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SOZIALE EXPERIMENTE

Auf Grund des Hertzkaschen Romans "Freiland" hatten sich vielerorts Gruppen zusammengeschlossen, um für den phantastischen Plan, an dem die meisten selbst teilzunehmen beabsichtigten, zu werben. Die Berliner Gruppe leitete der edle Landgerichtsrat Krecke, ein Charakter von seltener Reinheit, ein wahrer Menschenfreund. Ihm verdanke ich die Bekanntschaft mit den Werken Eugen Dührings und, wenn meine Erinnerung mich nicht täuscht, auch mit denen von Henry George; auch George zähle ich zu meinen großen Meistern, und sein berühmtes Buch "Fortschritt und Armut" zu den bedeutendsten Schöpfungen meiner Wissenschaft, wenn ich auch, gerade wie bei meinem Meister Marx, vieles an der theoretischen Grundauffassung ablehnen muß. Namentlich seine Lehre vom Kapitalprofit ist völlig unhaltbar, ist "naive Produktivitätstheorie". Als ich 1914 in Amerika war, hatte ich die Freude, mit dem Kreise von Männern zusammen zu sein, die noch unter dem persönlichen Einfluß des genialen Menschen gestanden hatten; niemals habe ich an einem runden Tisch so viele geprägte Gesichter versammelt gesehen wie bei Bolton Hall, der mich ihnen vorstellte als einen Kopf, der Neues über George zu sagen wußte. Das war in New York; in jede Stadt des Landes, in die ich dann kam, waren mir Depeschen vorangeflogen, die mich anmeldeten, und der Debatten war kein Ende. Es wurde verabredet, daß ich im nächsten Jahre wiederkommen sollte, um in einer Rundreise über das ganze Land meine Auffassung vorzutragen: der Weltkrieg hat auch diesen Plan zerstört. Ich will bei dieser Gelegenheit gleich bemerken, daß ich damals auch mit einer ganzen Anzahl der anderen sozialistischen Gruppen und Grüppchen in Berührung kam, die sich drüben um den Sozialismus bemühen; am eindrucksvollsten ist mir die Bekanntschaft mit "Big Bill" geblieben, der einer der extremsten Richtungen, meiner Erinnerung nach den I. W. W. (International Workers of the World), angehörte.

Ähnliche Gruppen und Grüppchen schwärmten zwanzig Jahre zuvor auch in Berlin um den großen Heerkörper des Sozialismus, die Sozialdemokratische Partei, die im übrigen damals ebensowenig wie heute durchaus einheitlich war. Der alte Gegensatz zwischen den [S.154] Anhängern Lassalles und den orthodoxen Marxisten ist ja niemals ganz verschwunden; er hat sich heute in der erbitterten Feindschaft zwischen der großen Partei und dem gewaltig vordringenden Kommunismus wieder aufs schärfste zugespitzt. Er führte damals zum Ausschluß ganzer Gruppen aus der Partei, z. B. der "Anarchosozialisten", die mein guter Freund, der praktische Arzt Dr. Friedeberg, ein Ostpreuße von ungeheurer Körperkraft, leitete. Einem der Führer, der unter einer politischen Anklage stand, haben damals - das Verbrechen ist längst verjährt und so darf man es öffentlich eingestehen - Schleich und wir zur Flucht in die Schweiz verholfen. Er war schwerkrank. Ich wurde ein sehr aktives Mitglied der Berliner Freilandgruppe; ich hatte mir damals bereits eine ganz nette theoretische Ausbildung verschafft und war in unseren Meinungskämpfen mit den Sozialdemokraten und den übrigen Gruppen, als ein im Ethischen Klub wohlgeschulter Debatter, einer ihrer ersten Wortführer. Man wählte mich denn auch zum zweiten Vorsitzenden. Wir vertraten unsere Gedanken gegenüber den Bodenreformern, deren Führer schon damals Adolf Damaschke war; er und ich sind durch jahrzehntelange gute Kameradschaft verbunden, aber ich habe ihm immer den Vorwurf gemacht, den ich ihm noch heute machen muß, daß er die von Henry George eingeleitete große Menschheitssache zu einer bürgerlichen Steuerangelegenheit verniedlicht hat; was bei George nichts als das Mittel war, die Grundrentensteuer (und gerade das war der schwächste Punkt seiner Lehre), ist ihm zum Ziele geworden; alle notleidenden städtischen Finanzgewaltigen haben denn auch den Aufschluß dieser neuen Geldquelle freudig begrüßt, und die bürgerliche Gesellschaft hat es dem wackeren Manne gegenüber an Ehrungen nicht fehlen lassen. Da war ferner die kleine Gruppe der Anarchisten, geführt durch Busch, der zu jener Zeit der Propaganda der Tat abgeschworen und sich zu der Idee bekehrt hatte, die soziale Frage durch "Organisation der Kundschaft", also vom Konsum her zu lösen. Da war der warmherzige Sanitätsrat Konrad Küster, ein Onkel meines Freundes Schleich, da war der "Verein für ethische Kultur" und nicht zuletzt der grundbrave, schwärmerische ehemalige Husarenoberstleutnant von Egidy. Auch mit einigen versprengten Anhängern Eugen Dührings kam ich in Berührung, einem sehr kleinen Kreise, der sich um die beiden reichen Sonderlinge Benedikt und Emanuel Friedländer gruppierte. Seltsam: Dühring war Antisemit von extremstem Fanatismus, und dennoch [S.155] sind es fast nur Juden gewesen, die seine Lehre weitertrugen und ihren Meister öffentlich vertraten. Einer der hervorragendsten unter ihnen war Eduard Bernstein, der ihn noch in Berlin gehört hatte und willig zugab, durch ihn entscheidend angeregt worden zu sein. Benedikt Friedländer schrieb ein Buch voll des höchsten Lobes über ihn; auch Hermann Schwarzwald, der Treueste der Treuen, ist Jude, und meine Wenigkeit ist der einzige akademische Fachmann, der meines Wissens die Lehre in ihren Grundzügen übernommen und weiter ausgebildet hat.

Aber wir Freiländer wollten mehr als nur theoretische Klärung, wir wollten die rettende Tat. Und wie aus dem Kreise der ersten Saint-Simonisten eine ganze Anzahl bedeutender praktischer Werke hervorgegangen ist: die Eisenbahn von Paris nach Lyon, der Crédit Lyonnais und der Suezkanal -, so sind auch aus diesem Spät-Saint- Simonistischen Kreise verschiedene praktische Organisationen hervorgegangen, die Bestand gehabt haben und wohl geeignet sind, Vorbilder und Kerne einer weitgreifenden und wirklich bessernden Reform der ganzen Gesellschaft zu werden.

Hermann Krecke gründete, wohl mit unter dem Einfluß von Busch, 1894 einen Konsumverein "Hülfe". Die Absicht war, eine Organisation von der ungeheuren Größe und Kraft der britischen Konsumgenossenschaften zu schaffen, die damals bereits ungefähr jeden vierten Briten umfaßten, einen Umsatz von über einer halben Milliarde Mark erzielten und etwa 300 Millionen Mark jährlich als Einkaufsdividende ausschütteten. Mit so ungeheuren Mitteln ließ sich auf friedlichem Wege Großes erreichen, wenn sie nur richtig zusammengehalten und angewendet wurden, anstatt sie in kleinsten Beträgen zu zersplittern. Die "Hülfe" sollte diesen Fehler vermeiden, sollte die Gewinne zusammenhalten und für die soziale Umformung verwenden. Ich warnte vergeblich; ich sagte, und die Entwicklung gab mir leider recht, daß die britischen Vorbilder ja nur dadurch zu ihrer großen Mitgliederzahl und Finanzmacht gelangt waren, daß sie den privaten Egoismus der Genossen durch die Auszahlung der Dividende befriedigten, und ich riet, diesem Egoismus zunächst entgegenzukommen und das Statut erst zu ändern, wenn der Verband zu genügender Kraft gelangt sei. Der fast asketische Idealist Krecke, der an die anderen gerade so unerbittliche Ansprüche stellte wie an sich selbst, glaubte an die Uneigennützigkeit der Menschen - und scheiterte. Der Verein blieb, wie ich es [S.156] vorausgewußt hatte, winzig klein, machte keine Fortschritte und wurde liquidiert.

