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SCHWERE BERUFSWAHL

Voigt war außer sich, als er meinen Entschluß vernahm, Medizin zu studieren. Er versuchte durch Vermittlung meines ihm befreundeten Vaters, der an unserer Anstalt den jüdischen Religionsunterricht versah, mich umzustimmen, indem er ihm, ganz mit Recht, sagte, meine Begabung liege ganz ausgesprochen nach der Seite der Philologie und Historik hin. Aber mir fehlte der Mut, meiner Neigung zu folgen. Zum ersten Male griff der Antisemitismus, das schwere Schicksal aller deutschen Juden meiner und der folgenden Generation, in meinen Werdegang entscheidend ein. Bis dahin hatte ich persönlich kaum etwas davon verspürt: mein Verhältnis sowohl zu meinen Lehrern wie auch zu meinen christlichen Mitschülern war das beste, namentlich in den höheren Klassen, seit ich mit den zum größten Teile viel älteren Kindern auch körperlich einigermaßen mitkam; ich war schnell in die erste Turnriege vorgerückt und ein leidlicher Schwimmer. Aber zwischen mir und meinem Herzenswunsche, Lehrer zu werden und meinem vergötterten Voigt nachzueifern, türmten sich doch Hindernisse, die ich mich nicht zu überwinden getraute. War es schon in der besseren Zeit vorher für einen Philologen meiner Konfession sehr schwer gewesen, an einer höheren Lehranstalt angestellt zu werden, weil der, trotz allem doch damals schon (oder noch) feudal-konservativ eingestellte Staat die Gleichheit der Bürgerrechte stehenließ, wo sie standen, nämlich auf dem Papier, so bedeutete die Laufbahn jetzt geradezu ein Martyrium, da sich der neue Geist auch in den Lehrerkollegien selbst immer mehr und mehr ausbreitete. Die Bombe platzte gerade an meiner Anstalt; zwei meiner Lehrer, Dr. Jungfer und Dr. Bernhard Förster, der Schwager Friedrich Nietzsches, ein schwärmerischer feiner Mensch, ein Romantiker, der später eine verunglückte Siedlung in Südamerika unternahm und zugrundeging, unterhielten sich in der Straßenbahn unvorsichtig über den verhängnisvollen Einfluß der Juden auf das öffentliche Leben und über die Mittel zur Abhilfe; ein jüdischer Herr, einer der Chefs der sehr angesehenen Firma Kantorowitz in Posen, ein Mann, der sich mit seiner ganzen Familie im Kampfe gegen das Polentum zeitlebens als Vorkämpfer des Deutschtums empfunden hatte, hörte das Gespräch, fühlte sich tief verletzt, [S.66] mischte sich zornig ein, und es kam zu einem peinlichen Auftritte, meiner Erinnerung nach sogar zu Tätlichkeiten. Was aber noch schlimmer war, Kantorowitz schilderte die Affäre in der Vossischen Zeitung, durchdrungen von seinem guten Rechte, und naiverweise überzeugt, er werde die ganze öffentliche Meinung auf seiner Seite haben. Er war in schwerem Irrtum; er hatte nur "die Katze aus dem Sacke gelassen", und die Bewegung wurde nun erst volkstümlich und immer mächtiger.

Wir können das alles heute soziologisch sehr gut verstehen. Seit den Freiheitskriegen und namentlich seit dem Zollverein war in Deutschland, viel später als in den Ländern des Westens, langsam der Stand der Großbürger emporgestiegen, und der ist überall in der Welt nationalistisch, während der Adel oben und das Proletariat unten internationalistisch sind. Dieser Nationalismus hatte so lange fast nur ein außenpolitisches Ziel gehabt: die Einigung Deutschlands. Dieses Hochziel war erreicht, und nun wandte er sich notwendigerweise nach innen, zumal die Entwicklung zum Kapitalismus, d. h. zum Großbürgertum, seit dem Kriege, dank dem "Milliardensegen", ungeheure Fortschritte gemacht hatte. Hatte man bisher die deutschen "Belange", um die Sprache dieser Bewegung anzuwenden, gegen Franzosen und Engländer vertreten, so wendete man sich jetzt gegen Polen, Dänen, die neugewonnenen Franzosen von Lothringen und die Juden. Sie sollten "nationalisiert" werden, sollten sich, in der Sprache die ersten, in dem Glauben die letzten, der eigenen, über alles verehrten Nationalität angleichen. Die Hybris des Siegers, die an jedem Siegervolke das Verbrechen des Krieges rächt, kam dazu, um in Deutschland diesen "Adelsdünkel der Rotüre", wie ich ihn (in "Rom und die Germanen") neuerdings genannt habe, zu übersteigern. Es gibt ja keine bequemere Philosophie! Wie der verlumpteste Hidalgo und Schlachtschitz sich dem gebildetsten und reichsten Bürger überlegen glaubte, weil er "edles Blut" in seinen Adern fließen fühlte, so braucht nach diesem Credo jemand nur blond, blauäugig und langköpfig zu sein, um jedem Brünetten und Kurzkopf weit voranzustehen, mag der auch durch Bildung und Charakter noch so hoch über seinem Verächter stehen.

Kein Wunder, daß der vornehme Romantiker Förster einer der ersten Träger und eines der ersten Opfer des Wahnes war. Denn der stammt in seiner letzten Wurzel aus der Romantik, die sich in Wissenschaft und Kunst (Savigny, Adam Müller, die Schlegel [S.67] und Tieck) gegen den Kosmopolitismus der Klassiker wendete. Treitschke, der meiner Überzeugung nach damals und auch heute noch maßlos überschätzte Staatslehrer und Historiker der Berliner Universität, war nichts anderes als ein später und vergröberter Nachfahre Hegels, dessen Vergötzung des Staates im allgemeinen und des Preußischen Staates im besonderen er noch übergipfelte; und von dem getauften Juden Friedrich Julius Stahl her, dem Schöpfer des konservativen Parteiprogramms, kam ihm die Forderung, daß dieser allmächtige Staat christlich, und das heißt hier, protestantisch sein solle. Daher die Einstellung auch gegen die preußischen und deutschen Katholiken, die Schikanen gegen die Dissidenten.

Mit dieser Stimmung des aufkommenden kapitalistischen Bürgertums mischte sich von oben her der uralte Junkerhaß gegen das unbändige Volk, das sich durch keine Gewalt in Knechtschaft pressen ließ, und von unten her jener fast gemütliche gruppennachbarliche Widerwille, von dem ich schon sprach. Es kam dazu, daß in der Zeit des großen Krachs, der ersten schweren Wirtschaftskrise, die das eben erst sich kapitalisierende Deutschland 1873 traf, eine ganze Anzahl von Juden "aufgefallen" waren, als erfolgreiche Gründer, als Bankerotteure, deren Sturz viel Unheil anrichtete (Strousberg), aber auch als Ankläger der ganzen Bewegung (in die ja auch Menschen aus den allerersten Kreisen des Adels schwer verwickelt waren): Eduard Lasker an der Spitze. Das historische Handwerk und der historische Mittelstand fingen an zu leiden, zum Teil wirklich durch die übermächtige Konkurrenz des Großkapitals der Fabriken und der Kaufhäuser, aus denen bald die Warenhäuser wurden, zum größeren Teil aber durch ihre innere maßlose Konkurrenz, durch die im Verhältnis zur Bevölkerung allzu stark wachsende eigene Anzahl; aber sie sahen nur das erste und wandten sich natürlich gegen die schwächste Stelle des feindlichen Aufmarschs: gegen die jüdischen Kapitalisten. Sie durfte man ruhig angreifen, ohne den "Staat" gegen sich aufzubringen, dessen Hilfe man flehentlich anrief. Und, nach dem alten gesunden Grundsatz, demzufolge der Dieb selbst das "Haltet den Dieb" schreit, schlossen sich die christlichen Kapitalisten mehr und mehr der volkstümlichen Bewegung an; sie hatten die Hoffnung gratis, die starke Konkurrenz loszuwerden oder wenigstens durch Herüberziehung der Käufer zu schwächen.

Kein Zweifel, daß Juden in einem im Verhältnisse zu ihrer Zahl auffällig starken Prozentsatz an der Entwicklung des deutschen [S.68] Kapitalismus und seiner Hilfsgewerbe, namentlich auch der Presse, beteiligt waren. Aber man hätte billigerweise bedenken müssen, daß sie von jeher in den Stand der Kaufleute und Bankiers geradezu zwangsmäßig hineingedrängt worden waren, weil ihnen nicht nur alle vom Staate verliehenen Ämter: der Staatsdienst in Heer und Verwaltung, die Richterstellung, das Lehramt an Schulen und Hochschulen usw., sondern auch das Handwerk gesperrt waren. Sie konnten sich, wie Sombart richtig sah, nur in den Lücken und Spalten der mittelalterlichen Ordnung festsetzen; hier erwarben sie die Schulung für die neuen Dinge, erwarben sie eher und gründlicher als die anderen, weil sie durch keine Tradition behindert waren: "Pionierpsychologie" nennt das der Soziologe. Unter diesen neuen Gewerben stand das Zeitungswesen obenan; von jeher waren die Juden das Volk des Buches und der Schrift gewesen; ihre Lage zwang ihnen überall die Mehrsprachigkeit, mindestens die Zweisprachigkeit auf; das gab ihnen nicht nur eine gewisse Gewandtheit des Ausdrucks, sondern stärkte auch noch ihre Anlage zu abstraktem Denken: denn, wie ich zuerst bemerkt habe, dem Mehrsprachigen löst sich viel leichter der Begriff vom Worte und Dinge ab. Und dann war die Presse damals fast der einzige Ort innerhalb des Gemeinwesens, wo der Jude erwerben konnte, was allein den Menschen lockt: Geltung und Macht. Wird doch auch Reichtum fast nur um der Macht willen erstrebt! Und daß die von Juden geleiteten Blätter nicht gerade im Sinne der herrschenden Klassen staatsfromm waren, das konnte man ihnen wahrhaftig nicht verdenken. Indem der Jude für Gleichberechtigung aller, für Freiheit und Selbstverwaltung eintrat, kämpfte er zugleich für seine engere Gemeinschaft. Er war nach Lage der Dinge der geborene Führer aller Opposition.

