REDEN GEDENKARTIKEL UND KRITIKEN

VON FRANZ OPPENHEIMER*)

 

*) Den hier berücksichtigten Reden und Schriften Franz Oppenheimers kommt im Rahmen seines Lebens wesentliche biographische Bedeutung zu.

[S.281]

DER AUFBAU EINER JÜDISCHEN GENOSSENSCHAFTSSIEDLUNG IN PALÄSTINA*)

Dem Zionismus ist eine Aufgabe gestellt von ungeheuerster Schwierigkeit. Er soll eine Völkerwanderung organisieren erstlich von einer Massenhaftigkeit, wie sie die Weltgeschichte kaum je erlebte: denn es handelt sich um die Expatriierung und Neuansiedlung von Millionen armseliger, elender Menschen in kürzester Zeit, während doch die Völkerwanderungen der alten Zeiten kaum ebensoviele Hunderttausende in Bewegung setzten, und während doch die größte Völkerwanderung der Welt, nämlich diejenige der deutschen Ackerbauer nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika, mehr als 80 Jahre brauchte, um ungefähr 14 Millionen Auswanderer zu kolonisieren.

Die zweite Schwierigkeit besteht darin, daß dasjenige Gebiet, in welches diese Einwanderung aus unabweisbaren Gründen gelenkt werden muß, ein verhältnismäßig enges ist, so eng, daß von vornherein mit einer sehr bedeutenden Dichtigkeit der Kolonisation zu rechnen ist, wie sie nur in den höchst entwickelten Kulturstaaten als Ergebnis einer langjährigen friedlichen Entfaltung von Ackerbau und Industrie hat entstehen können.

Die dritte Schwierigkeit besteht darin, daß dieses Gebiet nach Klima, Bodenlage, Pflanzenproduktion usw. sehr verschieden ist von denjenigen Ländern, aus denen der Strom der Einwanderung abzuleiten ist. Der Unterschied zwischen der extensiven Ackerkultur Westeuropas mit seiner reichen Beregnung und der schon nahezu subtropischen Kultur der Steppe, die künstlicher Bewässerung bedarf, sind ebensoviele Schwierigkeiten der zionistischen Kolonisation.

*) Rede auf dem VI. Zionisten-Kongreß in Basel (26. VIII. 1903). — Im Protokoll dieses Kongresses (S. 182) gehen dieser Rede Einführungsworte Theodor Herzls voraus. Hierin hieß es unter anderem: „Bevor ich Herrn Dr. Oppenheimer das Wort gebe, erlauben Sie mir, einige Worte über diesen neuen Delegierten zu sprechen. Ich möchte ihn nur vorstellen als das, was er für unsere Bewegung schon ist und noch werden kann. Viele von uns, zu denen ich mich zähle, verdanken ihm die Klärung und Festigung ihrer Anschauungen über die Fragen der Bodenreform, Besiedlung und Produktionsgenossenschaft ..."

[S.282] Die vierte und größte Schwierigkeit liegt in der Beschaffenheit des fortzuführenden und anzusiedelnden Menschenmaterials. Hier ist weltgeschichtlich durchaus neues zu leisten: ja selbst Rabbi Ben-Akiba müßte zugeben, daß sein Lieblingsspruch hier einmal unwahr wird: denn alle Völkerwanderungen der Vergangenheit gingen aus entweder von reisigen Hirtenkriegern, die aus ihrer Steppe hervorbrachen, um in den Schwemmebenen der Ströme die Herrschaft über leibeigene Bauern zu suchen - oder von friedlichen Ackerbauern, denen die Heimat aus irgendeinem Grunde zu eng geworden war, und die nun auszogen, um mit Pflug und Karst eine neue Heimat zu gewinnen. Das Volk aber, das wir aus dem furchtbarsten Drucke zu erlösen haben, der jemals auf einer Menschenmasse lastete, die zu Parias herabgesunkenen und jeder Gewalttat vogelfrei preisgegebenen, zum tiefsten denkbaren Grunde menschlichen Elends niedergedrückten Juden Halbasiens, das sind weder Krieger noch Ackerer, sondern fast durchaus städtische Handwerker. Seitdem vor zweitausend Jahren das Schwert der Römer die Wurzel zerschnitt, die das Volk in seinem Stammlande geschlagen hatte, hat man ihnen in aller Welt die Berührung mit der Mutter Erde versagt, die den Riesen Antäus immer wieder in ungeminderter Kraft sich wieder erheben läßt: sie durften nirgends Bauern sein. Und so haben wir es heute mit einem körperlich minderwertigen, und außerdem noch durch Hunger, schmutzige Not, Gram und soziale Erniedrigung verkümmerten Menschenmaterial zu tun, unzuverlässige Bausteine für ein neues Volkstum.

Diese Schwierigkeiten sind von so ungeheurer Größe, daß wohl zu begreifen ist, wenn sogar der Optimismus mutlos den Arm hängen läßt, der helfen möchte. In der Tat, wenn man nur die Pon-derabilien der Geschichte in Rechnung setzt, so erscheint die Aufgabe unlösbar. Aber es gibt zum Glück Imponderabilien in der Weltgeschichte, unwägbare, unmeßbare Seelenkräfte von solcher Spannung, daß sie imstande sind, das Unmöglich scheinende dennoch möglich zu machen. Mit diesen Kräften müssen wir rechnen und, meine ich, dürfen wir rechnen. Diese Kräfte sind das ungebrochene Herrengefühl des Volkstums, das hier errettet werden soll. Dieses Herrengefühl, wurzelnd in der uralten Überlieferung von der Got-teskindschaft, hat die Juden Rußlands und Rumäniens trotz aller Not bisher davor bewahrt, unter dem grauenhaften Drucke der vereinigten Höllenmächte des Absolutismus, des Feudalismus und Antisemitismus [S.283] zermalmt zu werden, während doch der Slawe unter den beiden ersteren allein alles Gefühl seiner Menschenwürde und alle Widerstandskraft eingebüßt hat.*) In den Juden erzeugt immer noch der Druck von oben den entsprechenden Gegendruck von unten: je stärker die Feder der Volksseele zusammengepreßt wird, um so stärker preßt sie zurück, das beweist der unstillbare Bildungshunger dieser unseligen Proletarier, die in Not und Schmutz nie aufgehört haben, alter Weisheit nachzuhängen und neue Weisheit zu schöpfen.

Mit diesen Imponderabilien, mit dieser unzähmbaren Kraft der Seelen werden, so dürfen wir hoffen, unsere Kolonisten das ausgleichen, was ihnen an Kräften des Körpers mangelt. Und wir dürfen mit einem zweiten Imponderabile rechnen, mit der Sehnsucht dieser Verbannten von zweitausend Jahren nach dem Lande ihrer Väter. Die Sehnsucht, die zweitausend Jahre der Galuth**) immer stärker und stärker gespannt haben, ist auch eine ungeheure Förderung der zionistischen Kolonisation, und nur der zionistischen Kolonisation. Die Zuweisung der herrlichsten Ackerbreiten in Kanada oder Argentinien würde nicht imstande sein, die Kräfte Ahasvers so anzuspannen, wie die Ansiedlung in einer ärmsten Steppe, durch die der Jordan fließt und auf die der Libanon herabschaut.

Dennoch ist es die heilige Aufgabe derer, die es wagen, diese modernen Ziegelstreicher und Festungsbauer vom Drucke des Pharao zu erlösen und hinauszuführen in das Land, wo Milch und Honig fließt, alle Vorkehrungen zu treffen, daß diese Seelenkräfte den rechten Punkt des Angriffs finden, um nutzbare Kraft zu leisten, und die Hindernisse so weit wie nur tunlich zu vermindern. Wird hier etwas versäumt, so ist die Verantwortung zu schwer für menschliche Schultern: diese Hoffnung darf nicht getäuscht werden. Diese Millionen, die der Erlösung harren, müssen sie finden, soll nicht ihr

*) Diese Rede wurde zwei Jahre vor Ausbruch der ersten russischen Revolution von 1905 gehalten. Schon 1906 hat F. O. für den Fall des Scheiterns der damaligen russischen Bemühungen um eine weitgehende Agrarreform das Kommen einer Bauernrevolution ungeheuren Ausmaßes in Rußland vorausgesagt. („Was uns die russische Agrarreform bedeutet" in dem von Friedrich Naumann herausgegebenen Jahrbuch „Patria", abgedruckt in dem Sammelband „Wege zur Gemeinschaft" (München 1924). — Im gleichen Sinne heißt es auch in der nachstehend wiedergegebenen Mak-kabäerrede vom Januar 1906 (S. 303): „Von dem großen historischen Schauspiel der russischen Revolution ist erst die erste Szene gespielt."

