»Marktwirtschaftliche Selbststeuerung« und »gemeinwirtschaftliche Selbsthilfe«

- Zur Politischen Ökonomie einer ostdeutschen Gesundungsstrategie -

In: Arbeit. Zeitschrift für Arbeitsforschung, Arbeitsgestaltung und Arbeitspolitik, 1993, S. 242-263.

[S. 242] Abstract: Die Soziale Marktwirtschaft wurde in der Bundesrepublik praktisch von Ludwig Erhard eingeführt, der sich in wesentlichen Punkten auf die Lehre seines Doktorvaters Franz Oppenheimer bezieht. Von diesen Ursprüngen abweichend "sind in der Wirtschaftstheorie Paradigmata dominant geworden, die kein Verständnis für die Wirtschaftspolitik Ludwig Erhards erwarten lassen" (Wünsche). Die ökonomische Strategie der Deutschen Einheit leidet nun nach Auffassung des Verfassers vor allem unter dem Verlust der Fähigkeit, Wirtschaftspolitik unter soziologischen Aspekten zu betreiben. Der Beitrag zeigt von der praktischen Seite, daß die Motive der Akteure vielfach nicht berücksichtigt wurden und dem Scheitern der Politik ein Rückschritt der Wirtschaftswissenschaft vorangegangen ist. Abschließend werden die Potentiale gruppenwirtschaftlicher Selbsthilfe behandelt.

1. Die Problemlage

Die Rückumwandlung zentraler Planwirtschaften verläuft in Deutschland und den ehemaligen RGW-Länder weitgehend ohne theoretische Grundlage. Welche sozialen und politischen Risiken sich aus einem eventuellen Scheitern der Transformationsstrategien ergeben könnten, machen die täglich erscheinenden Schadensmeldungen immer deutlicher. Grund genug sich mit der Frage zu befassen, warum der [S. 243] Prozeß mit so vielen Irritationen einhergeht, was man hätte besser machen können, und was jetzt noch getan werden könnte.

Die erste Teilfrage verweist auf die wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisgrundlage, die in diesem Prozeß bei den Westakteuren zum Tragen kam und die selber dringend reformbedürftig ist. Klagten bereits vor dem zweiten Weltkrieg anerkannte Ökonomen darüber, »daß man sich über nichts einig sei als über die Tatsache der Uneinigkeit«[1], so wurde mit der neoklassischen Methode zwischenzeitig wohl ein vereinheitlichtes Beweisverfahren eingeführt. In die zugrundeliegenden Definitionen sind die Unzulänglichkeiten vorangegangener Theoriegenerationen dagegen ungefiltert eingegangen[2], weswegen sich die Menge behindernder Irrtümer, die sich der Entwicklung einer praxisrelevanten Theorie entgegenstellen, bis heute nicht nennenswert reduzieren ließ. Sofern sich in der Praxis irgendwelche Ereignisse einstellen, pflegt man diese im nachhinein theoriekonform zu interpretieren und unter die eigenen Prämissen zu subsummieren. Nahezu alle Prognosen und Ratschläge verfehlen dagegen ihr Ziel oder sind gar kontraproduktiv.

Der vorherrschende »Neoliberalismus«, der als Theorie behauptet, die Soziale Marktwirtschaft der Bundesrepublik herbeigeführt zu haben, hat sich diesen Stellenwert in zentralen Punkten machtstrategisch erschlichen[3], nicht jedoch verdient. Akzeptiert man Erhard als den »praktischen Baumeister der Sozialen Marktwirtschaft« und sieht, wer daraus legitimatorische Reputation im Theoriebereich zieht, dann muß die Feststellung des ehemaligen Erhard-Mitarbeiters und späteren Chefredakteurs der Ludwig-Erhard-Stiftung Horst Friedrich Wünsche (1986, 10f) zu Widerspruch anregen: "Der Frage nach Erhards ganz spezifischer Konzeption für die Politik der Sozialen Marktwirtschaft wurde noch nie tiefgründig nachgegangen. Wenn nach Erhards Politik jetzt gefragt wird, müssen seine Grundansichten neu rekonstruiert werden. Zunächst wäre wichtig, die Zielsetzungen Erhards präzis festzustellen und in ein in sich konsistentes System zu bringen. Dann könnten die Maßnahmen Erhards und schließlich die Auswirkungen der Erhardschen Politik analysiert werden. (...) Es müßte im einzelnen dargelegt werden, was Erhard aus welchen Gründen und mit welchem Erfolg tat. (...) Bedauerlicherweise jedoch sind in der Wirtschaftstheorie Paradigmata dominant geworden, die kein Verständnis für die Wirtschaftspolitik Ludwig Erhards erwarten lassen." Diese m. E. völlig korrekte Einschätzung von Wünsche sei an dieser Stelle nur durch eine Stellungnahme Erhards (1964, 5) ergänzt: "Man reiht mich gemeiniglich ein in die Kategorie der »Neoliberalen«. Es mag so geschehen, denn Gelehrte von Rang, von Walter Eucken [S. 244] angefangen, über Wilhelm Röpke, Alexander Rüstow zu Hayek und Franz Böhm, um nur einige zu nennen, haben im tiefsten Grunde Oppenheimersches Gedankengut in sich aufgenommen und in unsere Gegenwart übersetzt ..."

Es würde von dem eigentlichen Gegenstand des vorliegenden Aufsatzes zu weit wegführen, wenn an dieser Stelle neben der so schon schwierigen ostdeutschen Problematik auch noch das Theoriedefizit um Erhard bzw. der westdeutschen Wissenschaft angegangen würde. Gleichzeitig wird dem Leser auffallen, daß der Verfasser bevorzugt Schriften von Erhard und Oppenheimer zitiert. Dies hat seine Bewandtnis darin, daß der Verfasser seine Gedanken vielfach durch die Zitierten abgedeckt sieht und zwischen beiden eine bemerkenswerte Affinität erkennt, die an anderer Stelle aufgearbeitet werden soll.

2. Die Privatisierungsstrategie

Die Deutsche Einheit begann auf ökonomischem Gebiet mit der Akzeptanz einer zentralistisch-administrativen Nachfolgeorganisation zentraler Planwirtschaft, der Treuhandanstalt. Diese hat wohl in rasantem Tempo ihr Erbe abgestoßen und somit bald die zugewiesene Aufgabe erfüllt - doch zu welchem Preis!? Läßt sich sagen, daß die Produktionsstätten jetzt in den Händen produktiv tätiger Akteure liegen, daß von Anbeginn Initiativkräfte mobilisiert worden wären und daß die anders organisierte ostdeutsche Wirtschaftsregion mit geringem Schaden in die Marktwirtschaft überführt werden konnte? Fragen wir uns nach der Alternative zu diesem um Jahre verzögerten, täglich kostenden »Privatisierungsprozeß«.

Es hat m. E. der Gedanke nahegelegen, eine Währungsreform der Ost-Mark (nicht Währungsunion) mit einem Totalverkauf des »volkseigenen Vermögens« zu verbinden, das Volksvermögen also durch Splittung in privatvermögensfähige Anteile umzuwandeln und die verfügbare Westunterstützung für den Aufbau von weiterhin im Osteigentum stehender Unternehmen zu verwenden. Dafür gibt es viele Gründe.

Geldtheoretisch lag in der DDR ebenso wie in Deutschland nach dem Kriege eine »preisgestoppte Inflation« vor (vgl. Erhard 1977, 19f), die damals darauf beruhte, daß die Regierung durch die Ausgabe überschüssiger Zahlungsmittel bei gleichzeitig festgeschriebenen Preisen den Krieg finanzierte und die im Falle der DDR aus anderem Grunde mit gleichen Mitteln und gleichem Effekt in Szene gesetzt wurde. Die immensen Summen ausgegebener Zahlungsmittel, denen reale Gegenwerte fehlten, mußten nach dem Kriege bei ansonsten gleichbleibendem Arbeitswertmaßstab massiv abgewertet werden. Eben dieses Ziel einer Währungsreform der Ost-Mark hätte die Bundesregierung in voller Kenntnis des Paradigmas der »preisgestoppten Inflation« zumindest erwägen können und wäre mit obiger Strategie verknüpft sozialverträglich handhabbar gewesen.

[S. 245] Auf einer anderen Ebene liegt die mit der Währungsunion einhergegangene Umstellung der DDR-internen Gläubiger-Schuldner-Verhältnisse. Die DDR-Unternehmen erhielten ihre Schulden vom Staat zugewiesen. Es erfolgte keine Realbewertung der Unternehmen in irgendeinem marktgängigen Wertmaßstab (Gold, Güter oder knappes Geld), sondern so fiktiv der Geldwert zu DDR-Zeiten war, so fiktiv waren auch die Unternehmensschulden. Würde man heute alle österreichischen Unternehmen Schilling zu DM 2:1 umstellen, wäre jeder Gläubiger sofort um den vierfachen Realwert bereichert und jeder Schuldner um den vierfachen Realwert in der Pflicht. Genau auf diesen Kurs hat man die DDR-Gläubiger-Schuldner-Verhältnisse gebracht, wobei der größte (oder gar einzige?) Schuldner in der DDR der Staat bzw. die volkseigenen Betriebe waren. Indem die Bundesregierung die Guthaben der Gläubiger von Scheinwerten auf Realwerte umgestellt hat, hat sie sich selber in die Pflicht begeben und einen kurzfristigen, kreditfinanzierten Boom initiiert. Ausgestattet mit DM-Guthaben feuerten die Ost-Bürger kurzfristig die Nachfrage an, räumten die Westunternehmen ihre Lager und erzielten Gewinnrekorde, verkündete die Regierung einen aus erhöhten Steuereinnahmen finanzierbaren »selbsttragenden Aufschwung« und eine »Sonderkonjunktur«. Jetzt aber muß sie die volle Last der dahinterstehenden Schuldbeziehungen anerkennen und durch Steuerlasten finanzieren. Die kurzfristigen Nachfrageeffekte, erkauft mit einer langfristigen Belastung des Staatshaushaltes, sind seit Keynes eigentlich bekannt und diskreditiert.