Das war aber auch der einzige Mißerfolg. Um mit den kleineren Dingen zu beginnen, so wurde aus unserem Kreise heraus auf Anregung Gustav Lilienthals, des Bruders und Mitarbeiters Ottos, des berühmten ersten Gleitfliegers, der auch Mitglied unserer Gruppe war, ca. 1894 eine Baugenossenschaft "Freie Scholle" in Berlin Tegel begründet, die heute noch blüht und wächst. Viel bedeutsamer war die Begründung der zu ungeheurer Größe und Kraft emporgewachsenen Hamburger "Produktion", einer gewaltigen Konsum-, Produktiv- und Baugenossenschaft, die auf Grund der Organisation der Kundschaft auch weithin zu großartiger Eigenerzeugung vorgeschritten ist; ihre Bäckerei und Fleischerei gehören zu den größten und modernsten Anlagen ihrer Art, und die von ihr errichteten Baublocks in allen Teilen der Stadt sind wahrscheinlich die Vorbilder der heute überall aufschießenden "Siedlungen" gewesen, wie sie namentlich die sozialistische Stadtverwaltung Wiens in so vorbildlicher Weise errichtet hat. Die Führer dieser Bewegung waren einige Mitglieder der Hamburger Freilandgruppe; es gelang ihnen, die mächtigen Gewerkschaften unter dem bekannten Abgeordneten von Elm zu gewinnen, und der Großkaufmann Rafael Ernst May, ein Sozialstatistiker von hohem Rang, der uns nahestand, beteiligte sich führend an der Ausarbeitung des Organisationsplanes. Hier wurden meine Ratschläge befolgt; den Mitgliedern wurde zwar nicht der ganze Gewinn, wohl aber eine erhebliche Dividende ausgeworfen, und der stattliche Rest wurde für die sozialen Zwecke des Ganzen kapitalisiert. Die Folge war, daß der Verband schnell wuchs und zu höchster Blüte gelangte.

Ich beteiligte mich an all diesen Dingen, obgleich sie nicht mein eigentliches Ziel erstrebten; sie stellten von meinem Gesichtspunkte aus nur Hilfsorganisationen dar, deren ich mich später zu bedienen hoffte. Mein Ziel konnte kein anderes sein, als die Agrarfrage unmittelbar anzufassen. Denn das war und ist ja der Kernpunkt meiner wissenschaftlichen Einsicht, daß die "Terra libera", das Freiland, wieder hergestellt werden muß, um alle die furchtbaren Schäden der kapitalistischen Wirtschaft zu beseitigen und ihre ungeheuren Vorteile, vor allem den durch sie geschaffenen Reichtum, nicht nur zu erhalten, sondern noch gewaltig zu vermehren. Wie aber dieses Ziel erreichen? Eine Revolution, gewaltsame Enteignung und nun [S.157] gar ohne Entschädigung, hielt ich und halte ich noch heute für die ultima ratio der Völker, für ein Mittel, das nur dann in Erwägung gezogen werden darf, wenn jeder andere Weg zum Ziele versperrt ist. Es mußte und muß also der friedliche Weg bis zur Erschöpfung der letzten Möglichkeit versucht werden; da es aber kein anderes Mittel der wirtschaftlichen Selbsthilfe gibt als die Genossenschaft, so war die landwirtschaftliche Arbeiterproduktivgenossenschaft das vorgeschriebene Mittel, und ich bemühte mich, die Mittel für einen ersten Modellversuch aufzubringen.

Die Geschichte der Genossenschaftsbewegung, die ich zu dem Zweck auf das genaueste durcharbeitete, gab mir den Mut zur Tat. Ich konnte zunächst feststellen, daß die üble Prognose irrig war, die man der Genossenschaft meiner Hoffnung aus dem Grunde stellte, weil alle industriellen Produktivgenossenschaften entweder, und zwar die Mehrzahl, sehr schnell zugrunde gegangen waren oder sich im Falle des Gelingens in kapitalistische Geschäfte umgewandelt hatten: die beiden Formen sind nur dem Namen nach, nur dem Scheine nach Geschwister, sind aber in Wirklichkeit voneinander verschieden wie Tag und Nacht: während die ganze Situation bei der einen zur Katastrophe treibt, ist die andere gegen alle Gefahren immun; und so ergab denn auch eine sorgfältige Zusammenstellung aller Versuche der Wirtschaftsgeschichte, daß die landwirtschaftliche Genossenschaft ausnahmslos und um so glänzender gelungen war, je vollkommener sie das Ideal ihrer Gattung verkörperte. Der einzige ganz reine Versuch, Rahaline in Irland (1830-1832), hat technisch wie moralisch ein geradezu fabelhaftes Ergebnis gehabt, bis die Genossenschaft leider mitten im glänzenden Gedeihen durch einen von außen kommenden Unglücksfall, an dem sie nicht im geringsten mit schuldig war, vernichtet wurde: der Begründer, ein wohlmeinender, aber leichtsinniger Landlord, Vandeleur, ein Schüler des großen Robert Owen, verspielte sein Vermögen, flüchtete vor dem Schuldgefängnis, und die Gläubiger bemächtigten sich des Gutes mit allen Verbesserungen. Es gab damals noch kein Genossenschaftsgesetz in Großbritannien, und die Behörden erkannten den Vertrag zwischen dem flüchtigen Besitzer und seiner Arbeiterschaft nicht an. Dieser Fall Rahaline war der Wissenschaft bis dahin ein vollkommenes Rätsel geblieben; es war meine erste wissenschaftliche Leistung, ihn vollkommen aufzuklären, indem ich den polaren Gegensatz zwischen der industriellen und der landwirtschaftlichen Genossenschaft [S.158] aus der psychologischen Situation der Beteiligten vollkommen ableitete: ein glücklicher Fund allerersten Ranges, die reichste Goldader, die seit Adam Smith in der Gesellschaftswissenschaft angeschlagen war, der Ausgangspunkt für eine vollkommen neue, voll kommen sichere, gleich einer Naturwissenschaft exakte Soziologie, da es hier zum erstenmal gelungen war, die Handlungsweise unzähliger Menschen, städtischer wie ländlicher Arbeiter, "nach mathematischer Art" aus der Lagerung ihrer Gruppe zu deduzieren.

War ich in dieser Beziehung also völlig beruhigt, so gab mir den Mut, im Kleinen anzufangen, die ganze Geschichte des Genossenschaftswesens. Wo immer eine neue Gestaltung dieser Art sich in ihren ersten kleinen Anfangsformen als konkurrenzfähig oder gar als überlegen erwiesen hatte, war ein berauschendes Wachstum schnellster Art gefolgt. Das gilt von den Kreditgenossenschaften sowohl der Schulze-Delitzschschen wie auch der Raiffeisenschen Richtung, gilt von den landwirtschaftlichen Produzentengenossenschaften, namentlich den Molkereien, in aller Welt, gilt von den englischen und amerikanischen Building-Associations und gilt vor allem für die grandiose Entwicklung der britischen Konsumgenossenschaften. Sie wurden Anfang der fünfziger Jahre in Rochdale von einer Handvoll verhungerter Baumwollweber, den "gerechten Pionieren", mit wenigen Pfunden Grundkapital begründet und hatten schon dreißig Jahre später das ganze Land überspannt, einen gewaltigen Teil der Arbeiterschaft ergriffen und mächtig gehoben, sich in den beiden "Großeinkaufsgenossenschaften" eine großkommerzielle und großindustrielle Spitze gegeben, die an Kapitalkraft und Organisation mit den allergrößten kapitalistischen Konzernen wetteifern kann, und ergossen alljährlich einen Goldstrom von Hunderten von Millionen Mark in die Taschen ihrer Mitglieder.

Wenn der erste Versuch ergab, daß meine Rechnung richtig war, und daß die bisherigen guten Erfahrungen nicht auf einem Zufall beruhten, wenn also die landwirtschaftliche Produktivgenossenschaft, wie ich sie plante, sich der privaten Gutswirtschaft als überlegen erwies, dann durfte damit gerechnet werden, daß auch sie sich schnell ausdehnen, ein Privatgut nach dem andern durch ehrlichen Kauf erwerben und so allmählich, ohne Verletzung erworbener Rechte, im vollen Frieden, das deutsche Land in die Hände des deutschen Volkes zurückbringen würde. So sah ich nicht nur das ferne Ziel der Erlösung, sondern auch den Weg zum Ziele von seinem [S.159] ersten bescheidentlichen Anfang bis zu seinem glorreichen Ende mit voller Klarheit vor mir und war, aus tiefster sittlicher Verpflichtung heraus, entschlossen, ihn zu beschreiten.