**) = Diaspora.

[S.284] Fluch zermalmend auf die Führer fallen, die, guten Glaubens oder nicht, zu ihren Verführern geworden sind.

Wie das zu geschehen hat, darüber haben wir uns heute erstmalig zu verständigen. Ich bin berufen, Ihnen das Ergebnis langjähriger Studien- und Gedankenarbeit als Grundlage einer solchen Verständigung vorzulegen, nicht etwa als der Weisheit letzter Schluß. Des einen aber bin ich sicher, daß jeder, der zu dieser Grund- und Lebensfrage das Wort ergreifen wird, es mit dem Bewußtsein tun wird, eine furchtbare weltgeschichtliche Verantwortung zu tragen.

Das Folgende halte ich für die Hauptgesichtspunkte, denen die zionistische Kolonisation zuzustreben hat:

1. Sie hat durchaus auf Selbsthilfe zu beruhen, Selbsthilfe, wie sie die Theoretiker des deutschen Genossenschaftswesens verstehen, das heißt, daß im regelmäßigen Verlauf des Wirtschaftslebens jeder arbeitsfähige Erwachsene sich in allen materiellen Dingen nur auf sich selbst zu verlassen hat.

Dieses Prinzip verträgt aber, ohne verletzt zu werden, viele Milderungen oder wird vielmehr erst dadurch vollkommen. Es ist damit vereinbar erstens dasjenige, was der große und kluge Menschenfreund Viktor A. Huber die „aristokratische Hilfe" nannte: das heißt die immaterielle Unterstützung der Wirtschaft durch freien Rat der Gebildeten, der Sachverständigen; und zweitens wird das Prinzip der Selbsthilfe geradezu erst vervollkommnet durch eine Kreditgewährung, die der Breite der neugeschaffenen Kreditbasis voll entspricht.

So ist also grundsätzlich die allgemeine Aufgabe des Zionismus, den Ärmsten der Armen unverzinsliche Darlehen oder gar, nach Maßgabe der verfügbaren Mittel, geschenkweise Subventionen für die Übersiedlung selbst von dem bisherigen Stiefvaterlande in das neue Vaterland zu gewähren; dann aber hat auch er sie auf eigene Füße zu stellen und auf die eigenen Kräfte der Seele und des Leibes zu verweisen. Aber er soll sie nicht ins Leben hineinschicken und dann schuldig werden lassen, sondern es sollen erstens seine besten Männer den Tastenden der ersten Anfänge mit ihrem Rat und ihrem sachverständigen Urteil jederzeit zur Hand sein: und es sollen zweitens die Geldmittel der zionistischen Bewegung den neugeschaffenen Kolonien gegen mäßige Zinsen und unter weitherzigsten Bedingungen der Tilgung in dem Umfange zur Verfügung stehen, wie es die durch die Kolonisation selbst neugeschaffene Kredit- [S.285] basis erlaubt. Almosen aber sind streng zu verpönen: man löst mit Almosen keine sozialen Probleme, sie brechen das Rückgrat aller wirtschaftlichen Kraft der Selbstverantwortung, sie verderben die beste Saat. Mag man bei elementaren Unglücksfällen, wie Mißernten und Feuersbrünsten etc. mit den Mitteln der Allgemeinheit helfend einspringen, eine Art von gegenseitiger Selbstversicherung, die in allen Kulturstaaten ohne Schaden geübt wird: mag man, bis die Kräfte der einzelnen Kolonien genügend erstarkt, für die Erhaltung der Alten, Schwachen und Kranken Beisteuern leisten: aber darüber hinaus muß mit eiserner Konsequenz das Gesetz durchgeführt werden: Hilf dir selbst, hilft dir Gott!: und unter keinen Umständen dürfen die Siedler das Gefühl haben, daß hinter ihnen reiche Herrenkapitalisten stehen, die ihren Karren aus jedem Sumpf ziehen werden. Die Wirtschaftsgeschichte beweist, daß ein solches Bewußtsein, Helfer hinter sich zu haben, ganz von selbst, auch unter günstigeren äußeren Umständen, Armut erzeugt, während umgekehrt das Bewußtsein, auf die eigene Kraft angewiesen zu sein, selbst in der Wüste Reichtum schafft. Wehe also dem allzu weichen Manne, der durch Güte an der unrechten Stelle das Riesenwerk verpfuschen würde, das hier zu leisten ist: nicht Güte durchbricht die Berge, sondern nur der stahlbewehrte Wille: und, gute Leute gehören auf den guten Ort, sagt ebenso wahr wie hart das Sprichwort unseres Volkes.

2. Der zweite Hauptgesichtspunkt der zionistischen Kolonisation muß der sein, daß ihre Grundlage eine agrarische zu sein hat. Alles Wachstum beruht auf der Verwurzelung einer Menschenmasse mit dem Boden, auf dem sie ruht, und diese Verwurzelung schafft nur die Landwirtschaft. Will der Zionismus ein neues Volkstum schaffen, so muß er sein Fundament in einer jüdischen Bauernschaft tief ins Land hineinlegen: nur darauf kann der Weiterbau einer stolzen Kultur sicher ruhen. Alle menschliche Technik hat nur dann Erfolg, wenn sie die Natur selbst in ihrem Schaffen nachahmt: Alles Werden vollzieht sich nach jenem gewaltigen Gesetze der Entwicklung, wonach jedes Einzelwesen alle Hauptstufen zu durcheilen hat, die seine Art im Laufe von Jahrmillionen überwand: so hat auch ein Volksindividuum anzufangen, wie alle Völker der Weltgeschichte begonnen haben: mit bäuerlichen Siedlungen. Wollten wir es wagen, das Haus vom Dach an zu bauen, es würde uns zusammenstürzen, und stellten wir es auch auf güldene Strebepfeiler. Wir [S.286] können unmöglich eine riesenhafte Bevölkerung von Handwerkern, Krämern und Hausierern von einem Ort der Erdoberfläche zum anderen verschicken, um sie als Handwerker, Krämer und Hausierer weiterleben zu lassen. Wir müßten sie als Hausindustrielle und Heimarbeiter im Dienst von Großkapitalisten für die Weltmarktindustrie arbeiten lassen, und alle Schrecken des Ostendes von London mit seinen Schwitzhöllen, und alle schmutzige Not der galizischen Landstädtchen und der russischen Riesendörfer voll Schmutz und Rohheit, die sich Städte schimpfen, würden wir mitbringen in das Land des Herrn. Unsere Aufgabe ist es im Gegenteil, in dem Lande unserer Wahl mit möglichster Schnelle einen möglichst ausgedehnten Markt von möglichst großer Kaufkraft für Handwerksprodukte herzustellen, das heißt, wir haben so viel wie möglich Bauern anzusiedeln, um zu möglichst hohem Wohlstand zu führen. Dann schaffen wir gleichzeitig in jedem Dorfe Raum und behagliche Existenz für große Mengen von Handwerkern, die von dem Überschuß unserer Bauern leben, während sie ihnen mit ihrer Handfertigkeit dienen: dann schaffen wir gleichzeitig zahlreiche Städte, in denen auch wieder städtische Elemente Platz und Lebensluft finden: denn das ist das tiefste Geheimnis, was meine wirtschaftswissenschaftlichen Studien ergeben haben: daß Bauern schaffen muß, wer Städte schaffen will!

