem Verein, der "Pallas", zusammengefunden hatten. Ich war häufiger Gast in den Ateliers der Akademie. Unter diesen Meisterschülern war auch Ludwig Krüger, dem Otto Erich Hartleben in seiner reizenden Novelle: "Der römische Maler" das fröhliche Denkmal gesetzt hat. Er hat mich dann 1894 in Rom geführt, daß es ein Entzücken war; ich habe Herrlichkeiten zu sehen bekommen, die nur der Eingeweihte kennt, und er hat unseren Pakt treulich gehalten, meine allzu schmale Reisekasse nicht, wie es sonst seine berechtigte Eigentümlichkeit war, durch einen Pump zu erleichtern. Selbstverständlich war er während dieser Tage mein Gast, aber er kannte sein Rom so ausgezeichnet, daß es für uns beide billiger war, als es mich allein gekostet hätte. Überall wußte er ein liebes Kneipchen, wo man für ein paar Centesimi gut und reichlich speiste. Er hat mir den einzigen Guido Reni gezeigt, dem ich jemals Geschmack abgewinnen konnte: in der Apsis eines winzigen Kirchleins, weit draußen hinter dem Kolosseum, das Freskenbild eines Engelkonzerts, zart, fröhlich, süß und doch nicht im mindesten kitschig. Und was für ein Künstler in diesem verbummelten Menschen steckte, erlebte ich, als wir Pietro in Vincoli besuchten. Wir traten in die dämmernde Kirche, und da saß hinten rechts in einer Nische ein zorniger Gott, die eine Hand in den gewaltigen Bart vergraben, die andere um die Lehne des Sessels geklammert: im nächsten Augenblick wird er aufspringen, um die Frevler zu zerschmettern: Michelangelos Moses! Und Krüger flüsterte: "Wenn hier Barbaren eindrängen, die würden sich scheu herausschleichen." Mein Detlev Liliencron hat dem gleichen Gefühl herrlichen Ausdruck gegeben, im Poggfred, in dem Cantus von der Sintflut:

Und da saß Mose, der Gesetzeskünder,
Ein erster Heiland aus dem Menschenpfuhle.
Mit seinen Brauen bändigt er die Sünder.

[S.119] Aus der "Pallas" hervorgegangen war noch eine andere Gruppe, die einen geradezu genialen Unfug trieb: der "Allgemeine deutsche Reimverein". Der friesische Dichter Jacobsen und ein bekannter Schlachtenmaler hatten ihn begründet. Er gab eine Zeitschrift heraus, "Die Äolsharfe"' und behauptete, ein Reimlexikon vorzubereiten, um Strebsamen die Dichtkunst beizubringen. Als Übung wurde empfohlen, irgendein bekanntes, zunächst kürzeres Gedicht "umzudichten", wozu man die erforderlichen Reime in dem Lexikon nachschlug. Es entstand z. B. das folgende hinreißend schöne Poem:

"Über allen Ulmen
ist Ruh;
in allen Kulmen
spürest du
kaum einen Hauch.
Die Vöglein schweigen in der Ulme,
wart' nur, im Mulme
ruhest du auch."

Jacobsen schrieb die wunderbarsten Beiträge unter dem Kriegsnamen "Hunold Müller von der Havel". Der Name Hunold war damals durch Julius Wolfs "Rattenfänger" bei dem Philister höchst volkstümlich und uns Literaturrebellen besonders verhaßt, die wir diese ganze "Marlitteratur" (Apollo mag mir den Kalauer verzeihen!) empört ablehnten. Und der Zusatz "von der Havel" mag vielleicht im Angedenken an Gottfried Kellers köstliche Novelle "Die vertauschten Liebesbriefe" angenommen worden sein, in der ähnlich benamste "Dichter" der Provinzfamilienblätter die ergötzlichste Rolle spielen. Dann war da noch ein anderer hochbegabter "Kommender", der an einer phantastischen Krankheit litt: er sah in regelmäßigen Intervallen mehrere Tage lang weiße Mäuse. Hier wurden auch die ersten Schüttelreime ausgebrütet. Abschied des Matrosen: "Sie reicht ihm den letzten Mutterkuß, weil er jetzt auf den Kutter muß", oder die erschütternde Ode vom trichinösen Schwein:

Denn du bist kein reinlich Schwein,
weil du bist nicht schweinlich rein.
Wer wird deinem Sauer trauen,
traurigste der Trauersauen?

[S.120] Das einzige Mitglied dieses seltsamen Vereins, das an seine Ernsthaftigkeit wirklich glaubte, war Schlesiens große Dichterin Friederike Kempner, damals durch eine zwerchfellerschütternde Anzeige ihrer Gedichte aus Paul Lindaus Feder über die Grenzen ihrer engeren Heimat hinaus bekannt geworden war. In Breslau kannte sie schon längst jedes Kind, und es gab kaum eine "Studentenmimik", in der sie nicht auf den Brettern erschien, um zumeist am Schluß vom Teufel geholt zu werden. Eins ihrer schönsten Gedichte, durch das sie sich die ewige Unsterblichkeit und einen Dauerehrensitz auf dem deutschen Parnaß erworben hat, lautete:

In den Augen meines Hundes
liegt mein ganzes Glück.
All mein Krankes, Sieches, Wundes
heilt in seinem Blick.

Und so schmückte denn auch das Bild dieser modernen Sappho, in das Auge ihres Hundes blickend, das Hauptquartier der Bande, eine Seglerbude am Tegeler See, von wo sie zu den wahnsinnigsten Expeditionen ausschwärmte. Einmal fuhren wir, sämtlich auf das extravaganteste maskiert, lange nach Mitternacht noch ins Café Bauer, Posener diesmal nicht als Zigeunerprimas, sondern als ein greulicher Strolch, dem die mit größter Kunst blau und grün gemalten Zehen aus den zerrissenen Stiefeln ragten. Auf dem Kopfe trug er einen Zylinderhut, dem mit hoher Geschicklichkeit ein Aussehen verliehen worden war, als sei er als Prachtstück aus dem Museum der Müllverwertungsanstalt geliehen worden. Er setzte sich etwas entfernt von den anderen hin, so daß die Kellner ihn ratlos anstarrten: gehörte er zu den anderen Verrückten oder nicht? An unserm Tisch bestellte einer, bei dem die französische Bezeichnung der Karte dumpfe Erinnerungen an seine Schulzeit erweckte, folgendermaßen: "Apportez moi une ponche romaine", der Nächste: "et à moi une ponche de sommeil" und Georg Steindorff: "et à moi un verre d'eau  par Scribe".