Es fällt mir nicht bei, zu behaupten, daß alle diese Kapitalisten und Zeitungsmenschen reine Engel gewesen sind. Es gab auch unter ihnen Schieber und Schwindler genug, rücksichtslose Raffkes, erbarmungslose Konkurrenten, und auch die Zeitungen werden es nicht immer verstanden und zuweilen nicht einmal versucht haben, ihre Anschauungen mit dem letzten Takt zu vertreten. Wobei allerdings auch wieder beachtet werden muß, daß bei uns in Deutschland der politische Gegner von jeher, auch heute noch, als ein sittenloser Mensch betrachtet zu werden pflegt, und daß man jeden Angriff auf die eigene Weltanschauung ohne weiteres als schwere Taktlosigkeit empfindet, selbst wenn sie sich auf das vornehmste ausdrückt. Aber [S.69] alle jene Ausschreitungen einmal zugegeben: wir empfanden es damals und empfinden es noch heute als schwere Kränkung und äußerste Ungerechtigkeit, daß man auch uns, die mit allen jenen Dingen nicht das mindeste zu tun hatten, in einer von uns abgelehnten "Gemeinbürgschaft" dafür verantwortlich machte und noch immer macht. Wie der Deutsche während des Krieges es als niederträchtig empfand, daß die Presse der Entente sein ganzes Volk für nachgewiesene und erfundene "atrocities" einzelner haftbar machte und uns "Hunnen und schamlose Skythen" schimpfte, wie Kipling, von dem es mich besonders schmerzt, weil er ein großer Künstler ist, so empfinden wir die uns aufgezwungene Gemeinbürgschaft als eine Niederträchtigkeit.

Das also war die innere und äußere Lage, in der ich, ein Bub von sechzehn Jahren, über meinen künftigen Beruf entscheiden sollte. War ich feige, als ich auf meinen Herzenswunsch verzichtete? Vielleicht! Aber ich glaube, ich war wohl eher ahnungslos. Ich hatte von der großen Wichtigkeit dieser Entscheidung noch keine Vorstellung, ich war nicht reif dafür. Hätte ich ehrlichen Kampf vorausgesehen, so hätte ich wahrscheinlich nicht geschwankt: aber ich sah die üble Situation des scheel angesehenen, nur unwillig geduldeten Eindringlings vor mir, und das widerte mich an.

Was also sollte der Junge werden? An Kaufmannschaft dachte niemand; die antimammonistische Einstellung des Hauses ließ den Gedanken gar nicht aufkommen, und die Eltern mögen wohl auch gehofft haben, daß ihr Sohn in der Wissenschaft einiges würde leisten können. Vor der Jurisprudenz hatte ich eine heilige Scheu: aus dem gleichen Grunde; ich redete mir ein, auch das sei nur ein Kampf um Mein und Dein; es war niemand in der näheren Familie, der mir den schönen Beruf in dem Lichte des Idealismus dargestellt hätte, den das junge Herz braucht. Zum Architekten und Ingenieur fehlte mir die zeichnerische Begabung, zum Geistlichen der Glauben, zur Chemie die Neigung; dagegen lockte die Erinnerung an den Beruf des Großvaters und die Vorstellung von dem segensreichen und opfervollen Amte des Arztes, und so kam der Entschluß zustande.

War es eine Sackgasse, aus der nur Umkehr erlösen kann? Oder war es einer jener scheinbaren Umwege, die leichter und sicherer zum erstrebten Ziele führen? Ich glaube, das letztere. Ich habe immer das Gefühl gehabt, "geführt" zu werden: und, im Lichte meiner späteren Laufbahn gesehen, war der Weg über die Medizin der [S.70] einzige zu meinem Ziele. Ich kam auf diese Weise als reifer Mensch mit den klarsten Vorstellungen über Wesen und Sinn der Wissenschaft zu meinen neuen Studien, und diese Vorstellungen waren sehr viel präziser und anspruchsvoller als die in der Nationalökonomie und Soziologie damals und leider noch heute herrschenden. Die strenge Methode der Naturwissenschaften saß mir im Blute, die ich, ein Gymnasiast, nie kennengelernt hätte, wenn ich von vornherein mich einer Geisteswissenschaft zugewendet hätte, und ich konnte meinem verehrten Freunde Kurt Breysig nur recht geben, als er mir einmal von der "Zuchtlosigkeit" des geisteswissenschaftlichen Denkens sprach. Ich brachte weiterhin mit die genaue Vertrautheit mit dem Wesen und dem Funktionszusammenhang eines Organismus, ein Begriff, von dem die meisten meiner jetzigen Fachgenossen reden wie der Blinde von der Farbe; und die Gesellschaft ist eine Art Organismus: und so ist es kein Wunder, wenn nicht nur der erste Begründer der theoretischen Nationalökonomie, François Quesnay, sondern außer ihm noch eine ganze Reihe genialer Ärzte in die Wirtschafts- und Sozialwissenschaft entscheidende Fortschritte gebracht haben: William Petty, Bernard de Mandeville, Charles Hall, William Thompson, Aimé Huber. Ihnen allen war der Leitgedanke der ärztliche: hier ist ein kranker Organismus: wo steckt die "causa morbi" und die "sedes mali", die Ursache und der Sitz des Übels? Dann mußte sich aus der Diagnose der Heilplan ergeben.

Und schließlich: ich entging der Gefahr, in einer bestimmten Richtung sozusagen einzufrieren, einem Meister für immer zu verfallen. Ich arbeitete mich allein vorwärts, im "Selbstvertrauen der Vernunft", meiner Methode gewiß; und so lernte ich das ganze gewaltige Gebiet von Grund auf kennen, mit allen seinen Sackgassen und Fußfallen, mit allen seinen Problemen und Versuchen zu ihrer Lösung. Das wäre für einen jungen Anfänger überaus gefährlich gewesen: für den gereiften Mann von Dreißig mit guter methodischer Schulung war es der sicherste Weg zu eigener Selbstwüchsigkeit. Das ist mir einmal klar geworden, als ich mich in München vom Bahnhof fort sogleich hilflos verirrte; ich hatte geglaubt, die Stadt gut zu kennen, in der ich schon mehrere Male gewesen war: aber mich hatte immer ein Freund am Bahnhof empfangen und geleitet. Im selben Jahre war ich in Prag gewesen, einer Stadt, die ich nie betreten hatte, in der ich keinen Menschen, [S.71] von deren Sprache ich kein Wort kannte, hatte mir einen Plan gekauft und eine halbe Stunde studiert - und ich fand mich sofort fehllos zurecht. "Ecco", sagt mein alter Freund Kerr.

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BURSCHENZEIT I (FREIBURG)

So paradox es klingt, so wahr ist es doch, daß meine Studentenzeit in dem Sinne als Burschenzeit geradezu eine Unterbrechung meiner Studien darstellt. Ich hatte von der Zeit an, wo ich unter Voigts Einfluß geriet, für mich selbst gearbeitet, selbständig, rastlos, aber gänzlich unsystematisch. Ich griff zu allem, was sich mir zufällig bot. Als Sekundaner las ich ungeheuer viel Französisch und Englisch, da ich den ganzen Dumas Vater und die bekannte Schillings-Ausgabe des Shakespeare in der Bibliothek meiner Eltern und Freunde vorfand. Dann habe ich als Primaner die Klassenbibliothek durchgearbeitet, die die wertvollsten Werke der damaligen Germanistik enthielt. Die Thidrekssage und die Edda, die Sagen vom Tode des jungen Wulfhart, von Laurin, vom Kampf im Rosengarten und vom Schmied Wieland waren mir so vertraut wie die Nibelungen und das Gudrunlied. Seit jener Zeit, also etwa seit meinem vierzehnten Jahre, war meine, stets grüne, Arbeitslampe so etwas wie "der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht" - eben mit jener Unterbrechung durch die reichliche erste Hälfte meiner Studienzeit; dessen ist ein fröhliches Erlebnis Zeuge. Es war Ende der neunziger Jahre, ich wohnte in der Kantstraße 158, und arbeitete an meinem zweiten größeren Werke "Großgrundeigentum und soziale Frage". Da erschien eines Nachmittags ein guter Bekannter, ein gewisser Suin de Boutemard, bei mir und fragte mit scherzhafter Drohung: "Doktor, wo haben Sie gestern gesteckt?" Als ich mit den zwischen Berlinern üblichen Zweifeln an seinem geistigen Gesundheitszustande antwortete, sagte er lachend: "Seit Monaten komme ich jede Nacht beim Nachhauseweg hier vorbei und sehe Ihre Arbeitslampe im Erker. Gestern war es dunkel, wo haben Sie gesteckt?"! Ich war, mangels eines vierten Mannes, zu meinem Schwiegervater zum Skat befohlen worden.

Aber: ich muß es eingestehen, während meiner ersten Semester ist in meiner grünen Lampe nicht sehr viel Petroleum verbrannt worden. Ich habe mit gleicher Konsequenz "gebummelt" wie vorher und nachher geschafft. Ich war, wie gesagt, allzu jung, um den ganzen Ernst der Berufswahl zu empfinden, und eben diese Jugend hatte mich zu einem Studium greifen lassen, das meiner Eigenart [S.73] nicht entsprach. Es kam dazu, daß das für die vorklinischen Semester wichtigste Fach durch einen außerordentlich liebenswürdigen und gelehrten, aber sehr alten Herrn, Professor Reichert, besetzt war, dessen Vorlesung schon auf der dritten Bank nicht mehr verständlich war. Ebenso arg stand es um die anatomischen Präparierübungen. Dem alten Herrn waren die Verhältnisse über den Kopf gewachsen; die Zahl der Studenten hatte sich in unerwarteter Weise vermehrt, die alte Organisation war gesprengt, und seine Kraft reichte nicht hin, um sie neu aufzubauen. Es war das reine Lotteriespiel mit sehr viel Nieten und wenig Gewinnen, ob man am Wochenanfang sein Präparat bekam oder nicht. Reichert stellte sich mitten im Präpariersaal an einen Tisch, auf den die Studenten die Zettel warfen, in denen sie um ein bestimmtes Präparat ersuchten. Er griff in den Haufen hinein wie der Waisenknabe in die Lostrommel; der Glückliche erhielt, was er wünschte, die Mehrzahl ging leer aus und konnte oder vielmehr mußte feiern. Die größten Kunststücke wurden gemacht, um einen Treffer zu ergattern: es wurden große Kartonbogen mit kalligraphischer Schrift oder gar mit sorgfältig ausgeführten, bunt kolorierten anatomischen Zeichnungen oder humoristische Gedichte auf den Tisch der Gnaden geworfen. In diese Mißwirtschaft hat erst nach Reicherts endlichem Rücktritt der an seine Stelle berufene große Anatom Waldeyer Ordnung gebracht: für meine Generation zu spät! Wir mußten dann bei Waldeyer ins Staatsexamen und hatten es infolgedessen als "Schüler" des "alten Reichert" herzlich schwer. Ich habe volle vierzehn Wochen in angestrengtester Arbeit, unter reichlichem Genuß von schwarzem Kaffee, um mich wach zu halten, nur für die erste, die anatomische Station studiert und dann allerdings glänzend bestanden. Mit etwas mehr Regelmäßigkeit besuchte ich die Vorlesungen von Emile Dubois-Reymond über Physiologie, die mich interessierten, weil es hier etwas zu denken gab. Ganz regelmäßig war ich in seiner berühmten Abendvorlesung über die Deszendenztheorie, die im damaligen Auditorium maximum im Garten der Universität vor einem aus allen Gesellschafts- und Altersklassen gemischten Publikum gehalten wurde. Damals war der Darwinismus ebenso volkstümlich wie bestritten: mein späterer Leibfuchs, Jugendfreund und Schwager, Richard Dehmel, war als Primaner des Sophiengymnasiums durch seinen bigotten Direktor Paul "geschaßt" worden, weil er mit Mitschülern Darwin gelesen hatte; und das erste Buch, das ich mir aus [S.74] der Freiburger Universitätsbibliothek geben ließ, war "Die Entstehung der Arten".