3. Der dritte Hauptgesichtspunkt ist der, daß das Land durchaus und für alle Zeit im Eigentum der Gesamtheit stehen und bleiben muß: „Mein ist das Land, spricht der Herr, und mir sollt ihr es verwalten." Wir müssen in modernem Gewande die uralten Agrargesetze Israels wiederherstellen, die das Land für ewige Zeiten dem Geschlecht oder der Dorfgemeinschaft zuwiesen, die es ihrerseits auch nur als Lehen des Gesamtvolkes besaßen. Die antike Welt kannte kein anderes Mittel, jene Gleichheit des Grundbesitzes zu erhalten, die sie mit voller Klarheit als die einzig mögliche Grundlage eines gesunden Volkstums erkannte, als die Zurückgabe jedes verkauften oder verpfändeten Bodenstückes an die Erben nach einer bestimmten Zeit, das Halljahr oder Jubeljahr. Daran, daß sich die Rückgabe nicht durchführen ließ, weil die Macht der Großgrundbesitzer stark genug wurde, um die Durchführung des Gesetzes zu verhindern: daran allein ist Israel zugrundegegangen wie Sparta und Rom: das ist die letzte Ursache aller Leiden Ahasvers.

[S.287] Dieses Unheil haben wir zu verhüten, und eine zweitausendjährige Geschichte hat uns das Mittel dazu, ein besseres Mittel als das Jubeljahr, an die Hand gegeben. Die einzelnen Kolonien besitzen ihr Land zur gesamten Hand unter dem Obereigentum des Volksganzen: und jeder einzelne Kolonist ist nur Erbpächter seiner Genossenschaft gegen einen festen Kanon, der nicht gesteigert werden darf; er ist unkündbar, solange er seinen staatlichen Verpflichtungen gegen das Volk und seinen wirtschaftlichen und kommunalen Verpflichtungen gegen seine Gemeinde nachkommt. Diese Form des Besitzes, unvollkommen verwirklicht in allen alten Volksrechten, gewährt alle Vorteile des eigentlichen Bodeneigentums und ist frei von seinen schweren Fehlern. Sie gibt die volle Sicherheit des Besitzes, sie gibt das volle Heimatgefühl und jene unlösbare Verwurzelung mit Boden und Acker, die den Bauern sein Feld pflegen und lieben läßt mit allen Kräften: aber sie schließt aus die Verschuldung des Bodens, die in allen Ländern des römischen Rechtes dem Bauern die Früchte seines Fleißes nimmt, um sie der Grundrente in den Schoß zu werfen. Sie schließt ferner aus die Zersplitterung des Feldlandes hier und die Anhäufung dort, die die Dorfgemeinde feindlich spaltet in eine Aristokratie und ein Proletariat und damit jene Interessengemeinschaft vernichtet, die allein nach dem Zeugnis der Weltgeschichte unverwundbar machen kann. Sie schließt ferner aus jene Proletarisierung des armen Landvolkes, das massenhaft in die Städte drängt, sie zu moralisch und physisch ungesunden Riesenmassen aufbläht und mit seinem Hungerangebot für Lohnarbeit alle Greuel des Kapitalismus in die Welt ruft. Der genossenschaftliche Besitz des Grund und Bodens gewährleistet für alle Zeit Freiheit und Brüderlichkeit des Bauernstandes, der, von Epoche zu Epoche in höherem Wohlstande, sich größter Bildung und Gesittung erfreut. Sie gewährleistet ferner für alle Zeit ein gesundes Gleichgewicht zwischen städtischer und bäuerlicher Bevölkerung, gleichmäßige Entwicklung aller Stände, die Abwesenheit riesiger Metropolen und eine vernünftige, sittlich und politisch gleich heilsame wirtschaftliche Gleichheit auch der städtischen Berufe, und dadurch auch hier Freiheit und brüderliches Zusammenhalten.

Ein anderes System kann nach meiner Überzeugung der Zionismus gar nicht wählen. Wollten wir das von uns erworbene Gebiet an reiche Kapitalisten austun, so wäre es erstens viel zu eng für die [S.288] Massen, die der Erlösung harren: denn das Großgrundeigentum verödet die Welt: es hat nicht den hundertsten Teil der Fassungskraft für Menschen, wie die kleinbäuerliche Kolonisation mit ihrer reichen städtischen Entwicklung: und wir würden zweitens nichts anderes tun, als Stadtproletarier in noch jämmerlichere Ackerbauproletarier verwandeln. Und wollten wir das Land in Bauernstellen zu freiem römischen Eigentumsrecht austun, so würden wir nicht nur alles Elend mitimportieren, das das Recht dieses Raubstaates über die Kulturwelt gebracht hat; wir würden nicht nur ebenfalls die Fassungskraft des Gebietes für Menschen ungeheuer verringern, sondern wir würden vor allem das Wichtigste verschleudern, die gewaltige Kreditbasis, die eine genossenschaftliche Kolonisation schafft: denn unter ihr wächst der im Quadrat der Bevölkerungsdichtigkeit steigende Bodenwert der Gesamtheit zu und kann von ihr nutzbar gemacht werden, um die gigantischen Kapitalmengen zu werben, die für die Vollendung des Werkes unentbehrlich sind: Kapitalmengen, die der westeuropäische Jude uns nie geschenkweise zur Verfügung stellen wird. Geben wir aber das Land zu Privateigentum aus, so wachsen die riesigen Bodenwerte, die Schöpfung der Gesamtheit, einzelnen Privatpersonen zu, und werden natürlich nicht den Zwecken der Gesamtheit, sondern Privatzwecken nutzbar gemacht; und dann kommen wir über den Anfang nimmer hinaus.

Unser Anfang muß demnach sein: Genossenschaftliche Bauerndörfer: das wird uns vorgeschrieben durch die Geschichte, durch die Wirtschaftswissenschaft und durch unsere heilige Überlieferung. Aber wie soll das geschehen?

Nun, meine Freunde, wir sollen ein Netz von Bauernkolonien über das Land spannen, das wir erwerben wollen. Wenn man ein Netz spannen will, so schlägt man erst an den Stellen die Haken ein, zwischen denen das Netz entstehen soll. Dann spannt man zwischen diesen Haken starke Stricke, dann knüpft man zwischen den Stricken stärkere Fäden und stellt derart ein großes Maschenwerk her, das man nach Bedarf durch das Dazwischenwirken feinerer Fäden zu immer feineren Maschen ausgestaltet. Genau so haben wir, meine ich, vorzugehen. Wir haben, soweit wie der verfügbare Teil unserer Mittel reicht, in allen Teilen des Landes große Grundflächen zu erwerben, und zwar womöglich nur solche, deren Bodenbeschaffenheit und Wasserverhältnisse von vornherein eine gewisse [S.289] Ergiebigkeit der Ackerkultur gewährleisten. Von diesen erworbenen Flächen sind die besten Teile in solcher Größe als landwirtschaftliche Großbetriebe auszugestalten, wie sie von einem ausgezeichneten Fachmann übersehbar sind. Die Werbung solcher Fachleute in genügender Zahl, womöglich jüdischer, im Notfall unbedenklich christlicher, muß der erste Akt der Vorbereitung zionistischer Tätigkeit sein. Sie haben auf dem ihnen bestimmten Gute den Wirtschaftsplan aufzustellen, den Etat zu entwerfen, die Zeichnung der Gebäude, den Bedarf an Maschinen, an Saatgut, an Geräten, an Gespannen und vor allem an Bauernfamilien festzustellen.

Zu gleicher Zeit müssen in Galizien, Rumänien und Rußland aus der dort vorhandenen Zahl jüdische Ackerbauer zur Übersiedlung geworben und auf den Weg gebracht worden sein. Sie müssen bei ihrem Erscheinen auf der Kolonie Wirtschafts- und Wohngebäude fertig vorfinden, und ihre Ankunft muß auf den Zeitpunkt fallen, in dem der eigentliche Betrieb der Landwirtschaft beginnt, so daß sie sofort an die Arbeit gehen können. Sie werden zunächst formell, um jeder wirtschaftlichen Katastrophe vorzubeugen, fest besoldete Lohnarbeiter der Kolonie sein: Leute, die unter dem Befehle des leitenden Fachmanns für bestimmte Arbeit einen bestimmten, ortsüblichen, zur Existenz einer Familie voll ausreichenden Lohn erhalten. Man wird ihnen aber sofort sagen, daß etwaige Überschüsse des Betriebes, d. h. der Reinertrag nach Abzug der Löhne, Materialkosten, sowie Zinsen des investierten Kapitals und der Abschreibungen auf lebendes und totes Inventar und Gebäude, nicht den Kapitalisten, Begründern der Kolonie, sondern ihnen selbst zufallen wird. Man wird ihnen ferner sagen, daß man ihnen zur gesamten Hand, das heißt der von ihnen zu bildenden Genossenschaft, das Land samt Gebäuden und Inventar zum Selbstkostenpreis überlassen wird, sobald die Kolonie dauerhaft aktiv geworden ist, sobald also regelmäßig Überschüsse erzielt werden.