Die Organisation eines Verrechnungsverfahrens »Geld gegen Volksbesitz« erscheint einerseits schwierig, ist aber dennoch leistbar[4]. Der Effekt wäre ein vielfacher gewesen: (1) jeder Bürger wäre Miteigentümer seines eigenen oder eines [S. 246] fremden Unternehmens geworden[5]; (2) die fiktiven Unternehmensschulden wären durch das eingebrachte Eigenkapital auf einen Schlag entfallen; (3) die finanzielle Grundlast der Einheit wäre entfallen und hätte in voller Höhe für Übergangshilfen und Aufbauleistungen bereitgestanden; (4) die Möglichkeiten sofortiger Privatinitiative und selbstverantwortlicher Lebensplanung wären gestärkt worden; (5) sämtliche Treuhand-Experten hätten für primäre Aktionen der Wirtschaftsberatung und Ausbildung etc. bereitgestanden.

3. Einzelwirtschaftliche Interessenlagen

Die deutsch-deutsche Vereinigung ist in vielerlei Hinsicht ein Vorgang, dessen Einzigartigkeit auf dem Umstand beruht, daß zwei Landesteile unterschiedlicher Wirtschaftskraft und verschiedener Rechtsordnung aufeinandertreffen, und aus dieser Verschiedenartigkeit heraus eine »Einheit« herzustellen versuchen. Erscheint die ökonomische Stärke der Alt-BRD auf den ersten Blick für die Reform der Ex-DDR wegen der über 150 Milliarden DM Ost-West-Transferleistungen von großem Vorteil, so relativiert sich die Vorteilsbewertung im Verlaufe einer soziologischen Analyse weitgehend. Indem zwei Gruppierungen unterschiedlicher Interessenlage und Machtvollkommenheit aufeinandertreffen, wurden die Selbstheilungspotentiale des ostdeutschen Wirtschaftsgebietes nicht angeregt, sondern zurückgesetzt. Die Vereinigungskonstruktion konnte m. E. keine in den Motiven betroffener Individuen wurzelnde konstruktive Eigendynamik entfalten, weswegen schlußendlich im Osten wurzelnde unternehmerische Initiativen eher rar geblieben sind.

3.1. Initiativkräfte zur Erlangung der Wettbewerbsfähigkeit

Um der ostdeutschen Wirtschaft zu eigenständiger Funktionsfähigkeit zu verhelfen, müßte der programmatische Auftrag aller intervenierender Einrichtungen lauten, daß die ostdeutschen Unternehmen so stark gemacht werden, bis sie sich gegenüber den westdeutschen Unternehmen am Markt behaupten oder gar durchsetzen können. Diese sachlogisch richtig formulierte Aufgabenstellung wurde von den West-Akteuren [S. 247] über weite Strecken jedoch eindeutig nicht verfolgt, denn daß ein starkes Ostunternehmen ein Westunternehmen niederkonkurrieren könnte, gehört zu den undiskutierten, aber zwangsläufigen Folgen einer erfolgreichen Sanierungspolitik, der in diesem Sinne jedoch kaum ein westverbundener Akteur frohen Herzens Vorschub leisten kann. Will man nicht einzig auf der Basis von Wunschvorstellungen zu einer Sanierungsstrategie finden, muß man sich zwingend den prinzipiellen Interessengegensatz von Unternehmen bewußt machen, die sich auf begrenzten Absatzmärkten feindlich gegenüberstehen[6] (sofern ihnen nicht bereits eine Unterhöhlung des Wettbewerbes durch Kartellbildung und Aufkäufe gelungen ist) und die jede Stärkung konkurrierender Unternehmen zwangsläufig als existentiell bedrohlich für die eigene Stellung und die eigene soziale Gruppe erfahren. Es heißt »den Bock zum Gärtner machen«, wenn man die Lösung ostdeutscher Existenzprobleme einem Personenkreis überantwortet, dessen »brennendes Interesse« an einer Gesundung der ostdeutschen Wirtschaft bereits nach der Theorie nicht gegeben ist. Wenn die negativen Auswirkungen des natürlichen Interessengegensatzes dann auch noch in der Praxis zu beobachten sind[7], muß man die ministerialen Vorstellungen als idealistische Fehlkonstruktionen einstufen.

3.2. Der »Erweiterungsbedarf« als Investitionsmotiv

Bereits in der alten Bundesrepublik gab es infrastrukturell voll erschlossene Randgebiete, in denen die Industrie nicht investiert hat, obwohl dort sämtliche wirkenden [S. 248] Nachteile der Ex-DDR nicht vorliegen. Warum sollte ein Unternehmen, das bislang keinen Grund für Investitionen in Friesland gesehen hat, nunmehr in Thüringen investieren? Die Antwort auf diese Frage liegt auf der Ebene des überhaupt als notwendig erachteten Erweiterungsbedarfes. Sind die Kapazitäten nicht ausgelastet, gibt es hier wie dort keinen Grund zur Investition. Laufen die Arbeitnehmer den Arbeitsplatzangeboten hinterher, gibt es auch keinen Grund, den Stammsitz zu verlassen, es sei denn, benennbare Standortvorteile oder Geschenke der öffentlichen Hand (Kaufpreis, spekulative Grundstücks- und Gebäudewerte etc.) lassen es unklug erscheinen, das Angebot einem Kokurrenten zu überlassen. Werden den Unternehmen jedoch Kaufangebote zu symbolischen »Preisen« von 1 DM[8] plus (nicht einklagbare) Arbeitsplatzgarantien offeriert, dann wird man damit allenfalls erreichen, daß die Unternehmen ihre Chancen auf Eigentumserwerb wahren. Auch mit spekulativen Wertsteigerungen lassen sich schließlich Gewinne erzielen. Sofern nicht gleichzeitig neue, mit Kaufkraft ausgestattete Märkte zu Kapazitätserweiterungen anregen, führen die Arbeitsplatzzusagen bestenfalls zu Produktionsstättenverlagerungen von West nach Ost.

Die Produktionskapazitäten gegebener Produktlinien waren zum Zeitpunkt der Einheit durchgängig nicht ausgelastet[9], und die erhöhte Nachfrage konnte mit den gegebenen Westkapazitäten und einigen Sonderschichten abgedeckt werden. Man betrachtet das Problem folglich grundsätzlich von der falschen Seite, wenn die Motive der Investitionsbereitschaft im zahlungskräftigen Westen gesucht werden. Genau umgekehrt muß der Nationalökonom sich fragen, was der Osten produzieren könnte, um mit dem kaufkräftigen Westkunden ins Geschäft zu kommen und insgesamt zu einem ausgeglichenen Güteraustausch zwischen den Wirtschaftsgebieten zu kommen. "Es ist eine ökonomische Binsenweisheit, daß es dem einen Partner nur gut gehen kann, wenn auch seine Mitspieler wirtschaftlich gedeihen. Mit Bettlern kann man keine Geschäfte machen." (Erhard 1957, 324)

Die Herausforderung lautet daher, den effizienzsteigernden Vorgang industrieller Spezialisierung und handelsmäßiger Integration so auszudehnen, daß eine größere Anzahl verschiedenartiger Spezialfirmen in dem gemeinsamen Wirtschaftsgebiet agiert, wogegen das Konzept einer Ausdehnung von West nach Ost an der Überkapazität West und dem unentwickelten Tauschangebot Ost scheitern muß. Eine ostdeutsche Gesundungsstrategie muß die Wurzeln originär ostdeutscher Wirtschaftskraft entdecken, die Kraft also in der Verschiedenartigkeit der deutsch-deutschen [S. 249] Denktraditionen suchen und zu deren Entfaltung das Existenzproblem zusammen mit den nötigen Handlungsfreiheiten an den Personenkreis Ost zurückverlagern.