Ich rechnete dabei mit der Möglichkeit, die große Arbeiterpartei der Sozialdemokratie für meine Pläne zu gewinnen. Bot ich ihr doch das Mittel, um auch das Landproletariat hinter sich zu bringen, bei dem ihre Agitation bis dahin einen schweren Mißerfolg gehabt hatte. Sie war an dem "antikollektivistischen Bauernschädel" gescheitert: der Landarbeiter, der der letzten Ursache der sozialen Not am nächsten steht, weiß ganz genau, wo ihn der Schuh drückt und wie allein ihm geholfen werden kann. Er pfeift auf alle Konstruktionen und Deduktionen und verlangt entweder Eigenland, das für bäuerliche Selbständigkeit ausreicht, oder, und das ist sogar die Regel, nur ein paar Morgen Boden, groß genug, um ein paar Schweine und eine Kuh zu unterhalten, anständigen Lohn und den Fortfall seiner gebräuchlichen Verpflichtung, seine Frau regelmäßig auf Gutsarbeit zu schicken. Mit dieser Psychologie ist er das geborene Mitglied der Produktivgenossenschaft, und die Partei, die dieser Psychologie entgegengekommen wäre, hätte ihn und damit die Landkreise gewonnen. Das wäre um so wichtiger gewesen, als im vorrevolutionären Deutschland und Preußen den schwach bevölkerten Landkreisen bekanntlich durch die Wahlordnung das Übergewicht über die städtischen Kreise gesichert war. Der Arbeiterpartei half ihr riesiges Wachstum parlamentarisch sehr wenig; sie konnte nur dadurch zur Mehrheit und zur Macht gelangen, daß sie sich ein Agrarprogramm gab, das den Landarbeiter und Kleinbauern gewann. Darauf rechnete ich, und das, ich muß es eingestehen, war die einzige "Utopie", deren ich mich je schuldig gemacht habe. Der Buchstabe der "Arbeiterbibel" war stärker als alle politische Vernunft, und es hat über dreißig Jahre gedauert, bis meine ketzerischen Gedanken das Agrarprogramm der Partei gestalteten.

Ich korrespondierte damals mit Eisner, dem späteren bayrischen Ministerpräsidenten; er veröffentlichte regelmäßig unter dem Decknamen "Sperans" und "Spectator" ausgezeichnete Aufsätze in einer Zeitschrift, ich glaube im "Magazin für die Literatur des In- und Auslandes". Ich entsinne mich, daß ich ihm schrieb, ich "dächte nicht daran, meine Turbinen in ein schwaches Rinnsal zu stellen, während dicht dabei der Amazonenstrom der großen Partei fließe". Ich glaubte damals nicht, ein volles Menschenalter warten zu müssen.

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SIEDLUNGEN

Die erste genossenschaftliche Siedlung, die aus dem Kreise der "Feiländer" hervorging, war die noch heute blühende "Obstbausiedlung Eden" bei Oranienburg in der Mark. Ihre Begründer waren "Lebensreformer", Anhänger des Vegetarismus und der Antialkohol- und Antinikotinbewegung, die sich unserer leitenden Gedanken bemächtigten, um sich aus dem kapitalistischen Ozean auf eine selbstgeschaffene Insel zu retten. Ihre Führer waren ein glühender Schweizer namens Sponheimer, ein gewisser Schirrmeister und mein lieber lebenslanger Freund und bis auf den heutigen Tag getreuer Mitarbeiter Otto Jackisch, der "Bismarck von Eden", der seine Genossenschaft fünfundzwanzig Jahre hindurch mit sicherer Hand durch alle Klippen gesteuert hat. Ich war an der Abfassung der Statuten mit Krecke richtunggebend beteiligt, konnte aber der Gruppe nicht aktiv beitreten, weil ich die lebensreformerischen Anschauungen zwar achte, aber nicht teile. Ich bin kein Vegetarianer, verachte gelegentlich einen guten Tropfen nicht, wenn ich auch im allgemeinen ein Wassertrinker bin, und bin leider ein passionierter Raucher: nur mit der Zigarre kann ich arbeiten.

Die Aussichten der jungen Genossenschaft erschienen anfänglich jedem als sehr trübe, der nicht, wie ich, von der zauberhaften Kraft dieser Art von Einungen Kenntnis hatte. Es waren lauter sozusagen pflastermüde Städter, eine ganze Anzahl von Sonderlingen und Sektierern aller Art dazwischen; sie wollten ihre Existenz auf den Obstbau stellen, von dem kaum einer von ihnen die geringste Ahnung hatte. Noch heute leiden die älteren Obstanlagen der Genossenschaft daran, daß die Bäume in viel zu geringen Zwischenräumen gepflanzt worden sind. Ferner hatten sie sich in der sandigen Mark den allersandigsten Platz ausgesucht, schon aus dem Grunde, weil ihre Mittel zum Ankauf guten Bodens nicht hinreichten: im Urstromtale der Havel, ein Boden, von dem der Landwirt verächtlich sagt, man müsse sich darauf legen, damit der Wind ihn nicht zum Nachbar hinübertrage. In diesen schrecklichen Sand warfen sie noch mehr Sand: irgend jemand hatte ihnen eingebildet, gemahlener Granit sei das beste Düngemittel; soviel ist daran richtig, daß dieses Gestein die wertvollsten Bodenbestandteile enthält nur [S.161] dauert es unendliche Zeit, bis Regen, Schnee und Frost in Verbindung mit den Bodenbakterien sie aufschließen.

Trotz alledem hat die Siedlung sich glorreich entwickelt; sie hat alle Stürme der Konjunktur und des Krieges überwettert, ist wohlhabend, genießt des besten Kredits, hat aber nicht nur wirtschaftlich, sondern auch ethisch, politisch und hygienisch ein Ergebnis gehabt, das Staunen erregen muß. In den ganzen etwa fünfunddreißig Jahren seit der Begründung ist hier nicht ein einziges schulpflichtiges Kind gestorben; die Säuglingssterblichkeit ist auf eine Ziffer herabgedrückt worden, die der erreichbaren Mindestziffer wahrscheinlich sehr nahe steht: während zur Zeit der Gründung von je hundert in Deutschland geborenen Kindern vierundzwanzig im ersten Lebensjahre starben, und es aller öffentlichen Hygiene nur glückte, diese Unglückszahl bis zum Kriege auf 18 Prozent herabzudrücken, betrug die durchschnittliche Säuglingssterblichkeit in Eden während der ganzen Zeit nur 3,8 Prozent. Und, wie überall, so wohnt auch hier die gesunde Seele im gesunden Körper. Nicht ein einziges uneheliches Kind wurde geboren; kein Mitglied der Genossenschaft ist jemals in einen Strafprozeß auch nur verwickelt worden. Der jetzige Heidelberger Professor Levy, der früher als Amtsrichter in Oranienburg wirkte, atmete jedesmal auf, wenn Edener vor ihm erschienen. Er wußte, es seien redliche Leute, von denen er nichts als die Wahrheit hören werde. Der Gendarm sagte: "Ick komme bloß nach Eden, wenn ick Äppel koofen will." Und wer eine rechte Herzensfreude erleben will, mag einem der Feste in Eden beiwohnen. Er wird noch niemals so viele rotwangige, klaräugige Kinder auf einer Stelle zusammen gesehen haben; und er kann sich überzeugen, daß echte Fröhlichkeit auch bei Kaffee und alkoholfreien Fruchtsäften möglich ist. Was aber die Politik anlangt, so sind hier alle Parteien und Richtungen vertreten, vom Hakenkreuzler bis zum extremen Kommunisten, und so gut wie jede geistige Bewegung Deutschlands wirft hierhin ihre Wellen; ich habe z. B. in Eden den "neuen Christus", den berühmten Häußer, kennen-, aber nicht gerade lieben gelernt. Aber das alles führt zu keiner Disharmonie, sondern ergibt im Zusammenklang aller der Stimmen eher eine Harmonie; es bringt Leben in die kleine Dorfschaft, ohne ihre Einigkeit je ernstlich zu bedrohen; denn sie ruht auf der unerschütterlichen Grundlage des gemeinsamen Grundbesitzes und der sicheren Versorgung durch ihn. Hier gehört alles der Genossenschaft, [S.162] nicht nur der Boden, sondern auch die Häuser. Jeder der Genossen hat sein eigenes Obstgärtchen, und die Genossenschaft als Ganzes hat sich eine größere Reserve zu eigener Bewirtschaftung vorbehalten, um arbeitslos werdenden Genossen Arbeit geben zu können. Sie hat die Fabrikation von Marmeladen und Fruchtsäften, neuerdings mit großem Erfolge auch von Pflanzenbutter, aufgenommen, hat sich zu dem Zwecke ein vorbildliches Fabrikgebäude errichtet und mit ihren Produkten den Markt erobert: ein völlig typischer Zug, der in der Geschichte dieser landwirtschaftlichen Genossenschaften immer wiederkehrt; da sie ehrliche Menschen sind, die nach keinem ungerechten Gewinn jagen, liefern sie ein vollkommenes Erzeugnis, dem es niemals an Absatz fehlt.