Diese Form des Anfangs vermeidet jede in der Sache selbst liegende Schwierigkeit: sie wälzt die Verantwortung für die Wirtschaftsergebnisse der ersten schwersten Jahre von den Schultern der kapitallosen und an diese Form der Wirtschaftsführung noch nicht gewöhnten Bauern auf den Schultern der Kapitalbegründer bzw. auf die zionistische Bewegung selber ab. Es wird auf diese Weise jede Möglichkeit, Almosen zu fordern oder zu geben, vermieden, denn der Lohn deckt in guten und bösen Jahren die Bedürfnisse der Be- [S.290] siedler. Es wird aber gleichzeitig vom ersten Anfang an die Kraft der Selbstverantwortung, das wirtschaftliche Selbstinteresse voll angespannt, kurz, es wird nichts anderes geleistet, als aristokratische Hilfe.

Um die bäuerlichen Siedler einerseits für die spätere Übernahme des Landes gut genossenschaftlich zu erziehen und um sie andererseits zu befähigen, für ihren festen Lohn möglichst viel Genußgüter zu erwerben, wird man von Anfang an der Hauptgenossenschaft Untergenossenschaften angliedern, vor allem einen Konsumverein. Man wird durch eine Großhandelsgenossenschaft alle diejenigen Produkte des Ackerbaus oder der Industrie, die im Lande nicht hergestellt werden, an der besten Quelle und gegen Barzahlung kaufen und wird sie ohne anderen Preisaufschlag als die Transportkosten an die Konsumvereine der einzelnen Kolonien ablassen. Auf diese Weise entgehen die Kolonisten der Besteuerung durch einen Krämer, der einen um so höheren Aufschlag auf die einzelnen Waren erheben muß, je kleiner der Personenkreis ist, der ihn mit ernähren soll: nach deutschem Verhältnis zu urteilen, erhöht man durch solche Konsumvereine die Kaufkraft des Lohnes um 30 bis 50 Prozent oder was dasselbe ist, man erhöht den Reallohn um ebensoviel über den Nominallohn. In die Verwaltung dieses Konsumvereins sollen von vornherein die Frauen und Männer der Kolonie in immer steigendem Maße zur Mitarbeit herangezogen werden, damit ihnen die schwierige Aufgabe kaufmännischer Kalkulation und die noch schwierigere der Leitung und Lenkung einer genossenschaftlichen Generalversammlung allmählich geläufig wird, beides unerläßlich für die Leitung der Gutsgenossenschaft, die ihnen später zufallen soll. Dasselbe gilt für eine Anzahl anderer Untergenossenschaften.

Ich schlage aus einer Anzahl von guten Gründen vor, nicht das gesamte Land dieser Großbetriebe in gemeinsamer Wirtschaft zu bestellen, sondern jedem einzelnen Kolonisten, der es wünscht, so viel Garten- und Feldland in eigene Regie und Verantwortung zu übergeben, als er in den Stunden, die ihm die Arbeitspflicht des Großbetriebes läßt, mit den Kräften seiner Familie und mit Hilfe des Großbetriebs bewirtschaften kann. Ich meine, daß durch diese Form der Organisation das Heimatgefühl sich noch vertiefen wird, und daß manche freie Stunde des Hausvaters selbst und seiner Frau und seiner Kinder dadurch nutzbringend zur Hebung des Wohlstandes der Familie Verwendung finden kann, namentlich dann, [S.291] wenn das Haus mitten auf dem kleinen Pachtstück steht, so daß er es ohne besondere Schwierigkeiten bequem düngen und bearbeiten kann, und wenn der Großbetrieb seine Maschinen und Gespanne gegen Erstattung der Selbstkosten für die groben Ackerarbeiten herleiht.

Wir werden dann in diesem Falle um den Zentralbetrieb einen Kranz kleiner bäuerlicher Betriebe haben, die sowohl in ihrer Erzeugung wie in dem Absatze der Produkte eine große Anzahl Genossenschaften bilden werden. Sie werden mit dem Großbetriebe zusammen zunächst eine Bezugsgenossenschaft bilden, die Saatgutstecklinge, Zuchttiere, künstlichen Dünger, Geräte, Futtermittel usw. durch Vermittlung der Zentrale von der Großhandelsgenossenschaft bezieht und zum Selbstkostenpreis an die einzelnen Betriebe weitergibt, so daß diese der Besteuerung durch den Zwischenhandel entgehen. Sie werden ferner Werkgenossenschaften bilden, die z. B. eine Dreschmaschine, Ölpresse, Kelterei und Brauerei, eine Molkerei, eine Rübenschnitzel- und Zuckerfabrik usw. betreiben und den Gewinn des Betriebes an die Genossen zurückvergüten, denen auf diese Weise der Unternehmergewinn zufließt. Sie werden ferner Absatzgenossenschaften bilden, die die Produkte der großen und kleinen Wirtschaften zweckmäßig behandeln und verpacken, und ihnen den besten Markt suchen, um den Genossen den Gewinn des Zwischenhandels zuzuführen. Sie werden Versicherungskassen für Feuer, Leben, Krankheit, Alter, Unfall, Hagelschlag und Viehseuchen errichten, und derart nur die Risikoprämien ohne einen Aufschlag für den Unternehmer zu zahlen haben: wobei zu vermuten und zu hoffen ist, daß die kleinen Versicherungskassen der einzelnen Kolonien durch Zusammenschluß untereinander mächtige Anstalten bilden werden, in denen das Risiko auf ein Minimum reduziert wird.

Derart wird das ganze Leben dieser Kolonisten ablaufen in einem selbstgespannten Rahmen, der ihnen gleichzeitig Panzer und Stütze ist. Eine Bauernkolonie, die auf billigem Lande mit ausreichendem Kapital unter intelligenter fachmännischer Leitung arbeitet, deren Einkommen durch den Fortfall aller an Zwischenhandel und Kapital zu steuernden Ausgaben vermehrt ist, deren Besitzrecht unantastbar ist und deren wirtschaftliche Spannkraft durch das Bewußtsein gespornt ist, nur für sich selbst und für die Familie zu schaffen, eine solche Gemeinde ist, das kann man mit Sicherheit aussprechen, einer privatkapitalistischen Kolonie vereinzelter Besitzer in einem [S.292] ungeheuren Maße wirtschaftlich überlegen. Unter gleichen Verhältnissen haben die Mormonen aus der wasserlosen Steppe Utahs ein Paradies erschaffen, voll erstaunlichen Reichtums und unerhörten Bürgersinns.

Diese ersten von Bauern, von dazu erzogenen Landarbeitern bewirtschafteten Siedlungen, das, meine Freunde, sind die Haken, die die zionistische Kolonisation in allen vier Ecken des Landes fest einzutreiben hat, um daran die Stricke für ihr Netz zu spannen. Suchen wir uns jetzt klar zu werden, wie diese Stricke zu spannen sind!

Wir werden von jeder Kolonie, als einem Zentrum von Menschen, Tatkraft und Intelligenz aus nach Maßgabe der verfügbaren Mittel neue Siedlungen anlegen und mit neuen, immer noch womöglich ausschließlich landwirtschaftlichen Ansiedlern besetzen; wir werden ferner neues Land erwerben und für die Ansiedlung vorbereiten, z. B. durch Entwässerung oder Anlage von Bewässerungswerken, die größere Bezirke fruchtbar machen. Wir werden jetzt auch daran denken können, in die einzelnen Kolonien vorsichtig einige handwerksmäßige Elemente einzuführen, die dort von ihrer Tätigkeit für die Kolonisten genügend leben können; man wird ihnen Haus und Werkstatt bauen und ein Stück Gartenland zuweisen, sie werden die Verzinsung und Tilgung des Baukapitals und den Selbstkostenpreis des Bodens an die Zentralgenossenschaft leisten, der Zutritt zu sämtlichen Untergenossenschaften wird ihnen völlig offenstehen.