3.3. Einschätzung von Technologie und Investitionsvolumen

Deutschland hat nach Ende des zweiten Weltkrieges, belastet mit einer zerstörten Infrastruktur, einer auf Kriegsgüterproduktion eingestellten Wirtschaft, mit Flüchtlingsproblemen, ungünstiger Bevölkerungsstruktur etc., trotz konkurrierender Weltmärkte einen glänzenden Aufschwung erfahren. Nun aber stellt sich auf dem Gebiet der ehemaligen DDR angesichts eines qualitativen Rückstandes von allenfalls 15 Jahren, der immer noch weit günstiger zu beurteilen ist als der Stand anderer RGW-Länder oder etwa der Entwicklungsländer, eine weitgehende Stillegung der vorhandenen Produktionssubstanz ein. Wie ist es zu erklären, daß in Ostdeutschland Produktionskapazitäten stillgelegt werden, die ein abgegrenzter und souveräner Ost-Staat fraglos nicht aufgeben würde, sondern zum Ausgangspunkt seiner Umstrukturierungsstrategie zu machen hätte? Meines Erachtens wird der technologische Rückstand der ostdeutschen Unternehmen sowie das dadurch bedingte notwendige Investitionsvolumen systematisch verzerrt dargestellt und wahrgenommen. Tatsächlich brachte der Systemwechsel vorhersehbare Probleme aufgrund des für Ostunternehmen neuen Kampfes um Absatzwege und der ungewohnten Orientierung am Kundengeschmack (Produktdesign). Lägen diese beiden Brüche nicht vor, könnte mit Ost-Technologie und Ost-Know-how tendenziell mindestens 80 % der Produktpalette des Westens hergestellt werden. Die depressiven Technologiebewertungen kommen dabei m. E. wie folgt zustande:

(1) Die Beurteilung der Ostbetriebe erfolgt in aller Regel aus der Perspektive des uninteressierten Käufers. Uninteressierte Käufer neigen jedoch nie zu objektiven Wertangaben, sondern spiegeln allenfalls ein ihrem subjektiven Desinteresse entsprechenden Unwert zurück.[10] Marktorientierung beginnt deswegen mit einer Sondierung vorhandener Interessenlagen und der Frage, wem ein Objekt etwas wert wäre. Dies ist mit der apriorischen Fixierung auf den wohl reichen, aber unwilligen Westkunden klar einseitig vorwegbestimmt worden. Unterstellt man den Westakteuren jedoch ein Aneignungsinteresse statt dem erwünschten Betätigungsinteresse, dann muß man dessen Handeln auch unter dem Aspekt möglicher Einkaufsstrategie betrachten bzw. sich fragen, welcher Mechanismus die damit einhergehenden Strategien der Vorteilsverschaffung abwehren kann. Der Herstellung eines transparenten und heterogen strukturierten Marktes, der den [S. 250] verschiedensten Akteuren mit unterschiedlichsten Kaufmotiven eine Übernahmechance einräumt, wäre die zu lösende Aufgabe. Es ist anzunehmen, daß ein Treuhand-Unternehmen für einen Interessenten aus dem Ausland, der auf dem deutschen Markt Tritt fassen will, oder für eine Belegschaft, die sich ihrem Abstieg in die Arbeitslosigkeit entgegenstemmen will, eine gänzlich andere Bedeutung besitzt als für die etablierten Westunternehmen. Denkt der Westunternehmer in Kategorien der »Vorteilssicherung«, so läge den markterobernden Wettbewerbern oder Belegschaften vermutlich mehr an einer produktiv-kämpferischen Selbstbehauptung.

(2) Auch in westdeutschen klein- und mittelständischen Unternehmen läuft noch manche Maschine aus den 60er Jahren. Ob sich in einem technischen Bereich in die Jahre gekommenes Gerät rentabel einsetzen läßt, entscheidet nicht die Zahl der Jahresringe oder das Abschreibungsdatum, sondern Pflege, Zustand und Funktion.[11] "Aufgrund der raschen Lohnangleichungen sind in den neuen Bundesländern auch Produktionskapazitäten entwertet worden, die nach relativ geringen Investitionen in Produktionstechnik und Produktqualität noch für eine Übergangsfrist hätten genutzt werden können." (Härtel u.a. 1991, 3) Beispielsweise diese Aussage und der Umstand, daß die DDR ehemals technologisch als »Perle des Ostens« galt, läßt einen systematischen Wahrnehmungsfehler vermuten. Man sieht im Westen die technologische Ausstattung etablierter Unternehmen und unterstellt, daß diese ausschließlich aus objektiven Gründen der Machbarkeit angeschafft worden sei. Doch ist dies nur bedingt richtig. Westdeutsche Unternehmen reagieren mit ihren Reinvestitionen auf Anforderungen verbesserter Wirtschaftlichkeit, Qualitätssicherung, Zukunftssicherung und schlußendlich auch Prestigezugewinns. Objektiv notwendig ist für die Ostunternehmen von alledem zunächst nur jener Teil, der auf einem anders nicht überwindbaren technologischen Engpaß beruht. Alles was dem nachfolgt und sich mit einem Handgriff, Gedanken oder Gespräch ebensogut erledigen läßt, betrifft die Grenzbereiche der Rentabilität, nicht hingegen die Machbarkeit. Läge in Ostdeutschland in jeder Hinsicht ein Problem der Machbarkeit vor, stünde es um die Sanierungsfähigkeit schlecht. (Man kann mit den bloßen Händen keinen Stahlträger schweißen, wohl hingegen mit einem Schweißtrafo Baujahr 1940.) Das Problem läßt sich somit in zwei Teilprobleme geringeren Schwierigkeitsgrades umwandeln: (1) der objektiv unbedingt notwendigen Engpaßinvestition und (2) der Rückkoppelung zahlbarer Löhne und Gehälter an die reale Produktivität.

[S. 251] Den Fall vorausgesetzt, daß ein marktgängiges Produkt gefunden wird, wird man dieses Produkt in weiten Teilen (vielleicht etwas unbequemer) mit vorhandenem technischen Gerät herstellen können. Was sich nach alten Methoden nicht machen läßt und z.B. den Einsatz von CNC-gesteuerter Technik zwingend erfordert, muß eben beschafft werden. Ansonsten kann man sich auch in Deutschland mindestens in dem Ausmaß behelfen, wie in Polen, Mexiko oder Taiwan und wird durch weniger gutes Produktionsgerät zunächst wohl auch einen geringeren Ertrag erwirtschaften als besser ausgestattete Westunternehmen, doch mit Sicherheit einen höheren als durch »Kurzarbeit Null«. Die Rückkoppelung zahlbarer Gehälter und Löhne an die reale Produktivität verweist dagegen auf das sehr brisante Thema der Tarifverträge und sogenannter Öffnungsklauseln. Aus Arbeitnehmersicht läßt sich an dieser Stelle gut nachvollziehen, daß diese nicht bereit sind, auf Lohnanteile zu verzichten, mit denen Werte geschaffen werden, die nachfolgend nicht ihnen gehören. Aus der Theorie der Sozialen Marktwirtschaft heraus wäre eine Erschütterung des gefundenen Verfahrens der Einkommensverteilung und des Interessenausgleiches m. E. sogar überaus schädlich, solange der dahinterstehende Grundkonflikt nicht marktgerecht, sondern monopolistisch geregelt wird.[12] Ganz anders liegt der Fall bei dem Modell des Belegschaftsbetriebes, Beteiligungsunternehmens oder der Genossenschaft. Hier ist garantiert, daß die Mitarbeiter auch die Früchte ihrer Opferbereitschaft ernten können und ein Verzicht in der Gegenwart verbesserte Zukunftschancen in Aussicht stellt. Leistet jemand hingegen als abhängig Beschäftigter [S. 252] bei gegenwärtiger Rechtslage diesen gesamtgesellschaftlich wünschenswerten Verzicht, hat der Unternehmer jede Möglichkeit auf seiner Seite, den Arbeitnehmer von den geschaffenen Werten durch Entlassung, Unternehmensverkauf oder Stammsitzverlegung zu enteignen. Auch dieses Problem, das ich einmal als »mangelnde Rechtssicherheit der Arbeitnehmer bezüglich der Werteverwendung« bezeichnen möchte und das die Anpassungsfähigkeit der Ostwirtschaft erschwert, ist ein rein ideologisches Problem mit Wurzel in den ordnungspolitischen Vorstellungen der Westakteure.

4. Zur Theorie der marktwirtschaftlichen Selbststeuerung

Bevor wir uns den persönlich zurechenbaren Initiativkräften widmen, gilt es zunächst noch eine gesamtwirtschaftliche Dimension der Aufgabenstellung anzuschneiden.

Die freie Marktwirtschaft - zeitweilig noch Kapitalismus genannt - hat in den Wirtschaftskrisen recht eindrücklich unter Beweis gestellt, daß sie nicht unter allen Umständen selbstregulierend und selbstheilend funktioniert. Es ist m. E. bislang noch weitgehend theoretisch ungeklärt, warum in dem ökonomischen System der Bundesrepublik fleißige Arbeit über solch einen langen Zeitraum hinweg überhaupt möglich war, während zahlreiche havarierende Ökonomien (wie Deutschland vor dem Kriege und Ostdeutschland gegenwärtig) unter dem Problem leiden, daß arbeitswillige Menschen in Untätigkeit verharren müssen, während das erzeugte und für den Genuß bereitstehende gesellschaftliche Gesamtprodukt beklagenswert gering bleibt. Weil die ökonomische Vermittlung zwischen Konsumbedürfnis und Produktionsbedürfnis in den kapitalistischen Marktwirtschaften früherer Zeiten nicht gelang, konnten Ideen der zentralen Lenkungswirtschaft überhaupt erst entstehen. Dabei sollte man nicht vergessen, daß die bislang bekannten Abkehrungen von der Marktwirtschaft nicht einzig seitens kommunistisch verfaßter Systeme erfolgten, sondern daß gerade auch die Nationalsozialisten mit Lenkungsanstrengungen dem Laissez-faire-Kapitalismus entgegentraten und damit publikumswirksame Effekte verbuchen konnten. Vorangegangen ist der Machtergreifung Hitlers ein Wählervotum, in dem von linker wie rechter Seite gleichermaßen gegen das ökonomische System der Weimarer Republik und dessen Auswirkungen votiert wurde.[13] Zumindest erscheint es mir einseitig, wohl über radikalisierte Positionen und die Standhaftigkeit demokratischer [S. 253] Systeme nachzusinnen, die ökonomische Ursache der Radikalisierung dagegen unthematisiert zu lassen.