Es ist ein Zeichen für die greuliche Verwahrlosung unserer öffentlichen Meinung und nicht zuletzt auch der soziologischen Wissenschaften, daß ein Erfolg von dieser Größe unbekannt oder wenigstens trotz aller meiner wiederholten Hinweise unbeachtet geblieben ist. So klein die Genossenschaft ist: hier ist der Beweis erbracht, daß Bedingungen geschaffen werden können, unter denen Menschen in leiblicher und seelischer Harmonie zu wirklicher Kultur aufleben können. Und es ist völlig gewiß, daß diese hocherfreuliche Entwicklung durchaus keinen andern Grund hat als die gesunde wirtschaftliche Grundlage: den gemeinsamen Besitz aller Existenzbasis, des Grund und Bodens. Alle Siedlungen auf dieser Grundlage haben die gleichen günstigen Ergebnisse gezeitigt, und gerade bei Eden kann gar nicht die Rede davon sein, daß der Erfolg einer gemeinsamen starken religiösen Überzeugung verdankt ist. Diese kleine Siedlung blüht wie eine Oase inmitten der kapitalistischen Wüste mit ihrer Häßlichkeit, Verderbtheit und körperlichen Degeneration; wenn die soziologische Wissenschaft der Neuzeit wäre, was sie sein sollte, die Wegweiserin zur Rettung, so müßte diese erste vollgereifte Frucht des liberalen Sozialismus in jedem Lehrbuche der Ökonomik und sozialen Psychologie mindestens ein ganzes Kapitel füllen, von rechtswegen aber den Ausgangspunkt der gesamten Betrachtung bilden. Aber kein Wort davon! Es sieht wahrhaftig beinahe so aus, als dürfe es nicht bekanntwerden, daß es möglich ist, Menschen in Wohlstand, Frieden und sittlicher Zucht zusammen zu ordnen; dann könnten ja vielleicht die anderen unverschämt genug sein, es auch so gut haben zu wollen! Der berüchtigte Gentz, Metternichs böser Geist, soll einmal ausgesprochen haben: "Wir wollen gar [S.163] nicht, daß es den Menschen gut geht; wie sollten wir sie dann beherrschen?" Was hier zynisch eingestanden wurde, ist uneingestanden, unter allen möglichen Masken, der religiösen, der wirtschaftlichen, der moralischen, die Ursache gewesen, daß alle Ansätze zu wahrer menschlicher Ordnung gewaltsam zertreten wurden: der Jesuitenstaat in Paraguay ebenso wie der Mormonenstaat in Utah. ich habe eine Anzahl dieser Dinge in einem Aufsatz zusammengetragen: "Die Utopie als Tatsache", den ich später in die Sammlung meiner Reden und Aufsätze "Wege zur Gemeinschaft" aufgenommen habe.

Eden verwirklichte meine grundlegenden Gedanken nicht völlig. Ganz abgesehen davon, daß es nur vegetarische Gesinnungsgenossen aufnahm, war es vom Anfang an viel zu klein und viel zu sehr auf die allerintensivste Art der Bodennutzung angelegt, als daß es eine volkswirtschaftliche Wirksamkeit durch Absaugung der Arbeiter der Nachbarschaft und durch Hebung des allgemeinen Lohnniveaus hätte erreichen können. Mein Gedanke war und ist, auf relativ großer Fläche mit den extensiveren und daher wenig Arbeit erfordernden Betriebsarten zu beginnen, und allmählich mit der Vermehrung der Mitglieder zu immer intensiverer Nutzung vorzuschreiten: der Weg ging also, grob ausgedrückt, von der üblichen Ackerwirtschaft zur Gartenkultur, Kleinviehzucht und dem damit verbündeten Handwerk. Ich versuchte daher 1894 - 1895, im Kreise der Freiländer die Mittel für den Ankauf eines Großgutes aufzubringen, zunächst auf dem Wege über die Gründung einer Genossenschaft kleinster Sparer; es kamen nur wenige tausend Mark zusammen, die ich nach einigen Jahren zurückzahlte, weil auf diesem Wege das Ziel unerreichbar war.

Es dauerte fast ein Jahrzehnt, bis es meiner rastlosen Agitation gelang, eine gemeinnützige Gesellschaft mit beschränkter Haftung mit einem Kapital von etwa 250.000 Mark zusammenzubringen; ich selbst steuerte bei, was ich besaß und von Freunden gegen meine Garantie erlangen konnte.

Nach langem Suchen entschloß sich die Gesellschaft, die ich leitete, 1905 auf den Vorschlag unserer Sachverständigen zum Ankauf des Gutes Wenigenlupnitz bei Eisenach. Der Unstern, der früher über all diesen genossenschaftlichen Siedlungen fast ohne Ausnahme leuchtete, wie schon der Fall Rahaline beweist, wirkte auch hier. Zwei der Sachverständigen, die sich zuerst zur Verfügung [S.164] gestellt hatten, zogen sich zurück, als es ernst wurde, wahrscheinlich aus Furcht, ihren agrarischen Freunden unangenehm zu werden, und die beiden noch verbleibenden, an sich ausgezeichneten Praktiker fielen auf einen Boden herein, der in Deutschland nur an ganz wenigen Stellen zu finden ist: der Hauptteil des Gutes, ein ehemaliger Exerzierplatz der Eisenacher Garnison, besteht aus schwerem Tonboden. Die beiden Herren glaubten, er werde sich durch systematische Dränage in fruchtbaren Acker verwandeln lassen, aber der Versuch auf einem Teile zeigte erstens, daß die Arbeit den Kostenanschlag weit überstieg, und zweitens, daß die Dränage nicht "zog". Der Boden war so feinschlämmig, daß sich die Haarröhrchen nicht bilden konnten; nur über den Röhren trocknete der Acker einigermaßen aus, während er zwischen ihnen so schwer und naß blieb wie zuvor. Um das Unglück zu vollenden, herrschte während der ganzen Zeit unserer Bewirtschaftung das ärgste Wetter, das diesen Boden überhaupt treffen konnte. Es regnete durch Mai und Juni hindurch ohne Ende, und das Winterkorn verdarb. Dann folgte eine Periode der fürchterlichsten Dürre, unter deren Einfluß auch die Sommerung schwer litt; der Boden riß in tiefen Spalten auf und wurde steinhart. Es gelang dann, trotz alledem eine vielversprechende Winterbestellung ins Land zu bringen: aber dann zerstörte ein furchtbarer Kahlfrost Anfang Februar 1907 die gesamte Ernte Mitteldeutschlands; die Temperatur sank bei völlig fehlender Schneedecke in einer einzigen Nacht von 2 Grad Wärme auf unter 20 Grad Kälte, und die Felder waren schwarz wie nach einem Sommerbrande.

Diese letzte Katastrophe besiegelte das Geschick der Gesellschaft, deren Mittel erschöpft waren. Wir hatten längst eingesehen, daß sich das Gut für unsere Zwecke nicht eignete, und hatten infolge dessen den sozialpolitischen Versuch gar nicht erst begonnen, d. h. wir hatten den Arbeitern von unseren Absichten keine Mitteilung gemacht. Die einzige Einrichtung, die wir schufen, war ein kleiner Konsumverein, der sich auch erfreulich entwickelte. Aber wir suchten schon seit Beginn 1906 nach einem reichen Käufer, der das wunderbar gelegene und mit sehr schönen Wohngebäuden versehene Gut als Luxusobjekt zu übernehmen imstande wäre. Das glückte 1907, aber nur unter einem beträchtlichen Verlust. Ich konnte immerhin nach Ablauf der gesetzlichen Frist fast genau drei Viertel des Gesellschaftskapitals zurückzahlen. Zu einem neuen Versuche [S.165] fehlten der Gesellschaft die Mittel und meinen Freunden wohl auch der Mut. Sie wurde liquidiert.

Ich habe über die Unternehmung gleich darauf in der "Sozialen Praxis" berichtet und ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, daß hier zwar von dem Mißerfolg einer kapitalistischen Landwirtschaft, durchaus nicht aber von einem Mißerfolg meiner Gedanken die Rede sein konnte, da der Versuch nicht aufgegeben, sondern nicht einmal begonnen wurde. Alles, was geschehen war, war, daß eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung durch entschuldbaren Irrtum ihrer Sachverständigen ein unbrauchbares Objekt erworben hatte. Dennoch hieß es natürlich überall, die "Oppenheimersche Utopie" sei gescheitert.

Mich traf der Ausgang sehr schwer; ganz abgesehen davon, daß ich mehr als mein ganzes kleines Vermögen zugesetzt hatte, da ich einer Anzahl von Verwandten und Freunden für das Kapitel haftete, hatte ich während der ganzen Zeit die schwersten Sorgen gehabt und mußte mir eingestehen, daß vorläufig von einer Wiederaufnahme des Planes kaum die Rede sein könnte. Es dauerte lange, bis ich mich von dem Schlage erholte, der, wenn auch nicht ein Mißerfolg meiner Gedanken, so doch gewiß ein persönlicher Mißerfolg schwerster Art gewesen war.