Daß ich mein erstes Semester, einen allzu kurzen Sommer, verbummelte, war sozusagen programmgemäß. Die Eltern konnten mir gestatten, für das eine Mal nach Freiburg zu gehen, und es verstand sich von selbst, daß ein junger Fuchs diese erste Zeit der Freiheit, und noch dazu im Sommer, wo der anatomische Präpariersaal geschlossen war, mehr zu Ausflügen in den Schwarzwald und zu sonstigen Nebendingen verwendete, als auf das Studium. Damals lernte ich das süddeutsche Wesen kennen und lieben; die läßlichere Art zu leben, den anderen gelten zu lassen und selbst unaufdringlich, aber fest die eigene Geltung zu verlangen, ist meinem Wesen angemessener als die harte und oft pedantische Lebensauffassung des Norddeutschen, der sich fast immer, nach oben wie nach unten, als Mitglied einer bestimmten Gesellschaftsklasse oder -gruppe fühlt und hält. Freiburg war damals noch eine kleine Universität mit nur etwa 700 bis 800 Studenten; infolgedessen bedeutete der Student noch viel, und es umgab ihn eine warme Atmosphäre von Achtung und Vertrauen, beruhend auf ältester Tradition.

Ich trat der Burschenschaft "Alemannia" bei, im Gedenken daran, daß mein lieber Vater in der aufgeregten Zeit nach 48 auch Burschenschafter in Berlin gewesen war. Und ich fand auch noch ein gutes Teil des schönen Geistes, der die Burschenschaft im Gegensatz zu den feudalen Landsmannschaften, den jetzigen Korps, nach den Freiheitskriegen begründet hatte: den Geist des aufsteigenden Bürgertums, dessen Salz damals noch nicht dumm geworden war. Zu uns gehörten z. B. zwei Söhne des bekannten badischen Revolutionärs Venedey, zwei junge Männer von ungeheurer Körperkraft. Der ältere, Michel, war Mediziner und hat sich später in einem sehr langen Dienst als Schiffsarzt bei der Hapag eine lustige Volkstümlichkeit erworben; er duzte alle Welt und blieb sein Leben lang der gerade Schwabe. Der zweite, Martin, mein Großleibbursch, wirkt noch heute als hochangesehener Anwalt in Konstanz; er war lange Zeit Vertreter der Süddeutschen Volkspartei im Badischen Landtage, auch er ein geradliniger, gutherziger Mensch. Die alte Mutter der beiden war nicht selten Gast an unserer gemeinsamen bescheidenen Mittagstafel im Wirtshause von Allgaier nahe dem Dome.

Hier in Freiburg habe ich doch wenigstens noch einen starken Rest der alten Burschenherrlichkeit erlebt, von der das Lied sagt. [S.75] Der "Couleurzwang" war leicht erträglich, der Trinkzwang hielt sich in Grenzen, der erforderliche Aufwand wurde nicht übertrieben, der Umgangston war der einer brüderlichen Herzlichkeit. Vielleicht läßt mich die Erinnerung durch eine Rosenbrille blicken: war ich doch nicht nur ein Fuchs, sondern nahezu noch ein Kind und in diesen meinen beiden Eigenschaften suggestibel genug, um schönen Schein für die Wirklichkeit zu nehmen. Aber, verglichen mit meiner späteren Zeit in der Berliner Burschenschaft Hevellia, erscheint mir jene Fuchsenperiode paradiesisch. Es bleibt mir unvergeßlich, wie zum ersten Male von der Dachterrasse des Allgaierschen Hauses unser "Frei ist der Bursch" über die alte Stadt dahinbrauste; der erste Mensurentag, dem ich als Zuschauer beiwohnte, mit seinem Drumherum von Räuberromantik, weil wir doch nicht ganz sicher vor den "Pudeln", d. h. Pedellen, waren, die fröhlichen Trinkabende, all das schmilzt mir heute, nach fast schon einem halben Jahrhundert, zu einem Gedenken zusammen, das mein Herz fröhlich pochen läßt. Ich freute mich meiner jungen Kraft; ich focht, und focht bald überraschend gut; ich wurde ein guter Schütze; ich war der einzige, von dem sich die bildschöne Tochter des Schießbudenbesitzers auf dem Pfingstrummel die Tonpfeife aus dem Munde schießen ließ; und es machte mir diebischen Spaß, mit dem geladenen Luftgewehr auf der Lauer zu liegen und abzuwarten, bis der Fuchs der Schwaben, es war ein Graf Strachwitz aus Sachsen, die im Wasserstrahl tanzende Glaskugel fehlte, und sie dann selbst herauszuschießen, bis er mit einem wütenden "Gottstrambach" fortstürzte. Die Korps und Burschenschaften der Stadt standen seit einer fürchterlichen Schlägerei im Kaffee Kopf in gegenseitigem Waffenverruf; sonst hätte ich damals ganz sicher meine erste "Kontrahage" erhalten. Und bei alledem der Schwarzwald vor der Tür: wie oft riß es uns weiter und weiter in seine waldigen Täler, bis uns die Nacht überraschte und wir irgendwo in einem Dorfwirtshause Quartier suchen mußten, um am nächsten Tage ebenso ziellos weiterzuwandern, "von Liebe, Lust und Jugend trunken". Damals, 1881, gab es noch keine Höllentalbahn, und es war eine lange, lange Wanderung durch das lachende "Himmelreich" und durch die Schlucht des Höllentals, an deren Eingang der Höllenmüller mit seinem ungeheuren Kropfe stand, hinauf zum Feldberg. Damals war Hinterzarten ein verschlafenes Dörfchen; um mit Scheffel zu sprechen, eine "duftige Mistfinkenhöhle": als ich vor jetzt zwölf Jahren zum ersten [S.76] Male wieder dort hinkam, war es eine sehr zivilisierte Sommerfrische hohen Ranges geworden. Wir erklommen den Feldberg, dessen Flanke damals noch in tiefem Schnee lag; wir aßen und tranken im Feldberghaus gegen ein Entgelt, das den heutigen Wirt wahrscheinlich erbleichen lassen würde, und lagen dann müde, satt und selig im welken Grase auf dem schneefreien Südabhang und schauten ins Weite. Und von dort ging's mittagwärts durch das Tal der Wiese nach Säckingen und zum Bodensee. Ein andermal sah ich in goldener Morgenfrühe vom Schauinsland nach Süden; dort lagen seltsam geformte weiße Wolken, in denen ich plötzlich mit jähem Zucken des Herzens die Kette der Alpen erkannte. Das war der coup de foudre, der Blitzstrahl, der mir die unvergängliche Liebe zu den Graten und Gipfeln ins Herz brannte. Ich schreibe das im Engadin, in Celerina, das "meiner Seele Heimat" geworden ist. Vor mir zackt im bleichen Licht der sinkenden Dämmerung die schöne Bergkette, die vom Albris über den Piz Muraigl und die Schwestern nordostwärts streicht; und ich weiß, daß diese Liebe in dem verflossenen Halbjahrhundert nicht geringer geworden ist. Es geht uns wahren Alpenfreunden mit unseren geliebten Bergen wie mit einer geliebten Frau: sie hat hundert Gesichter und hundert Launen, und jedes und jede lieben wir in gleicher lächelnder Seligkeit.

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BURSCHENZEIT II (BERLIN)

Ich mußte mein Freiburg lassen, um den Rest meiner Studienzeit in Berlin zu verbringen. Hier geriet ich sofort in den Wirbel jener aufgeregten Jahre, in denen die politischen Gegensätze die Studentenschaft in zwei feindliche Lager zu spalten begannen. Der "Verein Deutscher Studenten" hatte sich aufgetan als die Stätte, wo der junge aggressive Nationalismus seine Pflege fand, als der Ausdruck der neuen Staatsgesinnung, die die drei siegreichen Kriege und der mächtig sich entfaltende Kapitalismus geboren hatten; und wie die Studentenschaft überall und zu allen Zeiten nichts anderes war und ist als die rücksichtslos stürmende Vertreterin der sozialen Gruppe, aus der sie hervorgegangen ist, so war es auch hier: die jungen Leute waren von dem Geiste Treitschkes befeuert, den ich schon schilderte, und folgten mit Begeisterung dem gewaltigen Redner Hofprediger Stöcker, der damals zuerst dem neuen Antisemitismus öffentlichen Ausdruck gab. Auch mein lieber Adolf Wagner war führend an der Bewegung beteiligt, und zwar vorwiegend, als Schüler des Staatssozialisten Rodbertus-Jagetzow, aus seiner antikapitalistischen Einstellung heraus; er fürchtete das jüdische Kapital mehr als das christliche, wohl aus dem Grunde, weil er nicht hoffte, in der jüdischen Psyche den Ankergrund der brüderlichen Liebe zu finden, die er anrief, um die schärfsten Spitzen der von ihm beklagten und bekämpften wirtschaftlichen Entwicklung doch wenigstens abzustumpfen. Das Ganze war eine unausgegorene Mischung von Feudalismus und gefühlsmäßigem Halbsozialismus, und so ist es kein Wunder, daß aus dieser Bewegung späterhin auch überzeugte Sozialisten hervorgingen, wie Wolfgang Heine, der gütige Pfarrer Göhre und, ihnen sehr nahestehend, Helmut von Gerlach, der radikale Pazifist. Mit Heine und Gerlach habe ich damals in der alten "Tonhalle" in der Friedrichstraße bei den großen Studentenversammlungen jener Zeit ehrlich gefochten.