Die Theorie des großen liberalen Nationalökonomen Adam Smith, auf den man sich m. E. viel stärker rückbesinnen sollte als dies heute schlaglichtartig und fragmentarisch geschieht, setzte sich zu seiner Zeit vor allem damit auseinander, daß das alte feudale Merkantilsystem die freie Entfaltung der individuell motivierten Produktivkräfte hemmte. Smith Gedankengänge sind dabei vor dem Hintergrund damaliger Verhältnisse zu sehen, die gekennzeichnet waren durch eine vorindustrielle Struktur mit weitgehend handwerklich Gewerbetreibenden und einigen Manufakturen.[14] Das, was sich als industrieller Kapitalismus erst nach Smith voll entfaltete, konnte von diesem logischerweise nicht berücksichtigt werden. Deswegen ist seine Theorie der tendenziellen Selbststeuerung zum größten Wohl der Allgemeinheit nicht falsch, sondern ihr fehlt lediglich die Auseinandersetzung mit einem schwerwiegenden Störfaktor. Nachdem die Bürger ihre Freiheit erstritten hatten und damit auch das einfache Landvolk von ihrem adeligen Herrn befreiten, setzte in allen nachfeudalen Gesellschaften eine ungeheure Migrationsbewegung vom Lande in die Städte ein. Sie bildeten die unterste Schicht miteinander konkurrierender Arbeitskräfte, bar jeder Bildung und jeden Besitzes. Aus diesem Reservoir schöpfte der neu erwachende Industriekapitalismus die zahlreichen Hände die nötig waren, um die Maschinen zu bedienen und zu füttern. Alles dokumentierte soziale Elend dieser Zeit entstammt dem ökonomischen Sachverhalt einer übergroßen Reservearmee an einfachen Arbeitskräften sowie der wohl ethisch zulässigen Einstellung gegenüber Menschen geringerer Abstammung, diese als ein Verbrauchsgut (wie Sklaven oder Schmierstoffe) aufzufassen (vgl. Oppenheimer 1927a). Die bereits vorhandenen klassentrennenden Verhältnisse des merkantilen Agrarkapitalimus jener Zeit, in Verbindung gebracht mit einer neuen Freizügigkeit der Wohnsitz- und Berufswahl, ermöglichten das rasche Anwachsen industriell gewonnener Vermögen bei gleichzeitig mörderischer Konkurrenz der einfachen Berufsstände um vorhandene Arbeit. Mit anderen Worten: erhoffte sich Smith durch die Freisetzung individueller Initiative eine Steigerung der nationalen Produktivität und sah diese zugleich verknüpft mit einer Nivellierung der Einkommen auf der Grundlage freier Berufswahl und freier Konkurrenz, so stieß die junge Marktwirtschaft recht bald nach ihrer Befreiung von den Zwängen des Merkantilsystems an die Grenzen einer anders gearteten Klassenherrschaft, die sich auf der Grundlage der alten Klassenherrschaft neu herausbildete und rasch begann, die Smith'sche Theorie für ihre eigenen Zwecke sozialdarwinistisch zu ideologisieren (vgl. Webb-Potter 1893, 4-10). Das zunächst berechtigte Verlangen nach »Freiheit« wurde alsbald von der stärksten gesellschaftlichen Klasse als eigene Freiheit verstanden und ging einher mit der selbstverständlichen [S. 254] Knechtschaft und Verelendung (vgl. Webb 1912) weiter Bevölkerungskreise. Aus heutiger Sicht würde man sagen, daß die Fesseln unmittelbarer Leibeigenschaft durch die Fesseln völliger existentieller Abhängigkeit auf niedrigstem Reproduktionsniveau ersetzten wurden und sich die angewendeten Machtmittel dabei von denen der alten Feudalherren kaum unterschieden.

Die auf gesellschaftliche Machtverhältnisse zurückgehende Krisentendenz der ungeschützten Marktwirtschaft kann man deswegen jedoch nicht eng mit dem Prinzip der Marktwirtschaft verknüpft sehen, sondern muß sie als unproduktive und hinderliche Dimension außerhalb der werteschaffenden Ökonomie erkennen.[15] Für das Individuum mag es das kleinste Mittel sein, sich etwa durch Schutzgelderpressungen zu ernähren. Der als »Wirtschaft« bezeichnete Marktmechanismus hat mit diesen individualistischen »Wirtschaftlichkeitserwägungen« nichts zu tun, wenngleich dadurch der Marktmechanismus nachhaltig beeinträchtigt werden kann. Durch die von Oppenheimer und Erhard vorgenommene Scheidung »politischer« und »reiner« Ökonomie[16] erkennt man die Notwendigkeit einer rechtsetzenden Wirtschaftsordnung und unternehmerischer Machtanhäufung widerstehender Kartellgesetzgebung. "So vertrete ich denn auch die Auffassung, daß es die Grundlage aller Marktwirtschaft ist und bleiben muß, die Freiheit des Wettbewerbes zu erhalten. Diese herrscht nur dort, wo keine Macht, die Freiheit zu unterdrücken, geduldet wird, [S. 255] sondern wo die Freiheit, in dem Sitten- und Rechtskodex eines Volkes verankert, zum allgemein verpflichtenden Gebot, ja zum höchsten Wert der Gemeinschaft selbst wird. Wir werden - das ist meine feste Überzeugung - nur so lange eine freie Unternehmungswirtschaft haben, als wir von Staats wegen über die Freiheit wachen. Wenn man im unternehmerischen Lager allenthalben geglaubt hat, sich darüber beschweren zu müssen, dies wäre umgekehrt eine unbillige Einschränkung der Freiheit durch den Staat, dann kann ich darauf erwidern, daß es eine falsch verstandene Freiheit ist, wenn man meint, unter dem Namen und mit dem Dogma der Freiheit die Freiheit selbst unterdrücken zu können." (Erhard 1957, 138ff)

Freiheit definiert sich in einer Sozialen Marktwirtschaft nicht über die Freiheit eines exklusiven Personenkreises in Abgrenzung gegenüber einem anderen Personenkreis. Freiheit bedeutet nicht, frei alles machen zu können was man will, sondern lediglich unbehindert Güter und Dienste zu Markte tragen zu dürfen, ohne daß andere ein Recht haben, dies mit unfairen Mitteln zu behindern. "Freie Konkurrenz besteht nach der unbestrittenen Definition der Wissenschaft - die glückliche Fassung stammt von Adolf Wagner - dort, wo jedermann sich an einer Güterproduktion beteiligen kann und darf, der es will. Ist eine dieser Bedingungen nicht gegeben, so besteht eben keine freie Konkurrenz, sondern ein Monopol, und zwar ein 'natürliches' im ersten, ein 'rechtliches' im zweiten Falle." (Oppenheimer 1927b, 86)

Dies bedeutet für uns aber auch, daß es kein ausgrenzendes Privileg westdeutscher Interessentenkreise geben darf, die man »von Staats wegen« um jeden Preis an den Schalthebeln ostdeutscher Wirtschaft zu sehen wünscht, sondern daß alle Kräfte, gleich ob Unternehmer oder Noch-nicht-Unternehmer, Einzelpersonen oder Gruppen, Ostbürger oder Westbürger, kritisch daraufhin zu befragen sind, ob ihnen ein Betätigungsdruck immanent ist, der in produktive Aktivität übergehen würde, wenn der Staat durch entsprechende Maßnahmen gleiche Ausgangsbedingungen herstellen würde. Dazu kann natürlich gehören, mit entsprechenden Ausbildungskapazitäten in die Gegebenheiten westdeutscher Wirtschaftssystematik einzuführen und so potentiellen Ostunternehmern Chancen zu eröffnen. Die Bundesregierung sollte schützend und stützend mehr Sensibilität für noch nicht etablierte Kräfte entwickeln, in denen das Potential steckt als Saat aufzugehen und irgendwann Früchte zu tragen, statt den Vereinigungsprozeß einer begrenzt interessierten gesellschaftlichen Gruppe zu überantworten. Nur wenn sie an dem tatsächlich vorhandenen individuellen Interesse anzuknüpfen vermag, gibt es auch einen Prozeß selbstheilender Eigendynamik. Daß solche gesamtgesellschaftlichen Heilungsprozesse von starken Kräften häufig blockiert werden, lehrt uns die Geschichte. Somit muß sich der auf einen sozialen Ausgleich durch ökonomische Freiheit bedachte Staat, zum Schutze der richtig verstandenen Freiheit aller, gerade der ungehemmten Freiheit der Mächtigsten beschränkend erwehren. Dies läßt sich als ein Erfolgsrezept Oppenheimer-Erhard'scher Theorie entnehmen. [S. 256]

4.1. Der »Investor«

Wir leben in einer Zeit, in der immer häufiger der Wunsch geäußert wird, daß »Investoren« die ökonomischen Probleme der Politik bereinigen mögen. Ob Bundesbahn, Wohnungsbau, ostdeutsche oder osteuropäische Wirtschaft etc., immer wieder verlangt man nach Investoren und ist nachfolgend oftmals enttäuscht, weil sich die Investoren anders verhalten als man angenommen hat. Viel Denkarbeit wird überall darauf verwendet, das Investorenangebot durch entsprechende Anreize zu erhöhen. Daß nur diese die ökonomischen Probleme lösen können, scheint dabei a priori festzustehen.