Einen zweiten Versuch unternahm ich vier Jahre später (1911) in Palästina, in der schlachtenberühmten Ebene Jesreel, bei der jetzigen Bahnstation Afuleh, südlich von Nazareth unweit des Berges Tabor. Theodor Herzl und der Zionistenkongreß zu Basel hatten auf meine Anregung hin beschlossen, das heilige Land mit der einzigen Waffe zu erobern, die es wirklich einer Nation gewinnen kann: mit dem Pfluge, und hatten sich davon überzeugt, daß, wie die Dinge lagen, vorläufig nichts anderes als eine genossenschaftliche Großlandwirtschaft möglicherweise Erfolg haben könnte. Das erforderliche Kapital wurde aufgebracht, die notwendigen Gebäude errichtet und aus gestattet, mein Schüler und Freund, der heute noch als Leiter meiner letzten und endlich erfolgreichen Versuche fungiert, Salomon Dyk, zum Administrator eingesetzt. Die Siedlung erhielt den Namen Merchawjah, was "Gottes Weite" bedeutet.

Auch hier waltete jener Unstern von Anfang an. Auch hier hatten sich die Sachverständigen, die besten Kenner des Landes, über die Qualität des Bodens täuschen lassen, wenn auch entfernt nicht in so schwerer Weise wie in Wenigenlupnitz. Dazu kamen schwere Mißhelligkeiten, [S.166] Blutfehden mit den benachbarten Arabern namentlich des Dorfes Solem, der Heimat der aus dem "Hohen Liede" berühmten Sulamitin, und mit einem Pascha der Nachbarschaft, einem ehemaligen kurdischen Räuberhauptmann, der sich die ganzen Dörfer des Gebietes wie ein Feudalherr des Mittelalters unterworfen hatte; er erkaufte sich die Duldung der türkischen Beamten dadurch, daß er sie mit seinen blendend schönen Töchtern vermählte. Als er einst seinen Besuch angemeldet hatte, erwartete ihn der Arbeiterausschuß - Dyk war auf einer Geschäftsreise in Damaskus - mit dem üblichen Kaffee und Zubehör im Verwaltungsgebäude. Er erschien nicht, aber in der darauffolgenden Nacht ließ er den besten Weizenacker des Gutes, etwa fünfzig Morgen, durch seine Leute und Tiere zertrampeln. Nach dem Grunde befragt, ließ er erwidern, einem Manne wie ihm habe man den Kaffee aufs Feld hinaus entgegenzubringen. Volles Mittelalter! Und zwanzig Kilometer westlich davon volle Neuzeit mit Fabriken, Banktresors usw., und wenige Kilometer weiter östlich die volle Urzeit; bei meinen Ritten durch das Land stieß ich öfters auf das Lager eines Beduinenklans von genau der gleichen Gestaltung, wie sie schon zur Zeit des Hammurapi und vielleicht lange vor ihm in diesen Gegenden gelebt hatten: schwarze Zelte aus Kamelhaar, unverschleierte rüstige Frauen mit dem blauen, eintätowierten Stammeszeichen, dem "Schem", auf der Stirn, das nach der Vermutung Eduard Meyers der ganzen Völkergruppe der Semiten den Namen gegeben haben mag, nackte braune wildäugige Kinder mit einem bis auf die schwarze Stirnlocke kahl geschorenen Schädel, und bissige, wolfsähnliche Hunde.

Ich hatte meinen Freunden vom Zionismus gegenüber diesen Versuch ausdrücklich als sehr zweifelhaft bezeichnet, weil hier gleichzeitig mit drei unbekannten Dingen zu experimentieren war: mit einem unbekannten Boden, mit einer auf diesem Boden noch nicht erprobten Art der Kultur und mit einer unerprobten, aus kaum oder gar nicht vorgebildeten Städtern bestehenden Arbeiterschaft. Man mußte hoffen, ohne dessen sicher zu sein, daß der nationale Eifer der Arbeiter ersetzen würde, was ihnen an beruflicher Fähigkeit abging. Diese Hoffnung hat denn auch nicht ganz getäuscht; die jungen Menschen haben mit einer Hingabe geschafft, die geradezu wunderbar war, trotzdem sie zuerst in alten arabischen Lehmhütten schlimm genug untergebracht waren und vielfach an leichter Malaria litten. Aber die europäischen Verwicklungen griffen [S.167] mit ungeheurer Störungskraft in den Gang der Arbeit ein. Zunächst äußerlich; fast vom ersten Augenblick der Begründung an lag die Türkei im Kriege, und war Palästina von der See her blockiert: zuerst im Kriege mit Italien, dann im Balkankriege, zuletzt im Weltkriege. Merchawjah mit seinen inzwischen errichteten europäischen Gebäuden war dauernd Kriegsquartier, u. a. auch einer deutschen Fliegerabteilung; bald nahmen die Türken Angehörige der Ententemächte, bald die Engländer Untertanen der Gegenseite aus der Arbeiterschaft heraus, um sie zu internieren, und beide Seiten requirierten rücksichtslos Ernten und Tiere. Fast noch ärger war der psychologische Einfluß, der von Rußland und dem orthodoxen Marxismus her auf die Arbeiter einwirkte. Obgleich sie mir persönlich mit warmer Liebe anhingen, waren sie doch nicht dazu zu bringen, die genossenschaftliche Organisation, die ja das genaue Gegenteil des Kommunismus und des Kapitalismus darstellt, mit dem Kopfe und dem Herzen zu verstehen. Sie faßten den Eigentümer, den Nationalfonds, als den "Kapitalisten" und den technischen Leiter als seinen "Schweißtreiber" auf, obgleich der Betrieb unter den schweren bestehenden Verhältnissen selbstverständlich Zuschüsse forderte, obgleich ferner der rein gemeinnützige Nationalfonds sich auch für den Fall des vollkommenen Erfolges mit einer sehr bescheidenen Verzinsung begnügt hätte, die wieder dem Werke selbst zugute gekommen wäre, und obgleich Dyk, selbst ein Sozialist meiner Richtung, von dem reinsten Wollen und der humansten Gesinnung war. Die Dinge wurden noch verschlimmert durch die zweite Geisteskrankheit, an der unsere ganze Zeit leidet, und die auch meine sonst sehr lieben Genossen von Merchawjah ergriff: den Nationalismus, wohlverständlich für junge Leute, die die schwerste Arbeit auf sich genommen hatten, um ihrem Volke ein neues Heim aus dem Boden zu stampfen, aber an sich verwerflich und kostspielig. Arbeiten, die überall in der Welt von Kindern ausgeführt werden, mußten hier von vollreifen Männern besorgt werden, weil die Arbeiter noch unbeweibt und kinderlos waren, arabische Kinder aber nicht herangezogen werden durften, ohne Konflikte mit der Arbeiterschaft heraufzubeschwören. Handwerksarbeiten, für die in der Nachbarschaft tüchtige und billige arabische Werkleute hätten gewonnen werden können, mußten von weither geholten, viel weniger tüchtigen und viel teureren Handwerkern jüdischen Glaubens ausgeführt werden. Die ganz und gar phantastische [S.168] Vorstellung war nicht auszurotten, "daß jüdisches Geld nur in jüdische Hände kommen durfte": und dabei bauten wir mit Ziegeln, die in Marseille gekauft, von Engländern nach Haifa gebracht und von arabischen Kameltreibern an Ort und Stelle geführt worden waren, und die Arbeiter verausgabten ihr geringes Lohneinkommen zum Teil für Orangen und Zigaretten, die damals zum großen Teil auch noch arabischer Produktion waren!

Dennoch hielt sich die kleine Genossenschaft unter den geschilderten Verhältnissen, unter denen jede private Unternehmung binnen kürzester Zeit zusammengebrochen wäre, dank der unerhörten Bedürfnislosigkeit und dem ebenso seltenen Fleiß der Belegschaft. Sie wurde schließlich nur aus einem Grunde aufgelöst, den ich voraus gesagt hatte: die jungen Leute beweibten sich, bekamen Kinder, aber es war nicht möglich, ihnen unter den Verhältnissen des Krieges gesonderte Wohnungen mit eigenen Eingängen zu geben. Wo das aber fehlt, da sprengen nach den Erfahrungen aller Wirtschaftsgeschichte die Zwistigkeiten der Frauen jeden solchen Verband. Heute wird Merchawjah, an das sich noch eine größere Gruppe genossenschaftlich verbundener, aber selbständig wirtschaftender Bauern angeschlossen hat, die "Produzentengenossenschaft" an die "Produktivgenossenschaft", von einer kommunistischen Gruppe, einer "Kwuzah", bewirtschaftet, die sich eines, für solche Gruppen und für palästinensische Verhältnisse ganz leidlichen Ergehens erfreut.