Ich war nämlich selbstverständlich der grollen Gegenorganisation beigetreten, die sich ihr Kriegslager und Hauptquartier an der Stechbahn geschaffen hatte, der "Freien wissenschaftlichen Vereinigung". Sie bestand aus jungen Leuten, die sich noch in ehrlicher Überzeugung zu den Anschauungen des bürgerlichen Liberalismus bekannten; [S.78] unter ihnen waren natürlicherweise zahlreiche Juden. Ich wurde fast sofort der Fechtwart der damals mehrere hundert Köpfe zählenden Vereinigung und trat als einer ihrer Redner zum erstenmal auf die Tribüne. Die Argumente, mit denen ich unsere Sache vertrat, wären wohl nicht alle, so fürchte ich, in den Lehrbüchern der Logik zu entdecken. Wenigstens erzählte mir viele Jahre später ein Augen- und Ohrenzeuge, ich hätte zum Schluß einer meiner Reden in den Saal hineingerufen: "Wer an meinem deutschen Vaterlandsgefühl zweifelt, möge sich nachher bei mir melden. Ich habe hundert Visitenkarten mitgebracht." Aber es hat sich niemand gemeldet!

Nach einem ziemlich wilden Semester in diesem großen Verbande, dem ein starker politischer Idealismus geradeso Schwung verlieh wie dem gegnerischen "V. d. St.", wurde ich wieder aktiv, und zwar bei der dem Eisenacher Deputiertenkonvent angeschlossenen Burschenschaft Hevellia, die mit meiner Freiburger Couleur in intimen Verkehrsbeziehungen stand. Und nun begann eine Zeit, an die ich nur mit gemischten Gefühlen denken kann, Gefühlen, in denen doch das Negative überwiegt. Ich würde die Unwahrheit sagen, wollte ich behaupten, daß ich meinen Ruf als erstklassiger Fechter nicht genoß; es machte mir Spaß, zuweilen zu erleben, daß ein Student, der mit der unzweifelhaften Absicht, mich zu "rempeln", mit vorgestreckter Schulter steifbeinig auf mich zuschritt, plötzlich die Schulter zurücknahm und in scheuem Bogen um mich herumging, als er das damals sehr bekannte Gesicht erblickte. Ich blähte mich "wie ein Gockel", als ich den Sprecher der Germanen, ich selbst noch Fuchs, in vier Gängen mit vier "Abfuhren" "hinaustat", und ich hatte ein wahres Cäsarenbewußtsein, als nach fast zweistündigem erbittertem und blutigem Kampfe der brave, mir an Größe und Körperkraft weit überlegene Junge abgeführt wurde, der bis dahin als der beste Fechter des D. C. gegolten hatte. Es war unser zweites Zusammentreffen: bei dem ersten hatte er, selbst schon hoffnungslos angeschlagen, mich durch einen Zufallstreffer außer Gefecht gesetzt, weil ich, meines Sieges schon sicher, in toller Angriffslust ohne jede Rücksicht auf eigene Deckung darauflos ging. Ich forderte ihn sofort zum zweiten Male, und es kitzelte mich angenehm, zu erfahren, daß von den benachbarten Hochschulen die besten Sachverständigen herübergekommen waren, um dem sensationellen Treffen beizuwohnen. Ich wurde denn auch ganz allgemein als der gegebene Führer meiner Richtung betrachtet: es war eigentlich [S.79] selbstverständlich, daß mich die vorklinischen Mediziner in das Komitee wählten, das den alljährlichen Kommers zu Ehren des Professors der Anatomie, den "Reichert-Kommers", leitete, und ebenso selbstverständlich, daß ich zwei Semester später von meiner Fakultät in den Studentenausschuß gewählt wurde. Hier traf ich zum ersten Male mit gescheiten Jungen von anderer politischer Richtung zusammen und lernte die Relativität aller Parteimeinung, wenn nicht zu erkennen, so doch zu ahnen.

All das war für einen jungen Menschen von achtzehn bis zwanzig ja sehr lockend und erfreulich, und ich denke auch gern an den Fisenacher Deputiertenkonvent, den ich als Delegierter meiner Burschenschaft zu Pfingsten 1884 mitmachte, an den "Bierstaat" in Jena, wo meine Trinkfestigkeit mir die Ernennung zum "Gefürsteten Grafen von und zu Kunitz" und unzählige Blechorden einbrachte, und an manche andere frohe Begebenheit. Aber über dieser ganzen Zeit liegt doch ein Schleier. Ich fühlte irgendwo in der Tiefe, wo des Menschen Persönlichstes lebendig ist, in den Gründen, wo das Gewissen seinen Sitz hat, daß sich dieses ganze Leben des Müßiggangs nicht für mich schicke. Es war nicht mein Leben, und es war auch an sich eine Art zu leben, die der Einstellung meiner ganzen Gruppe, die all den Vor-Urteilen zuwiderlief, die ich aus dem Elternhause mitgebracht hatte. Dieses Leben widerstritt sowohl dem Ansatze dessen, was in einem so jungen Menschen schon als "Persönlichkeit" vorhanden sein konnte, wie auch dem Gruppenwesen in mir. Jener Prozeß der Feudalisierung, dem das ganze Bürgertum um jene Zeit mehr und mehr verfiel, jene Adelsäfferei, hatte auch meine Burschenschaft ergriffen, wie sich damals denn überhaupt die Burschenschaften immer mehr in Lebensauffassung und äußerer Haltung den Korps näherten, als deren Gegenspieler sie ursprünglich entstanden waren. Der Kampf zwischen Schwarzrotgold und Schwarzweißrot hatte damals bereits begonnen, nur mit dem Unterschiede, daß die damals neue Reichsfarbe Schwarzweiß-rot, vertreten durch die "germanische", vor allem in Norddeutschland herrschende Richtung die ältere, "arministische", Farbe und Richtung zurückdrängte. Mehr und mehr schwand der alte Geist, den ich nach meines Vaters Schilderungen in der Burschenschaft zu finden gehofft hatte und in Freiburg auch noch in starken lebenskräftigen Resten wirklich gefunden hatte, und mehr und mehr wurde das alte feudale, das sogenannte "Husarenideal" das Losungswort: [S.80] "In einer Stunde drei Flaschen, drei Meilen Ritt und drei Mädchen". Kam es einmal mit meinen Bundesbrüdern zu einem politischen Gespräche, so riß sich die ganze Kluft des Gesinnungsgegensatzes zwischen uns auf, und ich fühlte nur um so stärker, daß ich hierhin eigentlich nicht gehörte.

Was ich aber damals noch nicht voll begriff, sondern nur ahnte, war, daß ich hier nicht mein Leben führte. Die etwa drei Jahre, die ich in diesem Kreise zubrachte, sind, seitdem ich überhaupt zum Bewußtsein meines eigenen Ichs gelangt war, die einzigen, in denen ich nicht dem eigenen Gesetze folgte, sondern, um es hart auszudrücken, ein Klischeeleben führte. Ich muß hier an die wunderbare Schlußstrophe in der Huttenbeichte von Conrad Ferdinand Meyer denken:

"Mich reut, ich beicht' es mit zerknirschtem Sinn,
daß ich nicht Hutten stets gewesen bin."

Wenn ich mich dem Zwange nicht früher entzog, so trägt auch hier wieder meine Eigenschaft als Jude die Hauptverantwortung. Es ist uns ja fast unmöglich gemacht, uns "natürlich" zu benehmen. Wir sind ja gezwungen, alles zur Gipfelleistung zu treiben, sei es Wissenschaft, sei es Sport, sei es die Betonung der Psychologie und Haltung einer Gruppe, in die wir irgendwie hineingeraten sind. Wir müssen uns ja, ob wir dessen bewußt sind oder nicht (und zumeist sind wir uns dessen bewußt), immer wieder als echte Zugehörige "legitimieren", während der Nichtjude bis zum Beweise des Gegenteils ohne weiteres als legitimiert gilt.

Nun, jedenfalls packte mich eines Tages der, lange im Unterbewußtsein angewachsene, "moralische Kater" mit voller Wucht, und zwar bei einer sehr merkwürdigen Gelegenheit. Wir hatten eine Pro-patria-Suite mit einer Tübinger Burschenschaft; mir war die Fechtwartpartie zugefallen, und nach wenigen Gängen wurde drüben Abfuhr erklärt, und ich, wieder einmal völlig unberührt, sah zu, wie auf der anderen Seite zwei Opfer "geflickt" wurden, mein Gegner und dessen Sekundant: der Unglückliche, noch dazu Theologe, hatte bei dem Versuch, eine meiner Tiefquarten herauszufangen, selbst einen schweren "Durchzieher" seines Paukanten erhalten, der ihm die ganze Oberlippe querspaltete. Als ich ausbandagiert wurde, ging mir dieses ganze Treiben als der Gipfel aller Sinnlosigkeit, [S.81] ja Widersinnigkeit auf, ich ging vom Paukboden stracks nach Hause, ließ mich inaktivieren, wozu ich berechtigt war, denn es war Zeit, ans Examen zu denken, und setzte mich an die Arbeit, um sie seitdem kaum je wieder, außer in wohlverdienter Ferienruhe, zu verlassen.

Meine Burschenschaft aber bestätigte mein tiefinnerstes Gefühl, indem sie im ersten Konvent, an dem ich nicht teilnahm, den Judenparagraphen einführte. Ich schickte daraufhin selbstverständlich mein Band ein, und so endete diese Episode, wie sie enden mußte.

Wir haben uns mit vielem Traurigen abzufinden heutzutage. Dazu gehört, und ist dem akademischen Lehrer eine besondere Trauer, daß so weite und einflußreiche Kreise der deutschen Studentenschaft zu Philistern geworden sind. Denn ein Philister ist, wer dem fremden Gesetze folgt und nicht dem eigenen, wer sich der Tradition blind beugt und dem jungsprossenden Neuen feindlich ist, nur weil es neu ist.