Nun sind »Investoren« ja keine Menschen mit besonderen Charaktereigenschaften, sondern es sind Menschen mit entsprechend liquidem Vermögensbesitze, die nach den Regeln ökonomisch rationalen Handelns eine Vermehrung desselben anstreben und sich zu diesem Zwecke irgendwie verhalten. Mag der dahinterstehende Mensch auch ein großes Herz haben und hilfsbereit die größten Probleme der Menschheit angehen, so gilt doch für das Kapital zumindest in der ökonomischen Theorie ein Rentabilitätsgebot. Man wird die Frage also nur unwesentlich verkürzen, wenn man statt des Subjekts »Investor« das dahinterstehende »Kapital« betrachtet und die ökonomischen Verhältnisse daraufhin untersucht, nach welchen Regeln das Kapital wohin bewegt werden müßte, wenn denn sein Eigner die ökonomischen Gegebenheiten durchschaut und (dauerhaft?) mit dem geringstmöglichen Aufwand nach dem größtmöglichen Ertrag strebt.

Verfügt ein Unternehmer über Grundstücke, Gebäude und Maschinen (Sachkapital), dann faßt man diese als zweckgebunden und »getätigte Investition« auf. Der Unternehmer mag mit seiner Kapitalanlage produzieren und Renditen erwirtschaften, aber er kann die Sachwerte in dieser Form nur schwerlich »investieren«. Mit dem Begriff des »Investors« assoziiert man daher in aller Regel Eigner von Geldkapital, also eines Wertdepots universellster Einsetzbarkeit, das der Investor (vorübergehend?) in ein Projekt durch Geldaufgabe und Sachmittelerwerb einlegt.

In der Theorie gibt es dabei einen sehr harmonisch scheinenden und natürlichen Zusammenhang zwischen zwei Wertgrößen, nämlich dem Sparvolumen einerseits und dem Investitionsvolumen andererseits. Man denkt sich z.B., daß ein Landwirt sein Korn entweder aufessen kann (Konsum) oder bei vorübergehendem Verzicht zur Aussaat bringt, um vermehrte Früchte zu ziehen (Sparen/Investition). Die Vorstellung leuchtet unmittelbar ein, ist jedoch unvollständig, denn sie setzt eine Mangelwirtschaft voraus, wie sie nicht unter allen Umständen immer besteht. In dem Beispiel aus der Landwirtschaft etwa führt ein gehobener Wohlstand dazu, daß nicht die Frage des Konsumverzichtes maßgeblich für die Aussaat bleibt, sondern die Frage des erzielbaren Überschusses durch Arbeitseinsatz. Ähnlich verschiebt sich die innere Logik an den Kapitalmärkten, wenn Konsumgüter und Investitionsgüter [S. 257] überreichlich vorhanden sind und lediglich ihre Auswahl nach Rentabilitätserwägungen auf Geldbasis erfolgt.

Wie bereits oben vollzogen, hat man zunächst Unternehmer und Investoren voneinander zu unterscheiden. Wohl kann ein und dieselbe Person mal in dieser, mal in jener Eigenschaft erscheinen. Sie hat einen bestimmten Wert jedoch immer nur entweder in der Form eines Sachkapitals (und ist damit gebunden) oder in der Form universell verwendbaren Geldkapitals. Ob ein Investor sich auf die Stufe abnehmender Freiheit begibt und Unternehmer wird, hängt fraglos primär von der Frage der Geldanlagemöglichkeiten ab. Läßt sich mit Konsumentenkrediten, Auslandskrediten, Staatskrediten etc. ein höherer Zinssatz erzielen denn mit Unternehmensrenditen, dann kann man solch einen Schritt des Investors kaum annehmen. Hat der Investor aufgrund vorhandenen Reichtums nicht die Absicht, in dem Unternehmen einen Unternehmerlohn zu erwirtschaften, will er also keine eigene Arbeitsleistung einbringen, ist der Übergang zum Unternehmerstatus geradezu unwahrscheinlich. Umgekehrt findet man bei dem potentiellen Unternehmer nicht einzig das Motiv der Kapitalverzinsung, sondern nicht minder wichtig wird diesen Personen in aller Regel ihre verbesserte Chance zur Erzielung eines gehobenen Lebensstandards durch Arbeitseinsatz sein. Was den typischen klein- und mittelständischen Unternehmer treibt, ist somit die eigene Existenzfürsorge. Mit dieser ist er als Person räumlich und inhaltlich an diejenigen Betätigungen gebunden, die er als Person zu überblicken und zu organisieren vermag. Diese Enge kennt der Geldbesitzer hingegen nicht, und fraglos wird er sich bei mangelnder Kompetenz auch nicht in diese Enge hineinbegeben, sondern zinsträchtige Kredit- und Eigentumsgeschäfte anstreben.

Ob sich Geldbesitzer produktiv betätigen, muß man folglich sowohl daraufhin untersuchen, ob sie über eine entsprechende Qualifikation verfügen als auch, ob sie genötigt sind, diese produktiv einzusetzen. Nimmt man etwa das über den Bankensektor eingesammelte Sparvolumen der Haushalte, so sind beide Fragen zu verneinen. Die Haushalte sind in ihrer Masse heute weder fähig, eigenständig produktive Unternehmungen aufzubauen, noch sind die Banken daran interessiert, an ihrer Statt selbiges zu unternehmen. Ob ein gegebenes Sparvolumen damit als Kredit in den Unternehmenssektor fließt, hängt heute zudem noch von einer ganz anderen Frage ab. Zu Erhards Zeiten gab es weder Konsumentenkredite noch Staatskredite in heutigem Ausmaß. Er konnte noch sagen, daß die Ersparnisse als Investitionskredit dienen. Heute konkurrieren dagegen verschiedene Sektoren um Kredit, wobei die Unternehmen die schwächsten Bewerber sind. Staatshaushalte können über erzwungene Steuereinnahmen jeden zahlbaren Zins beibringen, Privathaushalte müssen mal durch Existenzdruck jeden Zins akzeptieren, ohne in Konkurs gehen zu können, oder agieren weniger ausschließlich entlang monetärer Rationalitätserwägungen. Die Unternehmen sind dagegen mit ihrer Kreditaufnahme eng an die erwirtschaftbaren Überschüsse gebunden. Erbringt ein Kapitaleinsatz von 1000 pro Periode einen Überschuß von 100, kann das Kapital nicht zu einem Zinssatz von 14% geliehen [S. 258] werden. Je höher die Zinsen für Kredite mit Nichtunternehmern stehen, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit des Überganges an ein geringer rentierendes Unternehmerprojekt. Diese bereits von Adam Smith (1975, 106f) erklärte Zinsabhängigkeit der Investitionen verweist damit auf die Fragen der Geldtheorie und -politik sowie auf gesellschaftliche Vermögensstrukturen, produktive Abhängigkeitsverhältnisse und Fähigkeitsverteilungen.

4.2. Die Gruppenunternehmen

Die Gruppenunternehmen (Genossenschaften, Belegschaftsbetriebe, Beteiligungsunternehmen) sind Unternehmensformen, die konzeptionell bereits a priori darauf angelegt sind, fehlendes Geldkapital durch gemeinschaftliche Selbsthilfe zu substitutieren.[17] In ihnen wirken vier Tendenzen, die sie in wirtschaftlichen Notzeiten über einzelwirtschaftliche Kapitalunternehmen heben: (1) gemeinschaftliche Solidarhaftung und somit Kreditfähigkeit, (2) Substitutionsfähigkeit von Kapital durch Arbeit, (3) starkes Investitionsmotiv durch Existenzproblem und (4) Innovationskraft durch Mehr-Kopf-Prinzip und kommunikative Vermittlung.

Erläuterung: Es gibt prinzipiell drei Quellen, aus denen Unternehmen gegenüber dem freien Kreditmarkt ihre Kreditfähigkeit schöpfen können. Die unproblematischste ist die des hohen unverschuldeten betrieblichen Eigenwertes (Eigenkapitalquote). Vor ca. 200 Jahren war es Standard, daß Grundstücke, Gebäude und Maschinen (fixes Kapital) in unbelastetem Eigenbesitz der Unternehmer standen, während die durchlaufenden Vorprodukte und wertsteigernden Investitionen (variables Kapital) per Kredit vorfinanziert wurden. Das fixe Kapital bildete die Sicherheit für das variable Kapital, weswegen der Unternehmer keinem sonderlichen Rechtfertigungszwang unterlag und ohne große Bankaufsicht frei seine unternehmerische Strategie einschlagen konnte.