[S.169]

BÄRENKLAU

Volle zwölf Jahre gingen darüber hin, bis ich die Mittel aufbrachte, um meinen niemals aufgegebenen Plan der sozialen Praxis in Deutschland wieder aufnehmen zu können, und dieses Mal mit vollem Erfolge.

Überall in der Welt gibt es einzelne Menschen und kleine Gruppen, die an meine Gedanken glauben. Eine solche bestand und besteht in Holland; sie haben dort sogar den wenig aussichtsvollen Versuch gemacht, eine eigene Partei, die "Grondpartij" (Bodenpartei) zu gründen, und versuchen, ins Parlament zu gelangen . Ich habe immer auf dem Standpunkt gestanden, daß ein solches Unternehmen sehr geringe Aussichten hat; selbst Ferdinand Lassalle, einer der gewaltigsten Redner der Geschichte, hat in einer Zeit, in der solches Unterfangen noch viel mehr Aussichten zu bieten schien, weil damals die großen Parteien noch nicht so bis zur Verkalkung starr organisiert waren, und weil die politische Presse noch nicht fast durchweg so sehr von ihnen abhängig war - selbst Lassalle hat in einer mehrjährigen Agitation, der er sich als reicher Mann völlig widmen konnte, doch nur wenige tausend Mitglieder für seinen "Allgemeinen deutschen Arbeiterverein" gewinnen können. Ich habe denn auch Friedrich Naumann, der seine "Hilfe" in dem gleichen Hause der Zimmerstraße redigierte, wie ich die "Welt am Montag", den Mißerfolg seines Bemühens mit aller Sicherheit vorausgesagt, große Teile der Arbeiterschaft von den Mammutparteien abzuspalten und hinter seine nationalsoziale Partei zu bringen. Ich selbst habe mich solchen Bestrebungen jederzeit ferngehalten: vielleicht der schwerste Verzicht, zu dem mich meine Arbeit zwang. Denn ich habe einige Male die fast unvorstellbare Krafterhöhung und Seligkeit kennen gelernt, die der erfolgreiche Redner verspürt, wenn er auf einer Riesenversammlung spielt wie der Künstler auf seinem Instrument. Die von ihm ausstrahlende Kraft kehrt vertausendfacht zu ihm zurück und entbindet in ihm Gewalten, die er nie in sich vermutet hätte. Aber ich widerstand der Versuchung: erst mußte meine Arbeit vollendet, der letzte Zweifel beseitigt, die letzte Lücke meiner Beweiskette ausgefüllt sein, und so zwang ich mich zurück in die Einsamkeit meiner Bücherei und an meinen Schreibtisch.

[S.170] Jene holländische Gruppe führte ein greiser Jüngling, Jan Stoffel aus Deventer, ein Mann von glühendem Optimismus, von unzerstörbarer Gläubigkeit, dem die Erlösung der Menschheit aus den Schlingen des Kapitalismus seines Lebens bester Inhalt war. Er hatte ursprünglich dem engsten Kreise der Bodenreformer um Henry George angehört, mit dem er noch persönlich befreundet war. Als er aber meine Schriften kennenlernte, überzeugte er sich von der Richtigkeit meiner kritischen Bedenken gegen die an sich großartig konzipierte und mit erschütternder Kraft dargestellte Lehre des Amerikaners und wurde mein glühender Anhänger. Er hat zwei meiner kleineren Schriften, "Die soziale Frage und der Sozialismus" und "Der Ausweg", in seine Sprache übertragen. Im Vorfrühling 1920 wurde ich auf seine Vermittlung hin aufgefordert, an den sämtlichen holländischen Universitäten: Amsterdam, Utrecht, Leyden, Groningen, an der Handelshochschule zu Rotterdam und der Landwirtschaftlichen Hochschule zu Wageningen Vorträge zu halten. Ich kam als Gast in das Haus eines der Mitglieder der Gruppe, des Reeders Jaakob Christian Dewijs, eines wohlsituierten, aber nicht entfernt reichen Mannes, eines der nicht seltenen hochgebildeten und hochstrebenden, von bester Gesinnung erfüllten Kaufleute, mit denen das Leben mich zusammengeführt hat, Männer, die in jeder Beziehung, intellektuell wie ethisch, hoch über so vielen akadedisch Gebildeten und sogar über manchem Gelehrten stehen. Ich war spät angelangt; wir saßen, er, seine prächtige Gattin, meine hochverehrte Freundin Lizzie und ich bis lange nach Mitternacht in ernstem Gespräch zusammen, in einer der seltenen Feierstunden des Herzens, und noch am gleichen Abend stellte er mir für die Ausführung meines Planes die Summe von einer Million Papiermark zur Verfügung, damals noch eine immerhin beträchtliche, für ihn sogar bedeutende Summe, etwa fünfzigtausend Goldmark. Ihn, wie den wackeren Stoffel, deckt längst der Rasen; ich habe dem in innigster Liebe verbundenen Ehepaar in herzlicher Dankbarkeit einen Band meines "Systems der Soziologie" zugeeignet. Ich will gleich hinzufügen, daß ich in den folgenden Jahren mehrfach an der Hochschule für Weltweisheit in Amersfoort, deren Säckelmeister Dewijs war, Kurse über Soziologie abgehalten habe.

Ich wendete mich sofort (März 1920) an den damaligen preußischen Landwirtschaftsminister, den jetzigen Ministerpräsidenten Otto Braun, den ich schon seit längerer Zeit kannte, mit der Bitte, [S.171] mir für meinen Versuch eine Domäne zur Verfügung zu stellen. Der erste Versuch dieser Art war mir viele Jahre zuvor in einer Weise mißglückt, die mich tiefe Blicke in das Wesen der Bürokratie tun ließ. Ich war noch in den neunziger Jahren an den sehr bekannten Unterstaatssekretär im preußischen Landwirtschaftsministerium, Geheimrat Thiel, mit der gleichen Bitte herangetreten. Er sagte mir: "Ich kenne Ihre Absichten und würde sehr wünschen, daß Sie den Versuch machen." Ich antwortete: "Ich bin ein Mann ohne Vermögen, geben Sie mir eine Domäne." Worauf er mit einem etwas bitteren Lachen: "Sie können doch von einem Bürokraten nicht er warten, daß er neue Dinge unternimmt." Mir blieb nichts übrig, als meinen Hut zu nehmen und zu gehen. Aber jetzt herrschte im Ministerium ein neuer Geist, und zu meinem Glück vertreten durch einen Mann, der es seither bewiesen hat, daß er neuen Gedanken zu dienen den Mut und die nachhaltige Kraft besitzt. Otto Braun hat den Versuch in Bärenklau, von dem jetzt zu reden ist, von Anfang an genau beobachtet, wozu er als Sohn einer ostpreußischen Landfamilie die Eignung mitbrachte, und ist ihm ein Gönner, ja ein Freund geblieben. Wenn im letzten Jahre der Preußische Staat sich trotz aller Finanznot dazu entschlossen hat, sich an der von mir begründeten Trägerin des Siedlungswerkes, der "Gemeinnützigen Siedlungs-Treuhandgesellschaft m.b.H.", mit einer halben Million Mark zu beteiligen, so haben wir außer dem preußischen Landwirtschaftsminister Steiger und seinem vortrefflichen Staatssekretär Krüger vor allem auch Otto Braun dafür zu danken.