Ich war vor ganz kurzer Zeit wieder einmal in meinem lieben alten Jena und sah am Marktplatze zu, wie hintereinander drei der farbentragenden Verbindungen die bekannte Zeremonie mit dem "Hanfried" aufführten. Es war zum Weinen! Es war Theater vor dem Publikum internationaler Philister, das herumstand und herumsaß. Was einstmals in fröhlicher Laune aus Jugendübermut, selbst frisch und jung, in die Welt gesprungen war, war eine verrunzelte Schmierenschauspielermaske geworden, die man deutlich durch die Schminke sah. Klischee, Klischee! Ich dachte, ich wäre nach dem Achensee oder nach der Insel Marken geraten, wo auch vom Theaterfriseur aufgedonnerte "echte" Tiroler bzw. Altholländer auftreten, ganz so wie hier "echte" deutsche Studenten. Ich dachte an Fritz Reuter und seine "Festungstid", und was er wohl sagen würde, wenn er diese Studenten beobachten könnte, die ganz bestimmt nicht zum Tode verurteilt und zu lebenslänglicher Festung begnadigt werden, weil sie einem noch nicht staatlich und gesellschaftlich genehmigten Ideal anhängen. Das Ideal war damals das unter der schwarzrotgoldenen Fahne geeinte Deutsche Reich

"O jerum, jerum, jerum,

o, quae mutatio rerum!"

O, alte Burschenherrlichkeit, wohin bist du entschwunden!

[S.82]

STUDIUM

Alle Bummelei konnte mich nicht verhindern, zum frühesten zulässigen Termin, Ende des vierten Semesters, das erste Examen, das "Tentamen physicum" zu bestehen. Es war in sieben verschiedenen Fächern zu machen: in sechs von ihnen erhielt ich die beste, in einem die zweitbeste Note. Von jenen waren vier einigermaßen ehrlich verdient; ich hatte bei dem ausgezeichneten Doktor Proskauer einen Repetitionskurs in Chemie und Physik durchgemacht, der durchaus kein gewöhnlicher "Paukkurs", sondern eine wirklich wissenschaftliche Einführung in die beiden Gebiete war: und mehr wurde ja von dem Mediziner nicht gefordert. Da es sich um Theorie handelte, und es dabei etwas zu denken gab, interessierte ich mich für die Fächer und büffelte während der großen Ferien fleißig in dem schönen Garten, den mein Onkel Arnheim, der Gatte meiner Mutterschwester, meiner vielgeliebten Tante Auguste, in Pankow besaß, nebenbei gesagt: ein Paradies meiner Kindheit; die Erinnerung daran hat durch mein ganzes Leben hindurch die Sehnsucht nach einem eigenen Garten wachgehalten, die sich erst vor zwei Jahren, mit meiner Übersiedlung nach Lüdersdorf, erfüllte. "Was man in der Jugend wünscht, hat man im Alter die Fülle." Jetzt bin ich, wenn auch nur als bescheidener Mieter, und nur für einige Jahre, der Herr eines prachtvollen alten Parks von achtzehn Morgen mit einem hübschen kleinen See inmitten, der freilich offiziell den wenig poetischen Namen des "Giebelpfuhls" trägt. Um zu jener ersten Prüfung zurückzukehren, so war das geringe Maß von Kenntnissen, das von uns in Mineralogie und Botanik gefordert wurde, in wenigen Tagen erlernbar; von Physiologie hatte ich einigermaßen ausreichende Vorstellungen, und außerdem war es ein Spiel, sich auf Dubois-Reymond vorzubereiten: er folgte von Prüfung zu Prüfung mit nie fehlender Genauigkeit seiner ein für alle Male stereotypierten Vorlesung, so daß der Kandidat, der selbstverständlich von dem Thema der letzten Prüfung Kenntnis hatte, mit vollkommener Sicherheit wußte, welches Kapitel er, womöglich wörtlich, herzusagen haben würde. Nachschriften seiner Vorlesung waren in mehreren Exemplaren vorhanden und wurden gegen geringes Mietgeld [S.83] an die Studenten ausgeliehen. Diesem Umstande verdanken einige der unsterblichen Examensanekdoten ihre Entstehung:

Ein Kandidat, der über das Kapitel von den Schutzorganen geprüft wurde, fand in seiner Niederschrift der Duboisschen Vorlesung eine der berühmten Kraftstellen, die der weltbekannte Physiologe, ein französischer Schweizer und ein Rhetor echt gallischen Geblüts, in seine Vorlesungen einzuflechten und mit noch stärkerer Betonung und noch mehr rollendem Rrr vorzutragen liebte: "Furchtlos kreuzt das Stinktier den Weg des Jaguars." Als guter Rat war in Klammern beigefügt: "Wenn er guter Laune ist", womit natürlich der Professor gemeint war. Der Student aber verstand das falsch und sagte zu Dubois' namenloser Empörung: "Furchtlos kreuzt das Stinktier den Weg des Jaguars, wenn er guter Laune ist". Ein anderes Mal hatte der Student das Thema erhalten: Physiologie der Zeugung. Der Gang des Vortrags war auch hier wie immer pedantisch vorgeschrieben: man hatte zuerst die Lehre von der "Urzeugung" abzuweisen; dann kam die Metamorphose der Insekten: Raupe, Larve, Puppe, Schmetterling, und dann der "Generationswechsel" der Bandwürmer von der Finne an. Der wohlbeschlagene Kandidat war ohne Anstoß über die Urzeugung hinausgekommen, und Dubois nickte auch noch wohlgefällig wie immer, wenn er das gewohnte Geplätscher seines eigenen Stils vernahm, als die Rede auf die Insekten kam. Aber der Student vergaß in der Reihenfolge die Puppe. Dubois, wohlgelaunt und zufrieden, sagte: "Sie haben etwas vergessen, Herr Kandidat; nun, es ist nicht schlimm, ich will Ihnen darauf helfen: ein jedes Kind spielt damit." Der Student aber, einmal aufgezogen wie eine Spieluhr, hörte gar nicht hin und fuhr in der angelernten Leier fort: "Der Bandwurm!" Dubois fuhr entgeistert auf: "Aber, Herr Kandidat, spielt denn ein jedes Kind mit dem Bandwurm?"

Gänzlich unverdient aber, ich muß es gestehen, waren die beiden Bestnoten, die ich in den wichtigsten der vorklinischen Fächer, in Anatomie und in Zoologie erhielt, in der damals der alte Reichert auch die Prüfungen abnahm. Bei ihm durchzufallen war ja freilich so gut wie unmöglich. Man erzählte von ihm, daß er einmal in seinem harten Ostpreußisch zu einem Kandidaten gesagt habe: "Sie haben jarnischt jekonnt, Sie kriejen nur jeniejend." In Zoologie verlangte er im Grunde nur eine gewisse Kenntnis des einzigen zoologischen Gegenstandes von ausgesprochen medizinischem Interesse: [S.84] der "Wirmer". Er pflegte anfangs zu fragen: "Kenn'n Se alles, oder kenn'n Se nur de Wirmer?" Selbstverständlich behauptete man, alles zu "kenn'n", und dann fragte er doch nur nach den "Wirmern", wenigstens in aller Regel. Ganz selten soll es vorgekommen sein, daß er Ernst machte und den Keckling wirklich nach anderen Vertretern des Tierreichs befragte. So einmal nach der Biene. Der Beflissene wußte sich zu helfen: "Die Biene ist kein Wurm, die Würmer werden eingeteilt in", und die Walze rasselte ab, ohne daß es dem alten Herrn aufgefallen wäre.

Große Sorge hatte man also vor diesen beiden Stationen nicht. Ich aber und meine Gruppe waren unseres glatten "Gut" völlig sicher; denn wir gehörten sämtlich dem Komitee des Reichert-Kommerses an und hatten in dieser Eigenschaft in der prächtigen Wohnung des alten Herrn das übliche Souper mitgemacht, das erste wahrhaft großartige Festessen, das meiner in Bescheidenheit aufgewachsenen Jugend beschieden war; wir hatten mit der Familie Reichert und den mit anwesenden Assistenten und ihren reizenden Frauen eine echt ostpreußische Kneiperei in Stoffen durchgehalten, von denen wir bis dahin nur durch Hörensagen wußten: vom edelsten Rheinwein und Burgunder über französischen Sekt, stromweise, bis zu den kostbarsten Schnäpsen, auch stromweise! Wir waren alle sehr intim miteinander geworden und, so trinkfest ich damals schon war, ich möchte nicht beschwören, daß ich auf meinem Heimweg "den nächsten Weg zwischen den beiden Punkten", die gerade Linie ohne jede Kurve, eingehalten habe. Mehrere von dem Konvivium, und nicht nur aus dem Kreise des zehnköpfigen Studentenkomitees, hatten zur seligen Freude des fidelen Gastgebers einen gehörigen Rausch, einen, wie der Berliner sagt, "Zacken, an den sich 'n Affe schaukeln kann". Auf diese Freundschaft vertrauten wir und durften wir vertrauen, zumal wir uns eine unfehlbare Methode ersonnen hatten, um uns in angenehme Erinnerung zu bringen. Wir hatten uns, wie es Herkommen war, gemeinschaftlich photographieren lassen und hatten die unsagbare Frechheit, in corpore unmittelbar vor der Prüfung zum alten Reichert hinaufzugehen und ihm das gerahmte Bild zu überreichen. Die Frau Geheimrat verstand und half: "Sind nicht die Herren heute im Physikum?" "Jawohl, Frau Geheimrat." "Na, denn macht nur, daß ihr rieberkommt, ich komme jleich nach", und er erschien denn auch in strahlendster Laune, und bis auf einen Außenseiter, der uns zugeteilt worden war, hatten wir [S.85] alle in beiden Fächern unsere Bestnote weg. Ich hatte ein ganz besonderes Glück an dem Tage. Als wir im Vorraume warteten, sagte ich zu den Kommilitonen: "Jungens, von Anatomie weiß ich wenigstens das Keilbein" (das hatte ich in einem Anfall von Geistesstörung noch als Mulus aus dem anatomischen Lehrbuche von Henle gelernt, das mir mein Gymnasium als Abschiedsprämie mit ins Studium gegeben hatte, "aber von Zoologie weiß ich gar nichts". Und im Spaße gab mir einer von uns die Beschreibung des Blutegels: "Der Blutegel, hirudo officinalis ." und beim Zeus: ich bekam in Anatomie das Keilbein und in Zoologie den Blutegel. Dieses unverschämte Glück wurde bei meinem nächsten Examen, dem Doktorexamen, durch ein ebensolches Pech wettgemacht; ich hatte, meines Mankos in Anatomie wohl bewußt, die Kommission gewählt, in der Dubois und nicht Waldeyer vertreten war; ich bestand auch in Physiologie sehr gut, bis es ihm einfiel, was eigentlich gar nicht seines Amtes war, mir auch in anatomischer Hinsicht auf den Zahn zu fühlen; auch hier ging es noch gut, bis er zu meinem Unglück nach den Arterien fragte, dem einzigen Kapitel der Anatomie, das mir einzuprägen ich keine Zeit mehr gehabt hatte; ich war nämlich wegen Rücktritts eines Kommilitonen aufgefordert worden, an einem Prüfungstermin teilzunehmen, der volle vier Wochen vor der in Aussicht genommenen Zeit lag, hatte, wie es in meiner Art lag und liegt, in schnellem Entschluß angenommen, um die dumme Geschichte hinter mich zu bringen, und hatte nur drei Tage Vorbereitungszeit gehabt. Das zweite Pech war, daß einer der Examinatoren mich offenbar bei der Abgabe der Zensur mit meinem Nachbarn verwechselt hatte, der wirklich gar nichts wußte. Und so kam es, daß ich mit einem bloßen "Rite" nach Hause kam; ich habe die Scharte fünfundzwanzig Jahre später einigermaßen ausgewetzt, als ich als Fünfundvierzigjähriger mir in Kiel den zweiten Doktorhut, den philosophischen, summa cum laude erwarb.