Diese auf billigem Grund und Boden angesiedelten, auf einen kaufkräftigen Markt angewiesenen, mit genügend Kapital ausgestatteten Handwerker werden selbstverständlich selbständige Elemente sein und werden das Gedeihen der Kolonie, der sie angehören, auf vielfache Weise fördern. Sie bilden einen Nebenmarkt für viele Produkte der Landwirtschaft, der Dünger ihrer Haushaltungen und ihrer Stallungen kommt dem Lande der Kolonie zugute; sie stellen in der Erntezeit eine Schar billiger, weil nur kurze Zeit zu bezahlender Hilfskräfte, und sie gestatten vor allem, und das ist das Wichtigste, nach dem bekannten Gesetz Johann v. Thünens, wonach die Intensität mit der Dichtigkeit des Marktes wächst, eine fortwährend steigende Intensität der Wirtschaft; oder mit anderen Worten, sie gestatten, das Land immer dichter mit landwirtschaftlichen Ansiedlern zu besetzen, ein Ergebnis, das, wie wir wissen, für die Zwecke [S.293] unserer Kolonien von geradezu entscheidender Bedeutung ist: denn wir haben sehr viele Menschen unterzubringen.

Mittlerweile sind die neuen Kolonien der zweiten Stufe ganz wie die ersten eingerichtet und in Betrieb gesetzt. Mögen sie auf etwas geringerem Boden angesiedelt sein: sie profitieren von den Erfahrungen der Kolonisten erster Stufe, sie profitieren von der schon erfolgten Ausbildung der Großhandelsgenossenschaft, der Absatzwege usw., und sie profitieren schließlich von dem Imponderabile der Erfolgszuversicht und des bereits entfalteten genossenschaftlichen Geistes. Man wird, um diese Stimmung zu stärken, die besten Elemente der Ansiedlungen erster Stufe durch das Anerbieten von entsprechend höheren Tantiemen am Reingewinn zu bestimmen versuchen, in die neuen Kolonien überzutreten, sozusagen als Unteroffiziere der Rekruten, und wird so in jede Kolonie einen Stamm genossenschaftlich vorzüglich geschulter Vorarbeiter hineinsetzen können. Die so entstandenen Lücken wird man unter vorsichtiger Auswahl hier und da schon füllen können durch die Einberufung von gewerblichen Ansiedlern, deren bisherige Beschäftigung eine gewisse Gewähr dafür bietet, daß sie den Strapazen der Landarbeit gewachsen sein werden, z. B. Lastträger oder Bergarbeiter, aber auch ausgesuchte andere jüngere Familienväter von rüstiger Kraft. Diese alle werden, in Reih und Glied gestellt mit geübten Landarbeitern, in vielen Fällen die Ausdauer und technische Gewandtheit zurückgewinnen, die ihnen nötig ist. Auch in diesen Kolonien werden städtische Elemente in größerer Zahl als Handwerker ein Unterkommen finden können.

Das, meine Freunde, sind die Stricke, die die zionistische Kolonisation spannen soll, um daran ihr Netz zu wirken. Bis zu dem Augenblick werden die heute verfügbaren Mittel vermutlich aufgebraucht sein: dann aber wird es nicht mehr nötig sein, zur Weiterführung des großen Werkes an das jüdische Herz und den jüdischen Geldbeutel zu appellieren, sondern es wird sich dann auch für den Voreingenommensten herausgestellt haben, daß hier Organismen von erstaunlicher Lebenskraft entstanden sind! Gemeinden von einer Steuerkraft, wie sie bisher keine Gemeinde hat, da der Grund und Boden ihr Eigentum ist, und alle Bürger bis zum letzten Pfennig ihres Privatvermögens für sie eintreten müssen, soll ihre Existenzgrundlage nicht in Stücke gehen. Und diese Gemeinden sind gleichzeitig Wirtschaftsorganismen von höchster Kraft, deren Feder ge- [S.294] bildet wird durch das ungehemmte wirtschaftliche Selbstinteresse des ohne Zukunftssorge für sich und die Seinen schaffenden Mannes, unbesteuert durch Grundrente, Kapitalzins und Zwischenhandelsgewinn.

Diese halb gemeindlichen, halb wirtschaftlichen Organisationen bieten eine Kreditbasis von unvergleichlich viel höherer Tragkraft als selbst die reichsten Gemeinden Westeuropas, und so wird ihnen auch der befruchtende Goldstrom des Kredits immer in so reichem Maße zufließen, wie sie seiner bedürfen. Dann ist die Zeit gekommen, um mit diesen ungeheuren Mitteln die wirtschaftliche Erschließung des Landes voll durchzuführen, das heißt, die Maschen des Netzes zu schlingen. Dann wird man die Bergflüsse in dem Gebirge einfassen, um aus ungeheuren Reservoiren das befruchtende Naß vorsichtig herabzuleiten, daß die dürre Steppe sich mit Weizen- und Maisfeldern schmücke, dann wird man das Netz von Kanälen, Chausseen und Eisenbahnen über das Land spannen, das für seinen vollen Reichtum unentbehrlich ist; dann werden die Häfen, die Kaianlagen entstehen, die unser verehrter Präsident zukunftsahnend erschaut hat, dann wird vielleicht auch wirklich das Wasser des Mittelmeeres in jene Salzpfütze des Toten Meeres geleitet werden und auf seinen Wogen die riesigen Dynamos dieser blühenden Volkswirtschaft treiben.

Dann aber ist es auch Zeit, eine wirkliche Massen-Einwanderung ins Werk zu setzen, dann kann man zwischen den neu entstandenen Landstädten die Handwerker als solche ansiedeln, ganze Handwerker-Städte errichten, von Baumpflanzungen umgeben, in denen der verelendete Schneider und Schuhmacher der polnischen Schmutznester ein trauliches Heim, gesunde Luft und eine ungedrückte Existenz finden kann. Dann wird hier ein Arbeitermaterial vorhanden sein, das mit den Geldlöhnen des Londoner Ostendes und der Schwitzhöllen New Yorks eine zwar nicht reiche, aber dennoch würdige Existenz führen kann: und dann mag die in aller Welt berühmte kaufmännische Findigkeit der jüdischen Kapitalisten auf Grund dieser billigen und nicht verelendeten Landarbeiterbevölkerung hier Weltmarktindustrien errichten, die so lange den Auswurf des europäischen Ostens ernähren werden, bis diese Unglücklichen ein sanftes Ende gefunden haben. Ihre Kinder aber, erzogen in Licht und Luft, bei kräftiger Nahrung und in dem Vollgefühl ihrer nationalen Gleichberechtigung, werden freie Bürger im Lande ihrer [S.295] Väter sein können, mit der Kraft der Muskeln und des Geistes, die nötig sind, um Menschen zu Menschen zu machen.

Das, meine Freunde, ist der Weg, auf dem, wie ich glaube, allein zu unserem Ziele zu gelangen ist. Es ist ein harter Weg, der für die Ungeduld des nach Erlösung Schreienden und für das heiße Herz des Helfers viel zu lange scheint. Aber ich sehe keinen anderen: Keine organisatorische Kraft der Welt und kein Reichtum der Welt scheint mir zur Lösung der Aufgabe auszureichen, die erwächst, wenn man Millionen jämmerlicher Stadtproletarier in ein landwirtschaftliches Gebiet hinüberwirft. Das muß ein Chaos geben, das nur mit beispielloser Not enden kann, und das die Überzähligen durch Hunger, Typhus und Cholera aus dem Wege räumen muß, um den wenigen Platz zu schaffen, die übrig bleiben werden.