Damals wurde gerade eine große "Begüterung" frei, die bisher vom Landwirtschaftsfiskus an den Militärfiskus verpachtet gewesen war, sogenannte "Remontegüter", auf denen junge Pferde für das Heer fertiggemacht wurden. Das Hauptgut mit den Wohnungen für die Tierärzte, mit der Schmiede, der Stellmacherei und Sattlerei und dem Wohnhause des obersten Leiters, außer der Wohnung für den örtlichen Inspektor, war Bärenklau, das mithin mit Gebäuden aller Art überreichlich versorgt war und sich daher zu Zwecken der Ansiedlung vorzüglich eignete. Es besaß außer den notwendigen Wirtschaftsgebäuden drei mächtige Remonteställe, von denen, um es gleich vorauszuschicken, wir den einen zu einem ausgezeichneten Kuhstall umwandelten und die beiden Flügel eines zweiten in sehr schöne Arbeiterwohnungen umbauten. Das Mittelstück, das bisher nur einen kleinen provisorischen Versammlungs- und Festraum enthielt, [S.172] bleibt weiteren gemeinnützigen Unternehmungen - wir denken z. B. an eine Konservenfabrik  - vorbehalten. Wir haben inzwischen in einem der alten Gebäude den wirklich sehenswerten Laden der Konsumgenossenschaft und einen großen Versammlungssaal mit alkoholfreiem Gasthaus und den nötigen Nebenräumen geschaffen und werden in kurzer Zeit noch eine genossenschaftliche Wäscherei, Räucherkammern, Badeeinrichtungen, Schwesternwohnung, ein Krankenzimmer und ein Ledigenheim einrichten. Es sei an dieser Stelle bemerkt, daß die rund 440 Einwohner des jetzigen Bärenklau, die wir in wenigen Jahren mehr als zu verdoppeln hoffen, in ihrem Laden monatlich bereits für mehr als 7000 Reichsmark Waren kaufen, beste Waren zum vollen Gewicht und zu billigen Marktpreisen. Der sehr stattliche Reingewinn wird zum einen Teil als Einkaufsdividende rückvergütet und zum anderen Teil für die Zwecke der Siedlung in Reserve gestellt, um namentlich billige Hypotheken auszugeben. In dem dritten Stall sind vorläufig die genossenschaftliche Mühle und Bäckerei untergebracht; später soll hier eine gute Schule mit Lehrerwohnung ihre Stelle finden; der über einen Hektar große Raum dieses alten Remontehofes soll gärtnerische Anlagen und Spielplätze für die Jugend erhalten. Zu all dem fehlten bisher noch die Mittel.

Die Siedlung Bärenklau besteht in dem Augenblick, wo ich dies schreibe, schon fast elf Jahre. Sie hat die üblen Prophezeiungen Lügen gestraft, mit denen sehr hervorragende Vertreter der Agrarwissenschaft sich an ihre Wiege gestellt hatten. Binnen sechs Wochen, spätestens sechs Monaten würde der Versuch an der Unmöglichkeit scheitern, die Disziplin unter der Arbeiterschaft aufrechtzuerhalten. Nun, trotz aller Revolutionsstimmung der ersten Zeit, trotz der nahen Nachbarschaft der sehr "roten" Fabrikstadt Veiten, haben wir von solchen Schwierigkeiten nichts zu verspüren gehabt; unsere Arbeiterschaft ist nach dem Zeugnis der Sachverständigen mindestens so fleißig und sorgsam wie sonst nur auf altpatriarchalischen Gütern. Dieser erste Beweis für die Lebensfähigkeit des ganzen Planes ist völlig erbracht. Ebenso ist bewiesen, daß es möglich ist, ein arg vernachlässigtes Gut zur Musterwirtschaft emporzuheben, während gleichzeitig die Ansiedlung recht zahlreicher selbständiger Elemente vor sich geht, und drittens ist bewiesen, daß diese Methode der Ansiedlung wesentlich billiger ist als die bisherigen und daß sie die Ansiedler dauernd in eine gesichertere Lage [S.173] dadurch versetzt, daß sie sie in genossenschaftliche Organisationen aller Art eingliedert, denen auch das verbleibende, unter intelligenter Leitung kapitalstark bewirtschaftete Hauptgut als Musterwirtschaft angehört. Auf einer Werbeversammlung, die am 25. Juni 1929 im Hause meines verehrten Freundes Albert Einstein stattfand, äußerte sich der Ministerpräsident Braun wörtlich folgendermaßen: "Erstens ist der siedlungsbürokratische Apparat hier kleiner als bei der alten Methode und dadurch die die einzelne Siedlung belastende Unkostenquote geringer, zweitens wird die Auswahl des Siedlermaterials viel zweckmäßiger durchgeführt . . . Der Vorteil des Oppenheimerschen Systems schien mir von vornherein darin zu liegen, daß das Siedlungsgut zunächst mal intensiv weiterbewirtschaftet wird, daß der Administrator Gelegenheit hat, eine Auslese der Siedler zu treffen, die Ertragsmöglichkeiten des Bodens zu studieren, und daß auch später eine gewisse Verbundenheit der Angesiedelten mit dem restierenden Großbetriebe bleibt. Das alte System mit der völligen Aufteilung der Güter, wobei jeder Siedler sich selbst überlassen bleibt, ist gerade bei der heutigen schwierigen Lage der Landwirtschaft gefährlich. Die Bemutterung durch das Hauptgut, die sozusagen die neue Methode mit sich bringt, ist unzweifelhaft sowohl bei der Bestellung als vor allem beim Absatz der Produkte von Vorteil für den Siedler."

All das sind aber nur verhältnismäßig unwichtige Vorzüge der neuen, von mir ausgearbeiteten und endlich durchgesetzten Methode der inneren Kolonisation. Sie ist die erste, die es in Aussicht nimmt und durchzusetzen imstande ist, den Landarbeiter im Lande zu verwurzeln, indem man ihm ein Eigentum gibt und ihm die Möglichkeit eröffnet, allmählich immer mehr Land dazu zu erwerben und so in den ländlichen Mittelstand aufzusteigen. Hier liegt die eigentliche Aufgabe der inneren Kolonisation, wie sie seit einem halben Jahrhundert nicht nur von mir, sondern von allen großen Volkswirten Deutschlands, mit Schmoller und Wagner an der Spitze, gefordert worden ist: denn es ist die nach dem Goltzschen Gesetz erfolgende Massenwanderung der Landproletarier in die Industriebezirke, die den städtischen Lohn niederhält und die Industrie treibhausmäßig entwickelt, während sie gleichzeitig ihren inneren, landwirtschaftlichen Markt schwächt. Das ist die große "Forderung der Stunde", ist "die" Aufgabe der Gegenwart: so hat Exreichskanzler Luther vor einigen Jahren die einhellige Überzeugung fast aller Parteien [S.174] Deutschlands mit Recht gekennzeichnet; ich darf mir vielleicht ein bescheidenes Verdienst daran zuschreiben, daß diese Überzeugung sich endlich allgemein durchgesetzt hat. Und es bleibt nur noch zu wünschen, daß die Parteien aus ihr nun auch die praktischen Folgerungen ziehen möchten. Mein hochverehrter Freund, der Staatssekretär Krüger vom preußischen Landwirtschaftsministerium, den ich wohl als meinen Schüler bezeichnen darf, hat in der gleichen Versammlung wörtlich gesagt "Wir stehen vor der Tatsache, daß das alte Verfahren zunächst die ansässigen Landarbeiter vertreibt. Nun liegt der Vorteil des neuen Systems darin, daß man keinen Landarbeiter zu vertreiben braucht, daß ihm die Wahl gelassen wird, hier eine kleine Arbeiterstelle zu bekommen, und wenn er sich gut macht, daß es ihm möglich ist, allmählich in die Reihe der bäuerlichen Besitzer aufzusteigen. Ich sehe also den Hauptvorteil darin, daß die ansässige Arbeiterschaft gehalten wird."

Wir haben inzwischen, und zwar 1928, ein zweites Großgut, [16269] Lüdersdorf bei Wriezen, und soeben, 1931, ein drittes, das der Herrnhuter Gemeinde gehörige, dicht bei Gnadau belegene Gut [39249] Döben erworben. In dem ersten ist die Siedlungstätigkeit schon weit vorgeschritten; 12 Bauernstellen zu je 50 - 60 und 15 Arbeiterstellen zu je 4 Morgen sind ausgelegt und fast sämtlich bereits bezogen. Auch hier ist bereits ein Konsumladen geschaffen, und eine Gemeindeschwester, die zugleich den Kindergarten leitet, betreut die Kranken und Wöchnerinnen. Hier wohne ich zur Zeit als bescheidener Mieter in einem Teil des leerstehenden Herrenhauses.

Aber der Unstern, der über all diesen Gründungen waltet, war doch auch in diesem Falle noch nicht völlig vom Firmament verschwunden. Das vergangene Jahrzehnt hat die schwersten Erschütterungen der deutschen Wirtschaft und insbesondere der deutschen Landwirtschaft gebracht, die sie je erlebt haben: die Inflation, die Deflation und zuletzt die heute noch fortbestehende schwere Preiskrisis, die gerade die ostelbische Landwirtschaft, und hier vor allem denjenigen Typus der Großgüter betroffen hat, dem unsere beiden ersten angehören: Liegenschaften mit durchschnittlich leichterem Sandboden, deren Hauptfrüchte der Roggen und die Kartoffeln sind.