Als ich im Frühjahr 1885 dieses erste Doktorexamen unter dem Dekanat meines großen Gönners Ernst Leyden bestand, hatte ich erst drei Vierteljahre ernster Arbeit hinter mir. Ich werde nie vergessen, wie ich mich quälen mußte, um das erste wissenschaftliche Werk durchzuarbeiten, das ich vornahm: Rudolf Virchows "Zellularpathologie". Mein früher so gelenkes Gehirn war eingerostet; so muß es einem Pianisten zumute gewesen sein, der nach vier Jahren Schützengraben zum Flügel zurückkehren durfte. Ich mußte mich [S.86] an die Zeilen förmlich festklammern und immer wieder zurückgreifen, um nur auffassen zu können, was da stand. Als ich Jahre später das großartige Buch wieder in die Hand nahm, war ich erstaunt, daß ich es "wie einen Roman" las: dieses unendlich klare und hinreißend geschriebene Werk hatte mir damals fast unüberwindliche Schwierigkeiten gemacht. Aber mein Wille war zäh, und Schwierigkeiten haben mich immer nur gereizt; ich hielt doch durch und wurde ein fleißiger Student, der rastlos zwischen der Charité in der Luisenstraße und der Chirurgischen und Frauenklinik in der Ziegel- und Artilleriestraße hin und her pilgerte. Auch hier wieder war es das Fach, bei dem es am meisten zu denken gibt, die innere Klinik, die mich vor allem fesselte; und auch hier hatte ich ein überaus glückliches Debut, und zwar schon kurze Zeit vor meinem Tage von Damaskus. Ich hatte mir den "Niemeyer" gekauft und in einer unbewachten Stunde darin geblättert. Dabei fiel mir der Name einer Krankheit auf, von der ich noch niemals etwas gehört harte: Lungenemphysem. Ich las das Kapitel. Bald darauf wurde ich als klinischer Praktikant zum ersten Male bei Leyden aufgerufen. Man hatte im öffentlichen Hörsaale zu untersuchen und die Diagnose zu stellen; und zwei- bis dreihundert Studenten warteten schadenfroh auf den Augenblick, wo dieser notorische "Schläger" sich unsterblich blamieren würde. Mir war nicht ganz wohl zumute, aber ein Blick auf den Kranken, der im Schaubette vorgeführt wurde, zeigte mir, daß ich wieder einmal Glück gehabt hatte. Es war ein Fall von extremem Lungenemphysem, das jeder ohne weiteres erkennen mußte, der ein einziges Mal die Beschreibung gelesen hatte. Als Leyden mich nach den üblichen feststehenden Präambeln fragte, ob mir etwas an dem Patienten auffiele, erwiderte ich mit kühler Selbstverständlichkeit: "Ausgesprochen faßförmiger Thorax" (Brustkasten). Ein Rauschen überraschten Flüsterns ging durch das Auditoriom, und Ernst Leyden sah einigermaßen erstaunt in das reichlich zerhackte Gesicht des erfolgreichen Diagnostikers. Als ich dann, getreu nach Niemeyer, dank meinem ausgezeichneten Gedächtnis, einen fließenden Vortrag über Ursache, Symptomatik und Behandlung dieser Krankheit hielt, hatte ich ein für allemal bei Leyden gewonnenes Spiel, und mein Prestige bei den Kommilitonen ins Unendliche vermehrt. Ich hütete mich wohl, ihnen zu erzählen, daß ich über keine andere Krankheit irgendwelche Auskunft hätte geben können, aber ich las doch von da an auch die anderen Kapitel [S.87] im Niemeyer und versäumte so leicht keine Klinik bei Leyden. Und ebensowenig bei dem berühmten Frerichs, dem Leibarzt aller Höfe Europas, dem genialsten aller Diagnostiker, der in seiner Jugend zu gleicher Zeit drei Berufungen für drei verschiedene Fächer erhalten hatte: für physiologische Chemie, Physiologie und innere Klinik, wenn ich mich recht erinnere. Ich hatte zu ihm ähnliche Beziehungen wie zum alten Reichert; ich hatte als Vertreter der medizinischen Fakultät den Kommers geleitet, den ihm die Studentenschaft zu seinem fünfundzwanzigjährigen Jubiläum als Ordinarius gab, und ihm die Festrede gehalten. Er starb vor meinem Staatsexamen; sonst hätte ich Aussieht gehabt, bei ihm Assistent zu werden; jedenfalls habe ich an seiner Klinik, unter Leitung des genialsten seiner Assistenten, der späteren Exzellenz Paul Ehrlich (der in Deutschland als Jude zwar Exzellenz, aber nicht ordentlicher Professor in Berlin werden konnte), meine Dissertation angefertigt: "Über das Diazo-Eigelb". Ehrlich war damals an seiner berühmten Arbeit über "Das Sauerstoffbedürfnis des Organismus"; ohne recht eigentlich etwas von den überaus komplizierten chemischen Erwägungen zu verstehen, die zugrunde lagen, half ich gelegentlich als Famulus bei den Experimenten und bin derart mitschuldig an dem Tode zahlreicher unschuldiger Katzen, Meerschweinchen und Kaninchen geworden. Ehrlich rauchte damals den ganzen Tag furchtbar schwere schwarze Zigarren; jeden Morgen mußte ihm der Diener bei Gerold Unter den Linden elf Stück von diesen wahren Giftnudeln besorgen, die am Abend in Rauch aufgegangen waren. Er hat damit seine Gesundheit sehr geschädigt. Meine Beziehungen zu ihm sind bis zu seinem Tode sehr herzlich geblieben; eine kurze Zeit habe ich ihm in seinem Heim Sekretärdienste geleistet, wo seine, damals noch fast kindliche junge Frau mit erstaunlicher Würde die Honneurs machte. Dann wurden die etwas gelockerten Beziehungen durch meinen Bruder wieder fester angezogen, der zu Ehrlichs besten Schülern gehörte. Ich habe meinen alten Meister noch kurz vor seinem Tode in Frankfurt besucht; er war schneeweiß geworden, aber seine Augen blitzten jung wie je. Damals entwickelte er mir eine etwas summarische, aber wie mir scheint recht treffende Typologie der Charaktere: "Es gibt zwei Arten von Menschen, mit panoptischen und mit monomanischen Augen. Die ersten sehen alles und bemerken jede Veränderung. Sie werden Ihnen sagen, daß in Ihrer Wohnung ein Bild anders hängt oder ein Sofa einen Bezug [S.88] von anderer Farbe erhalten hat, Dinge, von denen Sie selbst vielleicht gar nichts wissen. Aber Sie, Oppenheimer, und ich, wir haben monomanische Augen: wir sehen immer nur eine Sache, aber die sehen wir genau." Und dabei lächelte er das bekannte verschmitzte Lächeln, das sich in seinem Bart verlief. Als ich nach seinem Tode nach Frankfurt berufen wurde, war es mir eine besondere Freude, die alten Beziehungen zu Ihrer Exzellenz pflegen zu dürfen, die inzwischen eine sehr gütige mehrfache Großmama geworden war.

Mit besonderer Verehrung gedenke ich noch des berühmten Kinderarztes Professor Henoch, dessen Klinik ich niemals versäumte. Er war ein knorriger Urberliner voller Humor, wie ein Kinderarzt ihn besitzen muß, wenn er etwas taugen soll. Einer seiner Assistenten erzählte mir eine köstliche Geschichte, deren Held er war. Er wurde an einen Fürstenhof berufen, um den Erbprinzen zu begutachten, der sich noch immer nicht entschließen wollte, zu sprechen und zu gehen. Henoch rasselt im Hofwagen vor das Schloß und springt heraus: "Wo is det Kind?" Der diensttuende Kammerherr oder Hofmarschall (ich bitte um Entschuldigung, daß ich in diesen wichtigen Staatsangelegenheiten nur sehr unvollkommen unterrichtet bin) sehr gemessen: "Ihre Königliche Hoheit die Frau Großherzogin wird den Herrn Geheimrat wissen lassen, wann sie ihn empfangen kann." Darauf Henoch: "Jck will Ihn'n mal wat sagen, Verehrtester; wenn det Kind nich in fünf Minuten da is, fahr ick nach Berlin zurück. Da warten hundert Kinder auf mich." "Det Kind" war binnen fünf Minuten da, und nach der Untersuchung ließ der Großherzog Henoch bitten: "Nun, Herr Geheimrat, was haben Sie denn festgestellt?" - "Jott, Königliche Hoheit, det Kind hat'n Wasserkopp." Der hohe Herr, ebenso aigriert wie erschreckt: "Äh, äh das ist aber sehr unangenehm; ist das gefährlich?" - "Jotte nee, Königliche Hoheit, aber det muß ich Ihnen man jleich sagen: der Junge wird nich jrade intellijent werden." - "Äh, das ist aber sehr unangenehm. Aber Herr Geheimrat: regieren kann er doch?" Worauf Henoch mit dem Brustton der Überzeugung: "Ja, Königliche Hoheit, rejieren kann er!"