Wie lange dieses Werk in Anspruch nehmen muß, das ich skizziert habe, läßt sich übrigens nicht von vornherein feststellen. Die Mittel, die wir in der Hand haben, befähigen uns, unsere Haken sofort an vielen Stellen einzuschlagen, wenn nur die Vorbedingung jeder Siedlung und überhaupt jedes menschlichen Wohlseins gegeben ist: die Sicherheit unserer Siedler für Gut und Blut, der Schutz eines zivilisierten Staates, die öffentlich-rechtliche Sicherung der neuen Heimstätte. Aber wo auch immer, diese Grundlage muß geschaffen werden, und so ist es denn Sache der Parteileitung, uns eines Tages zu sagen: hier schlagt eure Zeltpflöcke ein. Dann aber braucht es gar nicht lange zu dauern, bis der Strom der Einwanderung in unser Land vom dünnen Fädchen wächst bis zum Bach, vom vollen Bach zum Fluß, zum Strom, und bis die Reservoire des Unheils in Halbasien geleert sind. Hier ist nur der Anfang schwer, dann wächst das Werk ins Riesenhafte. Legen wir auf das erste Feld unseres Schachbretts nur wenige Weizenkörner und verdoppeln wir von Feld zu Feld, wie jener persische Dichter der Sage, dann wächst das Werk unserer Kolonisation ins Ungeheure. Die Geldmittel strömen uns noch viel schneller zu als die Menschen, und es braucht keine Generation darüber zu sterben, bis der letzte Paria Europas zum freien Bürger seines eigenen Vaterlandes umgewandelt ist. Wir selber werden das gelobte Land hoffentlich noch schauen, wie Josua es schaute, werden nicht sterben müssen, wie Moses beim ersten Blick auf das Tal seiner Sehnsucht. Aller Anfang ist schwer, und nur der erste Schritt kostet Kampf. Fangen wir daher an, meine Freunde, legen wir so bald als möglich den Grundstein zu [S.296] dem Riesenbau, den unsere Besten leuchtend vor ihrem Auge stehen sahen: legen wir nicht die Hände in den Schoß, um eine plötzliche Erfüllung zu träumen, sondern greifen wir zu und bescheiden uns, das zu erreichen, was des Menschen Kraft von der Natur verliehen ist, den Grund zu legen, den Keim zu pflanzen zu dem Baum, in dessen Schatten unsere späteren Enkel uns einst segnen werden.

[S.297] ALTE UND NEUE MAKKABÄER*)

Die Feier, die wir heute begehen, gilt einer nationalen Heldentat, einer Heldentat freilich, die vor mehr als zweitausend Jahren geschah, in einer Nation, die seit mehr als zweieinhalb Jahrtausenden ihre Selbständigkeit verlor, einer Nation, die vor fast zwei Jahrtausenden von einem furchtbaren Wirbelwinde erfaßt und über alle Länder des Planeten hin zerstreut wurde. Haben wir dennoch das Recht, diese fast verschollene Heldentat einer zersprengten Nation zu feiern? Die Frage ziemt sich, denn nicht wenige unserer Mitbürger arischer Abstammung, ja sogar viele unserer eigenen Religionsgenossen schauen scheel auf solche „national-jüdischen" Anwandlungen. Sie wollen, daß wir Deutsche, Franzosen, Engländer usw. seien, keine Nation, nein, nur eine Religionsgenossenschaft.

Nehmen wir an, sie hätten recht! Verlören wir darum das Recht, einer hohen Tat der Männer zu gedenken, die wir als unsre Ahnen verehren? Ich glaube nicht! Es sind zufällig dieselben Feinde, die ihr Gift auf unseren Stammesstolz spritzen, die es den Abkömmlingen alter deutscher Herrengeschlechter als Schimpf und Schande anrechnen, daß sie heute mit Magyaren und Czechen, ihrer Abstammung zum Trotz, das Deutschtum ihres Adoptiv-Vaterlandes zu Boden drücken. Und umgekehrt: gelten nicht die Réfugiés Berlins für Musterbürger, obschon sie Sprache und Sitte der alten Heimat mit stolzer Zähigkeit bewahren? Und ist etwa der deutsche Kaiser ein unzuverlässiger Deutscher, weil er sich gern der Tatsache er-innnert, daß der große Admiral Coligny zu seinen Ahnen zählte?

So dürfen auch wir, unbeschadet unserer Staatsbürgerpflicht, unbeschadet unserer Liebe zu dem Vaterland, das uns gebar, die hohen Ahnen feiern. Uns liegt ihr Leben und Wirken so unfaßbar weit zurück, über zwei Jahrtausende fast, in einer Zeit, die tausend Jahre von Karl dem Großen lag, in einer Zeit, da die Ahnen unserer Gastvölker zumeist noch Wilde waren, den heutigen Herero vergleichbar: ist der Ruhm dann nicht um so größer, der Stolz nicht um so berechtigter? Denn edles Blut, edler Wein und edle Geigen werden

*) Gedenkrede auf die Opfer der russischen Pogrome (Berlin, 22.1. 1906, leicht gekürzt).

[S.298] in aller Welt um so höher geschätzt, je älter sie sind. Und wer könnte sich in Europa mit dem Alter unseres Adels messen?

Unseres Adels! Ich wiederhole das Wort mit allem Nachdruck. Ein adlig Volk waren unsre Ahnen, als sie aus der Wüste hervorbrachen, um das gelobte Land zu erobern, ein ritterlich Kriegervolk mit Speer- und schwertgewohntem Arm, wie seine Geschichte —, ein adlig Volk von milden Sitten und frommem Herzen, wie seine unvergänglich ewigen Gesetze zeigen, die zum Grundfundament aller europäischen Kultur geworden sind. Dies Volk fand die ehernen Worte der zehn Gebote, es fand die Gesetze der Milde und des Erbarmens für Alte, Arme und Knechte, es fand noch vor dem milden Prediger von Nazareth das Siegeswort, das hoffentlich der Leitstern aller Zukunft sein wird: „Liebe deinen Nächsten als dich selbst!"

Von diesem adligen Volke stammen wir ab, in gerader Linie. Wir brauchen keine Geschlechtsregister und Stammbäume, um das zu erhärten; kein Heroldsamt der Welt wird unser sonnenklares Recht bestreiten wollen. Die Tatsache, daß wir Juden heißen, ist Zeugnis genug. Und sie beweist noch viel mehr! Durchblättert die Stammgeschichten der ältesten und vornehmsten Feudalfamilien Europas: ihr werdet viele unter ihren Ahnen finden, die den Ehrentitel „adlig" in seiner vornehmeren Bedeutung nicht verdienen, in seiner Bedeutung als edel! Wir aber, die wir heute noch Juden sind, wissen ohne Prüfung von jedem unserer Tausende von Voreltern, daß er adlig-edel war. Denn jeder, und mochte er im dunklen Ghetto mit alten Lumpen handeln, mochte er mit dem schweren Packen auf dem Rücken von Dorf zu Dorf pilgern, verspottet, verhöhnt, bespieen: jeder dieser hosenverkaufenden Jünglinge, die zu unseren Ahnen zählen, war dennoch ein Edler. Denn er hielt fest an Glauben und Überlieferung trotz Hohn und Spott, trotz Plünderung und Mord; er straffte seinen Nacken gegen ungerechte Gewalt und Unterdrückung; er duldete, ehe er sich zwingen ließ; er blieb sich treu in schwerster Versuchung — und das ist das einzige Kennzeichen wahren Adels. Einer furchtbaren Auslese ward unser Stamm unterworfen in zweitausend Jahren; die schwach und feig und ehrlos waren, fielen ab, und ihr Blut kreist heute in den Adern unserer Feinde: wir aber dürfen mit Stolz sagen, daß wir nur Edle zu Ahnen haben, nur Männer und Frauen, die sich treu blieben in jeder Not.

In diesem Bewußtsein dürfen wir das Makkabäerfest feiern, und bleiben doch gute Deutsche, wenn wir der trotzighohen Ahnen mit [S.299] Stolz gedenken. Das Blut macht den Stamm aus, und nicht das Volk. Was heut Deutsche heißt, ist ein Gewebe, in das Germanen, Kelten, Slaven, Romanen, einzelne Mongolen und Finnen und wir Juden als Fäden eingegangen sind. Was uns mit unserem verschiedenen Blut dennoch alle zu Deutschen macht, ist die gemeinsame Sprache und gemeinsame Geschichte, gemeinsames Glück und gemeinsame Not; unsere Väter haben auf den Schlachtfeldern des 19. Jahrhunderts mit ihrem Blute den Vertrag unterzeichnet, der sie ins deutsche Volk aufnahm; und die Genien Lessings, Herders und vor allem Goethes haben auch unsere Jugend umschwebt. Und doch sind und bleiben wir und nennen uns mit Stolz: Juden! Mag das Wort noch Jahrhunderte lang der Dummheit und dem Hasse als Scheltwort gelten, uns ist es ein Ehrentitel, den wir den Geusen, den „Bettlern" gleich, auf unser Banner schreiben: „Ja, wir sind Juden, und sind stolz darauf. Wir erkennen und verfechten es als unser heiliges Recht, unsere Stammesart und unsere Überlieferung zu bewahren, dem Zwang nicht zu weichen, der uns, auch uns deutsche Juden leider noch immer, dahin drängt, uns zu ducken, uns zu verstecken. Das Volk, das Moses, Christus und Spinoza, des großen Goethe großen Meister gebar, braucht nicht zu verschwinden. Es hat ein Recht auf Dauer, bis einst alle Völker zusammenschmelzen zu dem einen großen Bruderbunde der Zukunft, den unser Prophet mit gläubigem Herzen voraussagte."