Heute üblich ist hingegen, daß die Unternehmen keine Eigenkapitalquote mehr ausweisen können, die den Banken als hinreichende Sicherheit dienen könnte. Veranschlagt man den Liquidationswert eines Produktionsunternehmens grob mit 20-30 % des Funktionswertes, dann riskieren die Banken bei einer 80% igen Fremdfinanzierung im Konkursfalle einen Ausfall von bis zu 75 % des gegebenen Kredites. Entsprechend tief wünschen die Banken heutzutage Auskünfte über die Unternehmensstrategie zu erhalten, weil sie genötigt sind, die Erfolgschancen [S. 259] unternehmerischen Handelns abzuschätzen und zukünftige Erträge zu bewerten. Dabei stehen die Banken in einem für sie unlösbaren Dilemma, als Experten in Geldfragen nicht unbedingt Experten bezüglich der unternehmerischen Fragen zu sein. Alles was untypisch ist, was es nicht schon einmal irgendwo gegeben hat, wo es keine Vergleichswerte gibt, stößt damit tendenziell auf eine risikoscheue Verweigerungshaltung unsicherer Bankbeamter.[18] Diese Hemmnisse der Kreditwürdigkeitsbeurteilung, ruhend auf ungünstiger Eigenkapitalquote und nicht ausdiskutierbarer Risikohandhabung, lassen sich mit einer erhöhten Haftungsbereitschaft privaten Vermögens beheben. Dabei können viele Genossen mit relativ kleinen Beträgen (z.B. á 5000 DM = ¼ Neuwagen) sehr schnell Haftungssummen zusammentragen, die durchaus respektabel sind. Vollkommen unabhängig davon, ob ein Bankbeamter sich mit Befremden oder Wohlgefallen zu einem Investitionsvorhaben stellt, wird man bei entfaltetem Wettbewerb bei hoher Eigenhaftung immer einen Kreditgeber finden, der auf ein unterdurchschnittliches Ausfallrisiko abschlußbereit reagiert.

Bereits oben wurde angeführt, daß sich eine schlechtere Ausstattung bestenfalls auf die Höhe der Erträge niederschlage. Z.B. hat eine Genossenschaft dieselben Möglichkeiten wie jeder Neugründer eines Einzelunternehmens. Auch diese - so sagt man - arbeiten statt der 38,5 Stunden bis zu 100 Stunden wöchentlich, ersetzen also mangelndes Kapital durch Arbeit. Gleiches kann eine Genossenschaft für sich beschließen und, sofern darüber Einigkeit besteht, anfänglich 60 oder mehr Stunden pro Woche investieren, bis daß sich aus den Erträgen arbeitssparendes Gerät finanzieren läßt. Was sich als anfängliche Rentabilitätsschwäche behindernd darstellen mag, muß sich bei erhöhtem Einsatz deswegen keineswegs mit Erträgen unterhalb des Existenzminimums paaren. Ganz im Gegenteil hat sich in Westdeutschland bereits bei sogenannten »Alternativbetrieben« gezeigt, daß die vieldiskutierte »Selbstausbeutung« meist einhergeht mit massivem Lohnverzicht und Investitionen in die betriebliche Substanz. Werden solche Betriebe nach mehrjähriger Tätigkeit aufgelöst, stehen die Mitglieder häufig völlig überrascht vor den geschaffenen Werten, die plötzlich durch den Verkaufspreis offensichtlich werden. Rechnet man den Verkaufswert dann auf den durchschnittlichen Lohn vergangener Jahre um, so ergibt sich häufig ein weit überdurchschnittlicher Verdienst statt des bis dahin subjektiv empfundenen Verzichtlohnes. Unternehmensgemeinschaften neigen erfahrungsgemäß zu singulärem Lohnverzicht und gemeinschaftlicher Investition.[19]

[S. 260] Was sich bei reichen »Investoren« als treibendes Motiv nicht finden läßt, ist bei den »Kindern der Not« stets überreichlich vorhanden: Existenzdruck. Dies führt mit geradezu naturgesetzlicher Zwangsläufigkeit dazu, daß die Betroffenen weniger Zeit mit Vergnügungen und Nebensächlichkeiten verbringen und statt dessen alle Kräfte auf die wichtigste aller Fragen konzentrieren: was tun, um den Druck zu mildern oder gar aufzuheben. Wer seinen Kopf anstrengt, dem werden auch Ideen kommen. Ideen sind kognitionstheoretisch meist nichts anderes als Auflösungen von Widersprüchen. Wer einen Widerspruch (eine Dissonanz) aufzulösen vermag, erstellt damit ein Stück weit Effizienz. Effizienzen oder Nützlichkeiten für Dritte sind aber auch das, was sich auf einem Markt als eigene Leistung anbieten läßt. Mit anderen Worten: wer seine Probleme löst, bewegt sich von der geübten Aktivität her gesehen immer in der Nähe gesellschaftlich für Wert befindbarer Lösungen, also in der Nähe von Aktivitäten, für die andere bereit sind, Geld zu geben (bzw. eigene Leistungen zu tauschen), weil das Vorgedachte eine Erleichterung oder unmittelbar nützliche Sache darstellt.

Daß die Genossenschaft in ihrer Jugendform zudem eine sozial höchst ausgeglichene Einrichtung ist, hat nie ein Autor von Rang bestritten. Die eigentlichen Probleme des Genossenschaftswesens - die vielbeklagte "kapitalistische Entartung" - beginnen vielmehr erst dann, wenn die Genossenschaften ihre ursprüngliche Not überwunden haben und mit einer genossenschaftlichen Handhabung der erworbenen Reichtümer konfrontiert werden. In diesem gesättigten Stadium ihrer Existenz, das für potentielle Ost-Unternehmen noch in ferner Zukunft liegen dürfte, gibt es ein von der Theorie bis heute ungelöstes »Entartungsproblem«, wonach die Genossenschaften auf längere Sicht die soziale Idee des Aufbruchs verlieren und sich den nichtgenossenschaftlichen Unternehmensformen bis zur Unkenntlichkeit annähern.[20] Spannend für die Einordnung des Genossenschaftswesens in eine Theorie der Sozialen Marktwirtschaft ist dabei momentan weniger der Umstand, daß sich die [S. 261] saturierten Genossenschaften häufig von ihren ursprünglichen Beweggründen entfernen und sich in Quasi-Aktiengesellschaften umorganisieren, als vielmehr der Umstand, daß sie auf diesem Wege für sich anders nicht lösbare Probleme bereinigen und darüber meist auch ihre Umwelt positiv verändern. Diese Kraft des Aufbruchs gälte es zunächst erst einmal zu initiieren und zum Wohle der Allgemeinheit zu nutzen. Ungelöste Grundsatzprobleme lassen sich dazu parallel bearbeiten.

5. Schlußbemerkung

Das ganze System der Arbeitslosenversicherung ist in Deutschland darauf abgestellt, Arbeitslose in dem Zustand ihrer Arbeitslosigkeit zu versichern. Es ist leider kein System, das gegen die Arbeitslosigkeit eine Sicherheit anbieten würde, also den Verlust der Erwerbsmöglichkeit durch eigene Maßnahmen zu kompensieren trachten würde. Wenn also die gesamtgesellschaftlich vorhandene Anzahl der Erwerbsmöglichkeiten sinkt, dann kann die Versicherung nur per Umlageverfahren die Lasten unter alle abhängig Beschäftigten verteilen, nicht hingegen die Zahl der Erwerbsmöglichkeiten erhöhen.

In Ostdeutschland haben einige Arbeitslose höherer Bildungsstufen ihre Arbeitslosigkeit genutzt, sind auf Messen gefahren, haben sich über Produkte orientiert und selbständig gemacht. Illegal wohlgemerkt und sehr zum Zorne der Vermittler, die in solchen Betätigungen einen Mißbrauch von Versicherungsleistungen durch genaugenommen ehemalige Arbeitslose und nunmehr Unternehmer erblicken. Warum muß eine gescheiterte abhängige Beschäftigung immer in erneute abhängige Beschäftigung münden? Kann man nicht auch in diesem Punkte umdenken und statt des Solidarpaktes zwischen Beschäftigten und Nichtbeschäftigten eine kapitalisierungsfähige Versicherungsleistung anbieten, die der Arbeitslose zur Sicherung seines Lebensunterhaltes einsetzen kann, während ihm alle Möglichkeiten offenstehen, eine Verbesserung der eigenen Situation anzustreben? Die von der Arbeitslosenversicherung gewährten Leistungen sind doch sowieso der Höhe und Dauer nach begrenzt, so daß die Mißbrauchsgefahr kaum allzuhoch eingeschätzt werden dürfte. Oder anders gefragt: welches Recht erwirbt der Arbeitgeber aus der Rückversicherung abhängig Beschäftigter, daß diese fortgesetzt den Status abhängig Beschäftigter beibehalten, also dem »Arbeitsmarkt« bzw. den »Arbeitgebern« zur Verfügung stehen? Wäre hier nicht generell lediglich die Frage zu stellen, ob der Arbeitslose einer den Lebensunterhalt sichernden Tätigkeit entgegenstrebt und muß das Recht der Arbeitgeber, stets ausreichend mit Arbeitssuchenden versorgt zu sein, nicht negativ beschieden werden? Denn das wäre nun einmal das Ideal sozialer Marktwirtschaft, daß jeder Bürger gleichen Rechtes und gleicher Chance seinen Platz in der Gesellschaft findet und mit Wahlmöglichkeiten und Alternativen ausgestattet wohl [S. 262] zur produktiven Arbeit gedrängt würde, aber dabei einseitig ungünstige Kontrakte meiden könnte.