Die Inflation hat unsere praktische Siedlungstätigkeit auf mehrere Jahre hin völlig lahmgelegt. Unser Kapital war klein; zu der Papiermillion meines holländischen Freundes steuerte meine erste [S.175] Siedlung, Eden, das sich erweitern wollte, um für seinen jungen Nachwuchs Raum zu haben, weitere zwei Papiermillionen bei, aber in einer damals schon noch mehr verschlechterten Währung; als wir auf Gold umstellten, ergab sich, daß unser Gesamtkapital nur etwa 83.000 Goldmark betragen hatte. Weit mehr als diese Summe hatten wir gleich in der ersten Zeit in Siedlungsbauten investiert, in der Gewißheit, diese Mittel wie üblich Zug um Zug im Rentengutsverfahren in Gestalt von Pfandbriefen vom Staate zurückzuerhalten. Aber der Pfandbriefmarkt brach vollkommen zusammen, unser Geld war "festgefroren", wir waren gezwungen, zu den furchtbar harten Bedingungen jener Zeit eine Hypothek aufzunehmen, und meine beiden Freunde Dyk und Jackisch ebenso wie ich haben Jahre hindurch den Betrieb nur mit den schwersten Sorgen und mit beträchtlichen eigenen Opfern durchgehalten. Als diese Schwierigkeiten endlich überwunden waren, kam jener Preissturz unserer Haupterzeugnisse, der auf Gütern von dieser Beschaffenheit eine Rentabilität unmöglich macht. Und dieser Umstand hat mich bisher verhindert, auch noch die letzte und größte Hoffnung zu erproben, die sich für mich mit diesen Modellversuchen verknüpft:

Das Statut meiner Gesellschaft sieht eine Gewinnbeteiligung der Arbeiter und Angestellten von einer Höhe vor, wie sie bisher in aller Wirtschaftsgeschichte niemals annähernd versucht worden ist. Sonst hat immer der Besitzer sich vorweg eine mäßige Verzinsung seines Grundkapitals vorbehalten und die Arbeiter erst an dem danach verbleibenden Reingewinn beteiligt. Trotzdem hat sich immer und immer wieder gezeigt, daß die Arbeit außerordentlich viel intensiver und gleichzeitig sorgfältiger wurde, so daß der Reinertrag beträchtlich stieg. Nach unserem Statut erhalten die Arbeiter bereits eine Beteiligung an dem Gewinn, der vor der Verzinsung des Kapitals sich als Überschuß der Einnahmen über die reinen Kosten ergibt; und dieser Gewinnanteil wächst immer stärker mit jedem Prozent Verzinsung, das das Gesellschaftskapital erhält, bis zu seinem Maximum von fünf Prozent. Ich erwarte von dieser Gewinnbeteiligung im Laufe der Jahre eine Erhöhung des Fleißes und namentlich der Sorgfalt der Belegschaft in der Behandlung des Inventars, die den Roh- und Reinertrag sehr erheblich steigern werden; um meine letzten Hoffnungen zu enthüllen, so erwarte ich von diesem System die Vereinigung der Vorteile, die bisher der Großbetrieb und der Kleinbetrieb, jeder für sich, allein besaßen; ich erhoffe einen unter [S.176] intelligenter Leitung stehenden, mit den neuesten Methoden kapitalstark betriebenen Großbetrieb, in dem mit annähernd so großer Hingabe und Schonung geschafft wird wie im bisherigen Bauernbetrieb.

Um dieses Ziel zu erreichen, muß der "psychologische Hebel" einer mehrfachen erheblichen Gewinnausschüttung erst gezogen werden. Dazu müssen aber natürlich erst Gewinne überhaupt, und seien sie auch gering, gemacht worden sein. Solche Gewinne können unsere Güter bei dem bestehenden Preisstande nicht abwerfen und so bleibt dieses letzte Problem, das mein Versuch zu lösen hat, vorläufig noch ungelöst. Wenn sich, wie zu hoffen ist, die Verhältnisse in der nächsten Zeit wesentlich bessern werden, wird auch darüber Klarheit gewonnen werden, und hoffentlich wird sich auch dieser Teil meiner Voraussage bestätigen: es wird sich herausstellen, daß derart bewirtschaftete Großgüter mit einer so stark am Ertrage beteiligten Arbeiterschaft privatwirtschaftlich dem bisherigen, herrschaftlich-kapitalistischen System überlegen sind, und dann wird die von mir erhoffte und erwartete "volkswirtschaftliche Wirkung" endlich eintreten: die Verwandlung der feudalen Großwirtschaften in formell oder doch faktisch genossenschaftlich organisierte Betriebe wird sich, sei es durch den Staat, sei es durch die Eigentümer selbst, in großem Maßstabe vollziehen; die Landarbeiter, die dann den Fuß auf der ersten Sprosse einer nach oben führenden Leiter haben, werden auf dem Lande bleiben und der städtischen Industrie einen wachsenden und immer kaufkräftigeren Markt darbieten, während gleichzeitig die städtische Arbeiterschaft, von der erdrückenden Konkurrenz der massenhaft zuwandernden Landarbeiter erlöst, für ihre Arbeit einen immer höheren Entgelt und damit eine erhöhte soziale Lage erreichen wird.

Ich könnte von manchen Schwierigkeiten noch berichten, die unserer uneigennützigen Arbeit von außen her bereitet wurden, über die argen Schwierigkeiten der Konjunktur noch hinaus. Manche Beamte der untergeordneten Behörden und viele Nachbarn haben unverständigerweise dieses "kommunistische" Experiment mit ihrem Hasse beehrt, obgleich sie sich sagen sollten und könnten, daß hier der einzige Weg beschritten ist, der uns vor wirklicher kommunistischer Zerstörung erretten könnte. Mir wurde einmal zugetragen, daß man unsere Arbeiter in Bärenklau vor der "Judenwirtschaft" gewarnt habe. Ich erklärte in der nächsten Versammlung, hier solle allerdings eine Judenwirtschaft aufgebaut werden "im Geiste des [S.177] Juden Jesus Christus". Ein andermal hat ein junger Beamter des Landeskulturamts, der eine gewisse, aber nur sehr äußerliche Ähnlichkeit mit dem jungen Bismarck aus der Göttinger Korpsburschenzeit hat, am hellen lichten Tage gegen den Willen des Administrators den Versammlungsraum erbrechen und die Arbeiterschaft zusammenrufen lassen, um ihr zu erklären, sie brauche sich an unser Statut nicht zu halten. Ich schrieb dem Minister, und die Wirkung blieb nicht aus, ob er denn nicht bemerke, daß dieser junge Mensch sich über ihn lustig mache. Aber all das wurde überwunden, und wir sind jetzt in voller erfolgreicher Tätigkeit der Siedlung. Schon heute ist die Bevölkerung der beiden Güter, namentlich des näher und günstiger zu Berlin gelegenen Bärenklau, ungleich zahlreicher und wohlhabender als zur Zeit, wo wir sie übernahmen. Und ich hoffe, im Kleinen noch vor meinem Tode zu sehen, was der alte Faust im Großen vor dem seinen sah und als die höchste Aufgabe erkannte, die dem Manne gestellt sein kann: "Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn".

Mehr als ein volles Menschenalter, sechsunddreißig Jahre, habe ich an dieses Werk gewandt. Ich bin darüber ein alter Mann geworden und kann die Last nicht mehr lange tragen. Und habe auch nicht mehr das Gefühl, daß ich verpflichtet bin, sie noch lange zu tragen. Ich habe das Bewußtsein, alles getan zu haben, was man von einem Bürger fordern kann: ich habe ohne jede Hoffnung auf Gewinn oder persönliche Ehre, unter Einsetzung meiner ganzen Persönlichkeit und meiner geringen Mittel, ohne Rücksicht auf die Gefährdung meines wohlerworbenen wissenschaftlichen Namens, eine Sache unternommen und zu gutem Ende geführt, die die größten Autoritäten für unmöglich erklärt hatten. Ich habe den Weg zu dem großen Ziele gewiesen, in den Hauptlinien abgesteckt und in seinem schwierigsten Teile, auf der Anfangsstrecke, auch gebahnt. Jetzt ist es die Sache der Öffentlichkeit, das Werk weiter und zu seiner letzten Vollendung zu führen. Darf ich dieses Kapitel mit den Versen schließen, die ich meiner lieben zweiten Frau in ein Exemplar meines ersten Buches "Freiland in Deutschland" schrieb?

"Vor zwanzig Jahren senkt' ich den Keim ins Land
und pflegte ihn, zwanzig Jahre, mit Herz und Hand.
Die rasche Jugend verging und mein Haar ward weiß:
Wann wächst aus dem Baume Frucht? Wann lohnt der Fleiß?

[S.178]

Wann sammelt mein Volk sich, froh des erfüllten Traums,
im Schatten meines, von mir gepflanzten Baums?
Und sterbe ich drüber hin, und erleb' es nie:
Nicht pflanzt' ich den Baum für mich; für sie, für sie!"