Noch sind wir weit entfernt von diesem goldenen Zeitalter. Noch macht Dummheit und Haß selbst uns deutschen Juden das Vaterland zum Stiefvaterlande. Noch heißt es fast für jeden von uns: verzichten! Verzichten auf Ehre und Stellung, Glück und Glanz, wenn wir der ungerechten Gewalt widerstehen wollen; noch zwingt man uns, den Wettlauf um den Siegespreis auf allen Bahnen mit dem zehnfachen Gewicht anzutreten, nicht zum Schaden unserer Rasse, die in dieser strengen Zucht zusehends, körperlich und geistig, gedeiht. Aber, wenn man uns auch die vollen Bürgerrechte verweigert, wenn wir auch mit Bitterkeit nach Westen und über den Ozean sehen müssen, wo unsere Brüder sich im vollen Sonnenlichte der Gleichheit und Freiheit tummeln und entwickeln dürfen — unser Leben, unser Hab und Gut sind doch gesichert. Und wenn wir nach Osten schauen, dann dürfen wir uns segnen, daß unser hartes Geschick doch so leicht ist gegen das, was unsere Stammesbrüder in Halbasien zu tragen haben.

[S.300] Daß ihr Leben, daß ihr Hab und Gut nicht gesichert ist, das ist uns in frischester, schaudernder Erinnerung. Noch stören uns die gräßlichen Bilder aus unseren Träumen, diese verstümmelten, ermordeten, geschändeten Unseligen von Kischinew, Homel, Odessa, Kiew und leider! so vielen anderen Städten. Noch stehen wir betäubt von dem furchtbaren Schlage, nicht wissend, wo wir anfangen sollen zu helfen, wir, leider fast die einzigen in aller Welt, die helfen wollen, wo doch das Unglück so übergroß ist, daß all unser Geben nur Tropfen spritzt auf den heißen Stein!

Und dennoch, über all diesem Chaos von Blut und Mord, über diesem Höllenknäuel von Finsternis und Seelenzerrüttung schwebt ein versöhnendes Licht, ein erstes Morgenrot besserer Zeiten.

Als vor Jahren die Nachrichten von jenem ersten grauenhaften Gemetzel in Kischinew uns erreichten, da ward uns der Schmerz vergiftet durch die Verachtung. Denn wie die Schafe an der Schlachtbank ließen sich die Männer und Jünglinge morden, ohne Gegenwehr, ohne Trotz, wie gemeine Sklaven. Und seufzend mußten wir uns fragen, ob denn wirklich die hämische Behauptung unserer Feinde wahr sei, daß dem Juden in seiner Masse der Makkabäerzorn und Makkabäermut verloren gegangen sei. Heut dürfen wir mit Stolz sagen, daß das eine Verleumdung ist, würdig der anderen Verleumdungen, die der Haß auf uns spritzt. Denn in Odessa und Kiew stand die junge Selbstwehr wie Helden vor dem Leben der ihren; die Mandelstamm und Silberfarb kämpften und fielen, der Väter wert. Und so dürfen wir, wenn wir heute der Helden aus der alten Zeit unseres Volkes mit Stolz gedenken, auch der Helden aus der jüngsten Zeit unseres Stammes in feierlicher Trauer ehrend gedenken. Die da unten gebettet sind im beschneiten Boden Rußlands, die taten das Höchste, was der Mensch tun kann - sie starben für das, was ihre Ehre war! Laßt unsere Feinde spotten und schelten - diese hosenverkaufenden Jünglinge waren echte Makkabäererben. Wenn wir westeuropäischen "Staatsbürger jüdischen Glaubens" früher uns im stolzen Gefühl unserer Kultur über diese seltsamen Erscheinungen erhaben fühlten, die eine so sonderbare Sprache sprachen, so veraltete Anschauungen hegten und so wenig von dem hatten, was wir "Kultur" zu nennen beliebten, ein Begriff, der sich leider zumeist an den Verbrauch von Seife und Zahnpulver und an die Verwendung gestärkter Wäsche knüpft - [S.301] heute beugen wir uns in Ehrfurcht und Demut vor den Toten, die zu sterben wußten.

Märtyrer heißen sie uns, heilige Blutzeugen! Sie fochten und starben, wenn sie für ihren Namen und ihre Überlieferung starben, doch für ein Höheres — für die Freiheit und die Menschenrechte. Ich weiß, das heißt heut vielen, und leider auch vielen Juden, ein hohles Wortgerassel. Und ich weiß, daß unsere Feinde und sogar viele unserer Freunde es der jungen jüdischen Selbstwehr, der jüdischen Intelligenz und der jüdischen Arbeiterschaft Rußlands zum bitteren Vorwurf machen, daß sie sich nicht auf die Verteidigung beschränkte, sondern, der kleine David gegen den großen Goliath, dem ungeheuren Feinde angreifend zu Leibe ging.

Aber, beim allmächtigen Gott, es war heilige, gerechte Notwehr! Sie waren zum äußersten getrieben, und sie wehrten sich, wie sich sogar der kleine Singvogel gegen die Hand wehrt, die ihn fängt. „Revolution!'', das Wort klingt schrecklich in unseren Ohren. Aber: eine Grenze hat Tyrannenmacht! Und diese Grenze war im „heiligen" Rußland längst überschritten. Die Zeit war gekommen, da ein Volk in die Sterne greifen darf, um seine ewigen Rechte herunterzuholen, die dort oben hängen, unverlierbar. Einhundertvierzig Millionen Menschen zermalmt von der Tyrannei, entrechtet und ausgesogen, nicht für einen Gedanken, nicht für einen Grundsatz, der etwas Heiliges hat, selbst wenn er ein Irrtum ist, nicht für die Aufrechterhaltung einer ererbten Regierungsform, nicht für die Bewahrung einer Religion, die Millionen ein unantastbares Palladium hieß —, sondern für den frechen Luxus einer Camorra hochgeborener Schurken, unwürdiger Pfaffen und ihrer Kreaturen, ihrer Diener, Parasiten und Dirnen! Das Mark des Landes verpraßt, seine Reichtumsquellen verschüttet, der Acker ausgesogen, Hunderttausende langsam Hungers sterbend — war das noch nicht Leidens genug? Einhundertvierzig Millionen Menschen abgesperrt von allem Wissen und Können unserer reichen Zeit, in Dummheit, Dumpfheit und rohen Aberglauben mit listiger Gewalt hinabgedrückt: ein geistiger Jammer, noch ärger als die wirtschaftliche Not — gab das immer noch nicht das Recht, „in die Sterne zu greifen"? War das immer noch die „von Gott gesetzte Obrigkeit", der der brave Staatsbürger Gehorsam schuldet, diese käuflichen Beamten, diese jobbernden Großfürsten, diese Spieler, Hurer und Säufer, oder war es eine vom Teufel eingesetzte Obrigkeit, deren man sich er- [S.302] wehren darf in guter Notwehr wie eines gewöhnlichen Straßenräubers, der doch wenigstens seinen Hals aufs Spiel setzt, wenn er sein Gewerbe betreibt?

Wißt Ihr, was es bedeutet, kein Recht zu haben, kein Recht finden zu können? Wißt ihr, was es heißt, schutzlos der Willkür ausgeliefert zu sein mit Leib und Gut? Dem ersten Schurken verfallen zu sein, der euch für ein paar Silberlinge verkauft? Jeden Augenblick von Gefängnis, Verbannung und Galgen bedroht zu sein, ohne Grund, nur weil ihr zu arm seid, um euren Bezirksbeamten zu kaufen, oder zu reich, um dem Neide mächtiger Schufte zu entgehen, oder weil ihr eine schöne Frau oder eine liebe Tochter habt, auf die ein hochmögender Wüstling Appetit hat? Wißt ihr, was in eines Bruders Seele vorgeht, wenn seine reine Schwester die rote Karte der Kontrollmädchen nehmen muß, nur um der Ausweisung zu entgehen, die sie trifft, weil sie Jüdin ist? Und die dann doch ausgewiesen wird, „weil sie ihr Gewerbe nicht ausübt"?