Fußnoten
[1]
Eine Zusammenstellung namhafter Autoren (Keynes, Marshall u.a.), die die Existenz einer nationalökonomischen »Wissenschaft« negativ beurteilen, findet man bei Oppenheimer 1938, VI-VIII.
[2]
Eine Sammlung problemumreißender Aufsätze hat Winfried Vogt (1973) herausgegeben.
[3]
Die Habilitationsschrift von Dieter Haselbach (1991) belegt dies eindrücklich für den »Neoliberalismus«. Leider versäumt die Studie, den vom »Neoliberalismus« unabhängigen theoretischen Standpunkt Ludwig Erhards herauszuarbeiten und nutzt die Publikationen nicht, die Erhard (1925 und 1977) vor seiner Bekanntschaft mit irgendeinem »Neoliberalen« verfaßt hat.
[4]
Man vergebe an jeden Beschäftigten eines volkseigenen Betriebes das Recht, einen einzigen Genußschein zu erwerben. Gleichzeitig setze man einen Termin, ab dem die Währung ihre Gültigkeit verliert. Dann eröffne man eine Börse mit exakt so vielen Genußscheinen, wie es Anspruchsberechtigte gibt und setze den Verkaufspreis einheitlich etwas höher an, als man den realen Wert der besten Genußscheine einschätzt. Gekauft werden darf ausschließlich mit Ost-Währung, während man die Anbieter von Konsumgütern verpflichtet, nach freier Kurseinschätzung alle Waren mit Preisen in beiden Währungen (Alt- & Neuwährung) auszuzeichnen und dem Kunden die Wahl des Zahlungsmittels zu überlassen. Dann beginne man den Verkauf und setze in gleichbleibenden Schritten Tag für Tag über eine längere Periode den Verkaufspreis der Genußscheine herunter. Jeder Bürger wäre auf diese Weise gezwungen, irgendwie und irgendwann eine Entscheidung zu treffen. Will der Berechtigte keinen Genußschein erwerben, kann er am letzten Tag zum Null-Preis aus dem verbliebenen Rest einen Genußschein übernehmen. Kann er keinen Genußschein erwerben, weil er als Selbständiger oder Staatsbediensteter über keinen Arbeitsplatz in einem volkseigenen Betrieb verfügt, muß er irgendwie seine Währung im Tausch oder gegen Kredit (in neuer Währung) loswerden. Wer seine Zahlungsmittel nicht irgendwie in andere Werte umwandelt, hat eben Pech, wobei man sich die Losschlagung weiteren Staatsbesitzes nach ähnlichen Verfahren parallel dazu vorstellen könnte, so daß sich das Angebot noch um Wohnungen oder Grundstücke erweitern ließe.
[5]
Die Wahrung bundesdeutscher Eigentumsansprüche hätte man dann allerdings anders regeln müssen. Möglich gewesen wäre z.B. die Hinzufügung einer Klausel, die die Bundesregierung berechtigt, jeden Genußschein gegen gleichlautende DM-Beträge binnen einer bestimmten Frist zurückzuerwerben, wenn sie das Eigentum an jemanden zurückzuerstatten beabsichtigt, den sie als »unrechtmäßig enteignet« anerkennt. Da in diesem Falle der Nachweis einer »unrechtmäßigen Enteignung« zu Lasten der Bundesregierung hätte geführt werden müssen, wäre man dort sicherlich geneigter gewesen, die auf gesetzlicher Grundlage zustande gekommenen Enteignungen der DDR hinzunehmen und nur jene Fälle einer Rückerstattung zuzulassen, wo die Enteignungen mit einem Rechtsbruch des DDR-Gesetzes einhergingen.
[6]
Hat sich die ältere ökonomische Theorie ausschließlich mit der Käufer-Verkäufer-Beziehung beschäftigt, so untersuchte Oppenheimer erstmals auch systematisch die Käufer-Käufer- und Verkäufer-Verkäufer-Beziehung. Eine der zentralen Disharmonien des kapitalistischen Wirtschaftssystems erklärend behauptet er darin, daß sinkende Preise mehrwertschöpfende Unternehmen keineswegs zu Angebotsbeschränkungen veranlassen, wie die ältere Theorie pauschal behauptet, sondern daß die mehrwertschöpfenden Unternehmen bei sinkendem Pro-Stück-Profit durch Erhöhung der abgesetzten Menge ihren Gesamtprofit zu halten versuchen. Dadurch komme es zu den typisch kapitalistischen Überproduktionskrisen, die regelmäßig von einem mörderischen Wettkampf und wechselseitigem Abschlachten der Kontrahenten begleitet werden. Für unseren Zusammenhang ist daran interessant, daß Oppenheimer die feindselige Haltung miteinander konkurrierender Unternehmen einzig aus der ökonomischen Lagerung ableiten kann, ohne also moralische Kategorien oder sonstige Mutmaßungen über das »Wesen des Menschen« bemühen zu müssen. Vgl. Oppenheimer (1900) oder Oppenheimer (1924, 950-955).
[7]
Die natürliche Quelle für die in Ostdeutschland benötigten Managementkapazitäten sind (...) westdeutsche Unternehmen und staatliche Institutionen. (...) Wenn sich die Treuhandanstalt in großem Umfang des Know-hows derjenigen Unternehmen bedient, die, je nach räumlicher Marktenge, entweder die aktuellen oder die potentiellen Wettbewerber für die ostdeutschen Firmen sind, impliziert dies zwangsläufig Interessenkonflikte bei den entsprechenden Managern. Deren konkrete Entscheidungssituationen lassen sich abstrakt in etwa mit denjenigen von Doppelagenten vergleichen." Statt potentielle Wettbewerber ihrer Heimatfirmen einzuführen sei viel wahrscheinlicher, "daß die westlichen Manager aus gleicher Branche die Übernahme des Ostunternehmens durch ihr Westunternehmen unterstützen oder gegebenenfalls sogar eine Liquidation der Veräußerung an Dritte vorziehen." Härtel u.a. 1991, 12f.
[8]
Die Angabe stützt sich auf die mündliche Aussage eines ehemaligen Treuhand-Mitarbeiters. Sie erscheint mir angesichts des Umstandes, daß die Treuhand bis zu 250.000 DM pro Arbeitsplatz zuzahlt, durchaus glaubwürdig. Vgl. Härtel u.a. 1991, 40f.
[9]
Die »Kapazitäts- und Geräteauslastung« im Verarbeitenden Gewerbe (ohne Bau, Chemie, Nahrung und Genußmittel) betrug in den Quartalen 1-4 1987 = 83,6%, 84,1%, 84,5%, 85,0%; 1988 = 84,7%, 85,9%, 87,4%, 88,7%; 1989 = 87,9%, 88,9%, 89,5%, 90,0%; 1990 = 89,3%, 89,4%, 89,9%, 90,0%; 1991 = 88,2%, 87,9%, 87,2%, 86,8%; 1992 (1-2) = 85,6%, 85,0%. Quelle: Bundesministerium für Wirtschaft, Monatsbericht, laufende Folge.
[10]
Birgit Breuel (1992, 5) spricht mittlerweile offen an, daß immer wieder - zumeist von Konkurrenten - der Eindruck erweckt wird, die ostdeutschen Unternehmen seien nicht wettbewerbsfähig.
[11]
Es gibt im Westen mittelständische Spezialunternehmen, die 15 oder 30 Jahre alte Maschinen mit moderner Steuerungs- und Antriebstechnik ausrüsten und so bei Investitionskosten unter 50 % einer Neuanschaffung quasi neuwertiges Produktionsgerät erstellen. Der Laie täuscht sich mit seiner Einschätzung technischen Produktionsgerätes sehr leicht durch Analogieschluß auf technische Konsumgeräte, denen der »Verschleiß« oder »Verbrauch« konstruktiv eingebaut ist. Vgl. Bernhard Rose 1992, S.29.
[12]
Weite Kreise der Bevölkerung wurden in zurückliegenden Generationen durch Mißgeschick, Unglück oder Gewalt von der Möglichkeit getrennt, ihre eigene Arbeitskraft durch Kombination mit notwendigen Produktionsmitteln selbständig zu verwerten. Diskutiert man heute den daraus entstandenen »Arbeitsmarkt«, auf dem einerseits zur Selbständigkeit nicht mehr fähige Arbeitskräfte ihr Arbeitsvermögen anbieten und andererseits zur Selbständigkeit fähige Personenkreise dieses Arbeitsvermögen ankaufen, sofern es sich gewinnbringend verwerten läßt, dann setzt man bei diesen Betrachtungen stillschweigend die Existenz eines Klassenverhältnisses zwischen zwei ökonomisch verschieden handlungsfähigen Personengruppen voraus, die sich zumeist mehr durch ihre Abstammung von früheren Siegern oder Besiegten unterscheiden, denn nach ihren tatsächlichen Talenten. Aufgrund dieser historisch gewordenen Tatsache sozio-ökonomischer Ungleichbeziehung zweier abgrenzbarer Klassen haben sich die Gewerkschaften als Vertretung der abhängig Beschäftigten gebildet, um sich machtpolitisch gegen die Ausbeutbarkeit der einseitig vorliegenden Schwäche ihrer Mitglieder zu wehren. Heute übliche Tarifpolitik ist somit