Nun, um es kurz zu machen, im November 1885 "stieg" ich in die erste Station bei Waldeyer, derart vorbereitet, daß er mich zuletzt fragte: "Wozu haben Sie das eigentlich alles gelernt?" Und dann weiter von Stufe zu Stufe durch die sieben Stationen, von denen mehrere doppelt und dreifach besetzt waren; und im Mai des nächsten [S.89] Jahres, im Alter von wenig über zweiundzwanzig Jahren, wurde mir die Approbation als praktischer Arzt gegen "Erlegung der gesetzlichen Gebühren" ausgestellt; ich hatte ohne jeden "Schwanz", d. h. ohne die Aufforderung, mich noch einmal zwecks Nachweises besserer Vorbereitung vorzustellen, bestanden, und zwar mit einem direkt an das Sehr gut streifenden Gut als Gesamtergebnis.

So war denn wieder ein Ziel erreicht, und wieder schlug die Tür hinter mir zu, und ich stand im leeren Raum auf der Suche nach einem neuen Ziele, einem neuen Lebensinhalte.

[S.90]

JUNGE PRAXIS

Meine ärztliche Tätigkeit begann nach üblicher Weise mit Vertretungen. Der alte Sanitätsrat Sühnast in Pakosch nahe der damals in "Hohensalza" umgetauften Kreisstadt, die heute wieder Inowraclaw heißt, gönnte sich alljährlich einige Wochen zur Erholung und zur Auffrischung seiner sehr beträchtlichen wissenschaftlichen Kenntnisse. Ich wurde ihm irgendwie empfohlen und als Vertreter angestellt. Seine junge Nichte, ein frisches blondes Mädel, die Tochter seines Schwagers, des Bürgermeisters, bei dem der alte unbeweibte Herr lebte, holte mich am Bahnhof in Inowraclaw ab und verhehlte mir ihr Erstaunen über mein allzu jugendliches Aussehen nicht. Aber wir schlossen bald gute Freundschaft, und sie lehrte mich schon unterwegs die wenigen Brocken polnisch, die ich jemals besaß. Sie beschränkten sich im wesentlichen auf die Übersetzung des folgenden deutschen Ausdrucks: "Ich verstehe kein Polnisch, verstehen Sie kein Deutsch?" Ich habe denn auch die ganzen Wochen bei jedem Besuch, wo es sich um Menschen aus dem Arbeiterstand handelte, eines Dolmetschers bedurft, den gewöhnlich die Gutsherrschaft oder der Inspektor darstellte, denn es war eine ungeheuer ausgedehnte Landpraxis. Die oberen Klassen der polnischen Bevölkerung verstanden sämtlich Deutsch, wenn sie es auch sehr ungern sprachen. Ein charakteristischer Fall ist mir im Gedächtnis geblieben: ich wurde zu einer Gräfin Arndt geholt, die mich, ohne auf jene eine polnische Phrase Rücksicht zu nehmen, hartnäckig weiter in polnischer Sprache anredete; sie war trotz ihres deutschen Namens eine geradezu fanatische Polin und glaubte offenbar, ich wollte, aus Gründen des Chauvinismus, ihre Muttersprache nicht gebrauchen. Da redete ich sie zuerst französisch, dann englisch, und als sie mich verständnislos ansah, auch noch mir dem bißchen Italienisch an, das mir irgendwie zugeflogen war, worauf sie sich endlich entschloß, mit mir deutsch zu sprechen. Der Fall erwies sich übrigens als der erfolgreichste meiner ganzen Praxis: die Frau des Kutschers lag schwer krank, sie hatte schon zweimal die Sakramente empfangen, und die Gräfin brauchte den Kutscher für irgendeine Staatsangelegenheit dringend. Sie sagte mir: "Sie sind jungerr Doktor, zeigen Sie, was Sie können, machen Sie die [S.91] Frau in halberr Stunde gesund oder tott. Kann ich keinen Bauernjungen in Livree stecken." Ich ging in die armselige Tagelöhnerwohnung, fand sie voller heulender Weiber und im Bett eine dem Ersticken nahe Frau. Ich sah ihr in den Hals und fand den ungeheuersten Mandelabszeß, der sich denken läßt. Es war die höchste Zeit, daß ich kam, denn längstens eine Viertelstunde später wäre er von selbst geplatzt. Ich stach ihn auf, die Frau holte tief Luft, und ich ging zum Schloß zurück: "Frau Gräfin, der Kutscher kann fahren, die Frau ist gesund." Sie starrte mich entgeistert an: "Sind Sie Hexenmeisterr?" Als ich zwei Tage später vorbeifuhr, lag meine Kranke vor ihrer Kabache, nur mit Hemd und Rock bekleidet, auf dem welken Rasen und schlief den Schlaf der Gerechten. Diese armen Menschen waren nicht viel Besseres als Tiere, aber sie hatten auch die Gesundheit und Heilhaut von Tieren. Kam da einmal ein hübscher schlanker Bursch zu mir in die Sprechstunde, hatte zu Fuß in stechender Julisonne so ungefähr drei deutsche Meilen gehen müssen. Er hatte am Tage vorher eine Rauferei im Kruge mitgemacht und wies mir zunächst einen schweren Messerhieb über das Genick. Als ich ihn ausgewaschen und vernäht hatte, sagte er mit einem verlegenen Lächeln, da sei noch etwas anderes und hielt mir den Schädel hin. Das dichte blonde Haar war von Blut verklebt, und ich fand, als ich den Filz entfernt hatte, eine lange, bis auf den Schädelknochen gehende Wunde, eine "Abfuhr", wie ich sie wohl einmal bei einem Gang auf schwere Säbel erlebt und geflickt hatte. Ich steckte ihn in das winzige Krankenhaus, über das das Städtchen verfügte, und ließ seiner Herrschaft bestellen, ich könnte es nicht verantworten, den schwerverletzten Mann nach Hause zu schicken; es würde mindestens drei Tage dauern. Als ich aber zweiundzwanzig Stunden später den Verband entfernte, war die Wunde glatt verheilt. Ich war starr: meine Mensurpatienten waren doch sämtlich starke und gesunde Jungen gewesen, aber ein derartiger Verlauf war auch bei ihnen unerhört. Gesunde Tiere! Sie vertrugen schlechthin alles! Die Behörden mußten trichinöse Schweine mit Ätzkalk verscharren lassen, denn vorher waren sie immer wieder ausgegraben und verzehrt worden, ohne daß jemals ein Fall von Trichinose bekannt geworden wäre. Einmal verschrieb ich einem Kranken Bleiwasser zu Umschlägen; er kam nach drei Tagen, begeistert von der Arznei, die er - innerlich genommen hatte. Keine Spur von einer Bleivergiftung!

[S.92] Sanitätsrat Kühnast beobachtete mich während einiger Tage sehr scharf; dann fuhr er beruhigt ab und hatte es nicht zu bereuen, ich hatte großes Glück und verlor nicht einen einzigen Patienten, obgleich ich unter anderem eine sehr schwere Epidemie von Scharlach, etwa siebzig Fälle, zu behandeln hatte. Die Tätigkeit gefiel mir: man war ganz auf sich selbst gestellt und hatte die reichste Abwechslung; man mußte sozusagen Spezialist für alles sein. Der Landarzt hat es furchtbar schwer, aber er bedeutet und leistet auch etwas Erhebliches. Der allgemeine Praktiker in der größeren Stadt ist demgegenüber mehr und mehr zu einem Adreßbuch für Spezialärzte geworden, auch der Kassenarzt.

Aber schwer war es, selbst für mich, den zweiundzwanzigjährigen gesunden jungen Mann. Und dabei war es die schönste Sommerzeit! Wie der alte Herr es bei den oft meilenweiten Fahrten im Winter durchhielt, ist mir ein Rätsel, und ich mußte viel an meinen Großvater denken, der sich bei solcher winterlichen Landfahrt das schwere Siechtum geholt hatte. Am schlimmsten war es am Sonntag. War es doch die Zeit des Jahres, wo jeder Mann und jedes Gespann dringend für die Erntearbeit gebraucht werden, und so wurde man nur in den äußersten Notfällen an Wochentagen geholt - und der Begriff "äußerster Notfall" erwies sich zuweilen als recht dehnbar. Durch besondere Weichherzigkeit ihren Arbeitern gegenüber haben sich die Großbesitzer ja niemals ausgezeichnet.

So begann denn die Sprechstunde am Sonntag schon etwa um 7 Uhr früh und dauerte bis gegen Mittag. Inzwischen waren drei bis vier Gutswagen vorgefahren, um mich nach den vier Himmelsrichtungen zu entführen. Mit Hilfe der Bürgermeisterfamilie stellte ich fest, wo ich am nötigsten gebraucht wurde, und wie die "Tour" mit dem geringsten Verluste an Zeit zu bewerkstelligen sei. Dann fuhr ich los in dem Wagen des Gutes, das ich zuerst zu besuchen hatte, hinter mir ein oder zwei andere Wagen, die mich von dort aus weiterbefördern mußten; wo ich gerade zu der Zeit war, nahm ich die Mittagsmahlzeit oder den Kaffee und kehrte so gegen sechs oder sieben nach Hause zurück, um wieder drei bis vier Wagen vor der Tür zu finden. Es wurde mehrfach Mitternacht, ehe ich mich zur Ruhe legen durfte, und meine letzten Besuche fielen in die spätesten Abendstunden. Das war keine Annehmlichkeit! Man kennt die berühmte Scherzfrage, warum die Luft auf dem Lande so gut ist: "Weil die Bauern die Fenster nicht aufmachen!" Dem entspricht [S.93] dann aber auch die Luft in den Stuben! Kam ich da einmal gegen 10 Uhr nachts auf ein Gut und wurde in eine der Tagelöhnerbehausungen geführt, um eine Magd zu verarzten, die sich krank gemeldet hatte. Als ich in die Tür trat, prallte ich entsetzt zurück: die Luft war schlechthin irrespirabel, das reine Giftgas. Ich ließ erst einmal die Fenster öffnen und gründlich lüften, trat dann ein und sah etwas Unvergeßliches, was auf meine spätere wissenschaftliche Grundeinstellung entscheidend eingewirkt hat. Man stelle sich ein roh aufgemauertes großes Rechteck vor, das durch zwei, einander im rechten Winkel kreuzende Zwischenwände in vier Räume eingeteilt ist. Am Kreuzungspunkt steht ein riesiger Ofen, der sie alle zugleich heizt. Jeder Raum ist die "Wohnung" einer ganzen Familie, in der sie zu leben, zu schlafen und zu kochen hat. Der Raum, in den ich damals trat, enthielt zwei schlechte Betten, einen Kinderwagen und ein Strohlager. In dem einen Bett lag das Ehepaar, in dem anderen der Knecht und die Magd (der übrigens nicht viel fehlte), in dem Kinderwagen die beiden Kleinsten, auf dem Strohlager die alte Großmutter mit den übrigen, nach flüchtiger Schätzung sechs bis sieben Kindern. Außerdem befand sich in dem Raum ein Volk von etwa zwanzig Hühnern und ein Schwein! Jetzt konnte ich die Beschaffenheit der Atmosphäre verstehen. Als Kaiser Wilhelm II. das Gut Gadinen besichtigte, das ihm durch Erbschaft zugefallen war, rief er aus: "Hier sind ja die Schweineställe besser als die Leutewohnungen!" Ich wußte Bescheid!!