Darum steht der Jude überall im russischen Freiheitskampfe an der Spitze der Sturmkolonnen, darum sterben am Galgen und an der blutbespritzten Mauer so viele „Schnorrer und Verschwörer", weil die Juden noch viel schwerer litten als die altgläubigen Russen, und weil sie den Stahl des Makkabäerblutes in sich haben, das die phlegmatischen Russen, diese mit Mongolenblut versetzten Slaven, nicht in ihren Adern rollen fühlen. Und dann, weil die Juden Rußlands kein Vaterland haben, nicht einmal ein Stiefvaterland wie wir, sondern überhaupt kein Vaterland. Sie sind eines der vielen fremden Völker, die der russische Sultanismus knirschend unter seiner Eisenfaust hielt; für die Polen, die Finnländer, die Balten, die Ruthenen, die Kaukasier ist Rußland kein Vaterland, sondern nur ein geographischer Begriff und eine politische Zwingburg; so auch für die Juden Rußlands. Ihre Sprache und ihre Tradition ist nicht die russische, ihre Kultur ist die altjüdische, gemischt mit der westeuropäischen; sie haben nicht einmal das Recht des Schutzbürgers für Leib und Leben, Hab und Gut, nichts bindet sie an das Land ihrer Geburt als der harte Zwang der Verhältnisse. Wenn sie sich heut empören, so ist es kein Bürgerkrieg, sondern der Krieg eines unterworfenen, rechtlosen, zu Tode gepeinigten Volkes gegen Tyrannen fremder Art.

Ja, die russischen Juden sind nicht nur, wie wir, Glieder eines über alle Welt zerstreuten Stammes, nein, sie sind auch ein Volk mit [S.303] gemeinsamer Sprache, Überlieferung und Kultur. Nichts fehlt ihnen, um ganz ein Volk zu sein, als ein Land eigenen Rechtes. Und immer lauter erschallt ihr Ruf über alle Welt, ihnen dieses letzte zu geben, damit sie zum vollen Leben kommen können; immer flügelstärker schwingt sich ihre Hoffnung über alle Hindernisse fort, die ihrer Sehnsucht im Wege stehen. Ein eigenes Land, womöglich das Land der Väter, zu erhalten, damit die zerstreute, gehetzte Masse wieder ganz ein Volk werde, daß ein jeder sitze unter seinem Feigenbaum und seinem Weinstock, das ist ihres Lebens Sehnsucht, das ist ihres Daseins Halt und Stütze. Das — diese Hoffnung, die unser großer Herzl, dieser ungekrönte König Judas, ihnen zu geben verstand, hat aus den demütigen, feigen Schlachtopfern von Kischinew die Helden von Odessa und Kiew gemacht. Nehmt ihnen diese Hoffnung, und ihr liefert sie wieder wehrlos auf die Schlachtbank. Denn der Mensch braucht ein Ziel, um mehr zu sein als ein Tier!

Und wäre dieses Ziel ein unerreichbares, wir müßten es dennoch den Unseligen zeigen, bis zu dem Tage, wo der prophetische Traum der Völkerverbrüderung zur Wahrheit geworden ist, oder bis zu dem Tage, wo der letzte Jude den Ozean gekreuzt hat oder unter dem Mordstahl der Hooligans verblutet ist. Aber beide Tage sind fern, und die Opfer können, sie werden noch furchtbar schwer sein, denn von dem großen historischen Schauspiel der russischen Revolution ist erst die erste Szene gespielt, und unsere Brüder werden die Leidenden sein, bis der Vorhang fällt.

Aber das Ziel ist gar nicht unerreichbar! Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg! Und hier ist der Wille von Millionen zum äußersten getriebener Menschen. Sie werden ihren Weg finden, und an uns ist es, ihnen dazu zu helfen, so weit wir vermögen, bis ihr Ziel erreicht ist. Mag die Aufgabe schwer sein, dem versprengten Volke der russischen Juden ein Land, ihr Land zurückzugeben — nichts ist gewaltiger als der Mensch, sagte der griechische Dichter, und Schwierigkeiten vermehren nur die Kraft, sie zu überwinden. Wer nicht will, ob Jude oder Christ, Arier, Semit oder Mongole, daß noch weiter unschuldig Blut in Strömen fließe, der mag ein anderes Mittel finden, als das, unsere Brüder aus der Mörderhöhle zu erlösen. Und wer nicht will, daß sie überall, wohin sie in Massen dringen, den Judenhaß und das unsichtbare Ghetto mit sich bringen, der mag ein anderes Mittel nennen, als das, sie in geschlossenem Körper anzusie- [S.304] deln, als eigenes Volk im eigenen Lande. Ich, wir sehen kein anderes Mittel.

Und so nehmen wir denn Abschied von euch, ihr Makkabäer Rußlands, Friede eurer Asche! Und wir grüßen ehrfurchtsvoll die Tapferen, die noch für Menschenrecht und Menschenglück in Waffen stehen gegen ruchlose Gewalt, die den Tod nicht scheuen für das, was ihre Sehnsucht ist. Viel edles Blut wird noch fließen, furchtbare Greuel werden wir noch sehen, aber das Ende des gewaltigen Kampfes wird die Befreiung Rußlands und der Welt sein von unerhörter Tyrannei. Und dann werden die dankbaren Mitbürger auch auf die Gräber der jüdischen Freiheitskämpfer ihre Kränze niederlegen, und werden sie, die heut verlästerten Schnorrer und Verschwörer, ehren wie die Griechen ihren Harmodios, die Römer ihren Brutus, die Deutschen ihre Armin und Schill, die auch Rebellen waren. Das ist der Siegespreis des gewaltigen Kampfes, der sich jetzt in Rußland vollzieht: die Befreiung der Welt von ihre; letzten Fessel, die Freilegung der Bahn für den Aufstieg der Menschheit zu Glück und Gesittung.

Daran gemessen bedeuten Blut, Tod und Armut selbst Hunderttausender nur wenig. Ein Menschengeschlecht ist nur ein Laubkleid am Eichenstamme des Volkes: der Frühling bringt es, der Spätherbst wirft es welk zu Boden. Was will es von diesem Ewigkeitsstandpunkte aus bedeuten, wenn ein Teil der Blätter und Zweige durch einen Sommersturm vor der Zeit herabgerissen wird? Wenn nur der Stamm, der ewige Erneuerer, durch den gleichen Sturm der Todfeinde ledig wird, die seine Wurzel benagten, die ihn getötet hätten und mit ihm die Laubkleider aller zukünftigen Lenze?

Darum wollen wir dem großen Moment kein kleines Geschlecht zeigen. Mische sich immerhin die dumpfe Totenklage in den Siegesjubel, aber der Siegesjubel übertöne die Klage! Heil euch, ihr Toten, ihr seid auf dem letzten gewaltigen Schlachtfelde der Menschheit gefallen! Und ihr seid als Sieger gefallen! Wir wollen sie nach Kriegerart und mit Kriegerehren bestatten: auf dem Wege zum Grabe ertöne Trauergesang; aber auf dem Heimwege lasset fröhliche Fanfaren erklingen: „das Land ist ja frei, und der Morgen tagt, wenn sie's auch nur sterbend gewannen".

Seit zwei Jahrtausenden glaubt die Welt, ihre Erlösung könne nur durch jüdisches Blut gewonnen werden. Das edle Blut, das auf Golgatha floß, hat nicht ausgereicht; denn im Namen des Liebevoll- [S.305] sten wütet der Haß, im Zeichen des Gerechtesten tobt der Frevel. Aber jetzt ist die Zeit erfüllet: Ströme jüdischen Blutes mörteln die Quadern des Tempels der Erlösung. Heil den Blutzeugen! Heil uns, daß wir das Große erleben durften! Heil uns, daß sie die unseren sind.