vom Ansatz her auf einen Ausgleich gesellschaftlicher Machtverhältnisse gerichtet. Sie löst nicht das dahinterliegende Problem der einseitigen Abhängigkeit der Beschäftigten und ist somit a priori keine marktkonforme Lösung. Eine marktkonforme Lösung würde vorraussetzen, daß Beschäftigte ausschließlich freiwillig in Beschäftigungsverhältnisse eintreten und kein einseitiger Angebotsdruck der einen gesellschaftlichen Klasse gegenüber der anderen vorliegt. Die Klasse der heute abhängig Beschäftigten müßte also in jeder Hinsicht die freie Wahl und Möglichkeit haben, zwischen Abhängigkeit und Selbständigkeit zu wählen. Erst unter dieser anderen wirtschaftlichen Voraussetzung könnte auf das machtpolitische Gleichgewicht der Tarifparteien verzichtet werden, ohne daß eine sofortige Demontage der erreichten Einkommensnivellierung seitens der Arbeitgeber befürchtet werden müßte. Eine Durchlöcherung der Tarifautonomie ohne vorherige Nivellierung des ökonomischen Abhängigkeitspotentials zwischen Selbständigen und Unselbständigen würde unter gegenwärtigen Verhältnissen nichts anderes bewirken, als daß man dem gescheiterten Kommunismus die Soziale Marktwirtschaft hinterherwirft und dem überwunden geglaubten Laissez-faire-Kapitalismus Tür und Tor öffnet.
[13]
Lassen wir uns doch nicht durch die veralteten Schlagworte von rechten und linken Parteien täuschen: die einst gerade Linie der Parteiaufstellung hat sich längst zum fast vollkommenen Kreise umgeformt, und die Kommunisten stehen den Nationalsozialisten so nahe, daß eine Verschmelzung wenigstens ihrer Flügelgruppen in ferner Zeit durchaus nicht unwahrscheinlich ist. Man beurteilt die letzten deutschen Wahlen völlig falsch, wenn man darin nichts anderes erblickt als eine Stärkung der extremen Rechten. Entscheidend ist, daß sie eine antikapitalistische Mehrheit in den Reichstag entsandt haben." Oppenheimer 1931, 34f.
[14]
James Watt meldete seine erste Dampfmaschine im Jahr 1773 zum Patent an, drei Jahre bevor Adam Smith nach zehnjähriger Vorarbeit seine berühmte »Untersuchung über den Reichtum der Nationen« veröffentlichte. Begriffsbedeutung »Manufaktur« = gewerblicher Großbetrieb mit Handarbeit.
[15]
Sofern die »Freiburger Schule« sich auch in diesem Punkte auf Joseph Schumpeter stützt, wird man darin eine tiefgehende Abweichung gegenüber Oppenheimer herausarbeiten können. Eine Kontroverse Schumpeter-Oppenheimer wurde im »Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik« geführt. Schumpeter greift in seinem Aufsatz "Das Grundprinzip der Verteilungstheorie" [Bd.42 1916/17, 1.Heft, 1-88; ebenso in Schumpeter, Aufsätze zur ökonomischen Theorie, 320-407] auf der Seite 24/25 Oppenheimers Einbeziehung der »Machtverhältnisse« an, die für eine ökonomische Theorie weder Erklärungskraft besäßen noch dort hineingehörten. Die weitere Diskussion entwickelt sich in Bd. 44 und 47 der Zeitschrift und ist abgedruckt in Franz Oppenheimer: Wege zur Gemeinschaft, Gesammelte Reden und Aufsätze, Bd.1, 411-441 (Das Bodenmonopol). Oppenheimer (1938, 121) notierte, daß der Abdruck seiner Duplik auf Schumpeters Replik jahrelang verzögert wurde, weil die Redaktion auf Schumpeters Antwort vergeblich wartete.
[16]
Die Anlehnung Erhards an Oppenheimer sei hier ausnahmsweise mit einem Zitat aus dessen Doktorarbeit zu belegen. "Wenn wir nicht die Arbeitsmenge als Einheit der Güter, der Einkommen und damit auch des Geldes in Anwendung brachten, sondern diese Menge noch verknüpften mit dem Werte der Arbeit, so bedeutet dies nur einen Korrekturposten, den einzusetzen uns die kapitalistische Wirtschaft zwingt, beruhend auf der Verschiebung der Einkommensarten untereinander. Die Güter selbst werden sich in ihrem wirklichen Arbeitswerte nicht zu sehr und nur selten entfernen können, die Nominaleinkommen dagegen, die in der reinen Ökonomie auch im einzelnen die genauen Gegengrößen zum einzelnen Arbeitsaufwand darstellen, sind in der kapitalistischen Wirtschaft auf Grund eines gesellschaftlichen Monopols zu Gunsten der Kapitalbesitzer verkürzt. Darum erkannten wir auch in der Definition auf Arbeitswertmenge und verstehen dabei unter Wert eigentlich nur eine falsche Wertung einer gewissen Wirtschaftsordnung. Es bedeutet einen Schönheitsfehler dieser Aera, der mit Überwindung derselben wenigstens in diese Form in Wegfall geraten würde. Alles Streben drängt zur reinen Ökonomie." Ludwig Erhard, 1925, 158. In diesem Zitat werden gleich drei Punkte Oppenheimer'scher Theorie zusammengefügt: (1) das Klassenmonopol der Kapitalbesitzer, (2) die Unterscheidung nach »reiner« und »politischer/ kapitalistischer« Ökonomie und (3) eine Variante der heute indiskutablen »objektiven Wertlehre«!
[17]
Der englische Arzt W. King hat in seiner Monatszeitschrift »The Co-operator« 1828/29 treffend geschrieben: "Die Grundlage, das Geheimnis um das Genossenschaftswesen ist die Arbeit. Man nehme von dem Produkt der Arbeit weg, was für den Lebensunterhalt der Arbeiter notwendig ist; was dann übrig bleibt ist, ist Überschuß, der gespart wird und der, wenn angesammelt, zu Kapital wird, mit dessen Hilfe die Arbeiter sich selber beschäftigen und für sich selbst Nahrung und andere Artikel erzeugen könnten, gerade so, wie sie es gegenwärtig mit dem Kapital der Unternehmer machen." Zitiert nach Faucherre 1947, S. 9.
[18]
Der antiquierte Begriff paßt zur bankeninternen Rechtfertigungsstruktur und daraus folgernden Risikoscheu der abhängig beschäftigten Kreditvermittler.
[19]
Mir ist leider keine Untersuchung bekannt, die sich mit dem m. E. offensichtlichen Phänomen auseinandersetzt. Alle acht von acht mir bislang näher bekanntgewordenen Alternativbetriebe waren zu 100 % selbstfinanziert, haben auf eine Bewertung ihres Betriebvermögens weitgehend verzichtet und ihr Eigenkapital entsprechend nicht ausgewiesen. Es ginge zu weit, die Hintergründe dieses Phänomens hier auszuleuchten.
[20]
Die organisatorische Umwandlung saturierter Genossenschaften drückt sich vor allem in dem Phänomen aus, daß die genossenschaftliche Rechtsform für die Eigenkapitalbildung beibehalten wird, der Genossenschaftsanteil hingegen den Charakter einer profitorientierten Aktie (ohne Aktienmarkt) erhält und zur Profitmaximierung ein offener Geschäftsbetrieb angestrebt wird. Es entfällt somit die Rückbindung an die ursprünglichen Interessen der Mitglieder, die sich nicht verleugnen lassen, solange die Aktivität der Genossenschaft auf das Mitgliedergeschäft beschränkt ist. Beispiel: Am Anfang der Kreditgenossenschaften stand der Wunsch der Genossen, die Profite etablierter Banken zu minimieren, also Habenzinsen zu erhöhen und Sollzinsen zu senken. Solange sich die Kreditgewährung der Kreditgenossenschaften auf Mitglieder beschränken mußte, waren die Vorstände an die Interessenlage der Mitglieder gebunden. Mit der Öffnung gegenüber Nichtmitgliedern kehrt sich das ursprüngliche Motiv genau um, denn eine Maximierung der Profite durch »marktübliche« Zinssätze führt zu einer Erhöhung der möglichen Ausschüttung pro Genossenschaftsanteil. Die Vorstände werden unverändert entlastet, weil nunmehr hohe Gewinne zur Verteilung anstehen. Die alten Verhältnisse in der Kreditlandschaft werden fortan hingegen nicht mehr angetastet, sondern ausgenutzt. Logische Konsequenz müßte eine zwingende Beschränkung auf das Mitgliedergeschäft sein. Wer diese Fessel sprengen will, sollte zu einem Wechsel der Rechtsform gezwungen werden. Damit bliebe die Genossenschaft als Rechtsform ihrer sozialen Idee vorbehalten und könnte nicht, wie derzeit der Fall, durch genossenschaftsfremde Rechtsformträger usurpiert werden. Weiterführend (vgl. Compart 1977, 68-76).