Man kann meine wissenschaftliche Einstellung, wenn man will, derart kennzeichnen, daß ich im Gegensatz zu allen anderen Sozialisten, Karl Marx eingeschlossen, nicht unmittelbar die Interessen des Industrieproletariats, sondern des Landproletariats vertrete. Ich habe ernst gemacht mit dem Marxschen Satze, daß es nötig ist, die tiefste Klasse der Bevölkerung zu heben, um die ganze Gesellschaft zu heben. Als ich bei Beginn meiner nationalökonomischen Studien auf das soeben erst von Professor v. d. Goltz entdeckte Gesetz der Wanderung stieß, demzufolge die Wegwanderung vom Großgrundeigentum ungeheuer viel stärker ist als vom Bauernbezirk, halfen mir jene Erfahrungen dazu, diesen einzigen Faden, der durch das Labyrinth der wirtschaftlichen Tatsachen (und vor allem der wirtschaftlichen Theorien) zur Lösung des gewaltigen Problems führen kann, als den wahren Ariadnefaden zu erkennen und festzuhalten: der Landarbeiter bildet die tiefste Schicht der Bevölkerung; sein [S.94] maßloser Zustrom in die Industriebezirke vermehrt das Angebot auf dem Markte der Arbeit ins Ungeheure; hier allein ist die Quelle der "Reservearmee", die Marx mit Recht für den Tiefstand der städtischen Löhne verantwortlich macht; wo das Angebot einer Ware dauernd die Nachfrage überwiegt, da steht ihr Preis tief: und die Arbeit ist eine Ware, und der Lohn ihr Preis.

Noch eine zweite Erfahrung habe ich in jenen Wochen im polnischen Teile der Provinz Posen gemacht, die für mich richtunggebend gewesen ist: ich habe den Nationalismus kennengelernt, den ich während meiner ganzen wissenschaftlichen Laufbahn mit derselben Zähigkeit bekämpft habe wie den Kapitalismus und Marxismus. Ich konnte tief in die Psychomechanik dieser unheiligen Geistesverfassung hineinblicken, wenn ich sah, daß Leute deutschen Namens und also gewiß zum einen Teile deutscher Abstammung (ich sage mit gutem Bedachte nicht: deutscher Rasse) wie jene Gräfin Arndt aus irgendwelchen Gründen sich als reine Polen fühlten und benahmen und umgekehrt. Es war hier ganz besonders leicht, durch die Maske hindurchzuschauen, die diese Gesinnung im Grunde, ihren Trägern in der Regel unbewußt, darstellt. Sie deckt ganz andere Gegensätze, solche der Klasse oder der Konfession. Im preußischen Polen traf (wie in Irland) beides zusammen: der deutsche Herr, der das Land und damit die Macht hatte, war in der Regel Protestant, der polnische Knecht, der landlose Proletarier, in der Regel Katholik, und die katholischen Geistlichen waren die großen Propagandachefs des Polentums. Man kennt die Entwicklung der deutschen "Bamberger", einiger Dorfgemeinden in der Nähe von Posen, die ausschließlich von eingewanderten Deutschen der Maingegend, eines von jeher deutschen Bezirks, begründet waren. Da sie katholischer Konfession waren, waren sie in kaum zwei Generationen völlig polonisiert.

Jene Erfahrungen lehrten mich noch weiteres. Als ich die "soziologische Staatsidee" kennenlernte, die zuerst Winstanley im England der Cromwell-Zeit und dann der Graf Saint-Simon im Frankreich der großen Revolution zum Angelpunkte aller wissenschaftlichen Politik erhoben, belehrten mich meine Erlebnisse in Polen von ihrer Richtigkeit. Alles war klar: die Deutschen waren als Eroberer ins Land gekommen und saßen in ihm Kraft des Rechtes des Schwertes als Herrenklasse, während die einstigen Besitzer zu landlosen Knechten herabgedrückt worden waren. Harter Druck und Übermut von oben, [S.95] knechtische Demut und Diebsgesinnung von unten waren die unausbleibliche Folge. Ich war denn auch als politischer Publizist unerschütterlich ein entschlossener Gegner der preußischen Polenpolitik.

Und noch eins, was ich sah und tief erlebte: den unendlichen Unterschied zwischen der Masse der Landproletarier und den wenigen selbständigen Bauern jener Gegend, ganz gleichgültig, ob deutscher oder polnischer Sprache. Der Bauer war in aller Regel größer, muskelstärker, von edlerer Schlankheit, von weit überlegener Intelligenz und unvergleichlicher Würde und sittlicher Haltung. Hier konnte man wirklich beinahe von zwei grundverschiedenen "Rassen" sprechen. Und so wunderte ich mich nicht im mindesten, als ich später erfuhr, daß die Kriminalität der deutschen Bevölkerung von der Ostgrenze nach der Westgrenze ganz regelmäßig sinkt, mit einziger Ausnahme der weinfrohen Pfalz, die sich durch besonders zahlreiche Verbrechen der Gewalttätigkeit unvorteilhaft aus der Statistik heraushebt; und ich wunderte mich ebensowenig, als eine preußische Statistik von 1908 das Ergebnis zeitigte, daß der Bauer prozentual fast genau zweieinhalbmal soviel vollwertige Rekruten stellte als der Landarbeiter, dessen Verhältnisziffer sich tief sogar unter dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung hielt. Hier zuerst wurde mir die Torheit und Tücke der landläufigen Rassenlehre klar, erschloß sich mir zuerst das entscheidende Argument, das in keinem Buche über den Gegenstand zu finden ist, und das ich in meinem "Rom und die Germanen" jetzt endgültig formuliert habe. Ich will es hier kurz andeuten:

Unbestritten wirkt das "Milieu" entscheidend auf den sogenannten "Phänotyp" (Äußere Erscheinung) ein, ganz gleichgültig, welchem "Genotyp" (Abstammung) das Exemplar angehört. Wenn man z. B. (es ist das ein Beispiel aus der Rassentheoretik selbst) von dem Wurfe eines Mutterschweines die eine Hälfte gut ernährt, behaust und behandelt, die andere bei schlechter Ernährung in üblen Ställen aufzieht, so werden die beiden Gruppen, erwachsen, aussehen, als gehörten sie zwei ganz verschiedenen Rassen an. Es handelt sich hier um eine nicht erbliche, eine sogenannte "Nebenänderung". Läßt man die beiden Gruppen sich weiter fortpflanzen, aber jetzt unter gleichmäßiger Behandlung, so werden ihre Jungen einander wieder außerordentlich ähnlich sein. Man stelle sich jetzt vor, daß ein Züchter die Jungen der beiden Gruppen immer wieder unter den gleichen Verhältnissen aufziehe wie ihre Eltern: dann haben wir [S.96] zwei Rassen die ausschauen, als wären sie Erbrassen, die aber in Wahrheit nur Scheinerbrassen sind. Nun fällt es natürlich keinem Züchter ein, ein solches Experiment zu machen: er kann schlechte Exemplare mit Vorteil weder verkaufen noch zur Weiterzucht verwenden. Er behandelt also alle seine Zuchtergebnisse im eigenen Interesse gleichmäßig und möglichst gut. Die Weltgeschichte aber hat gerade dieses Experiment unzählige Male durch Jahrhunderte und Jahrtausende hindurch mit eherner Konsequenz ausgeführt. Das Ergebnis sind die "Adelsrassen" oben und die "Pariarassen" unten: höchstwahrscheinlich nichts als Scheinerbrassen, "Nebenänderungen" und nicht "Erbänderungen". Man bringe die jungen Exemplare mehrere Generationen hindurch in das gleiche Milieu und sehe zu, was daraus wird. Oder vielmehr: der Versuch ist bereits gemacht. Der heutige deutsche Bauer und der heutige Tagelöhner im Osten sind Enkel der gleichen Großväter, der "Erbuntertanen". Die Befreiungsgesetze spalteten diese völlig gleichartige Masse, um mir Georg Friedrich Knapp zu sprechen, fast ohne Ansehen der Person, fast nur nach den Laune des Zufalls, in den "Landmann ohne Dienst" und den "Dienstmann ohne Land": und heute sind die beiden auch in den deutschen Teilen des Ostens so verschieden, als gehörten sie zwei völlig getrennten Erbrassen an. Wer noch weitere Beweise will, mag den deutschen Bauer in den Staaten und in Kanada betrachten, der noch selbst, oder dessen Vater ein eingewanderter Landproletarier war: heute ist er ein Herr, ist kein dumpfer und demütiger Sklave mehr.

Diese meine Erfahrungen wurden bestätigt und vertieft bei Gelegenheit zweier weiterer Vertretungen, die ich in der Mark, in Oranienburg und Gransee, übernahm. Fehlte hier der Gegensatz der Konfession und der Sprache, so trat um so unverhüllter der Gegensatz der Klassen, des Grundherrn gegenüber dem Landarbeiter und Bauern, des Bauern gegenüber dem Landarbeiter ins Licht. So wurde mir diese ärztliche Praxis zugleich zur Praxis in der Soziologie.